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Volumenersatztherapie mit HES

Ist eine Prophylaxe oder Therapie von Volumenmangelzuständen mit modernen Hydroxyethylstärke(HES)-Präparaten eine sichere evidenzbasierte Option? Nicht alle Experten beantworten diese Frage mit ja. Für Verunsicherung sorgt dabei vor allem der Verdacht, dass Studien, die die Wirksamkeit und Sicherheit belegen sollten, gefälscht bzw. zu Gunsten der HES-Präparate manipuliert worden sein könnten. Zu den Kritikern zählen Dr. Christiane Hartog und Prof. Dr. Konrad Reinhart vom Universitätsklinikum Jena. Im nachfolgenden DAZ-Interview auf S. 63 erläutern sie ihren Standpunkt. Hersteller und BfArM sehen diese Problematik nicht. Sie sprechen von einem positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis.
Welche Volumenersatztherapie? Obeine Volumenersatztherapie mit kolloidalen HES-Lösungen Vorteile gegenüber kristalloiden Lösungen wie physiologischer Kochsalzlösung aufweist, die die höheren Kosten rechtfertigen, darüber streiten sich zur Zeit die Experten.  Foto: ineula - Fotolia.com

Nach Ansicht von Prof. Dr. Konrad Reinhart, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin des Universitätsklinikums Jena gilt es nicht als erwiesen, dass eine Volumenersatztherapie mit HES-Präparaten Vorteile gegenüber einer anderen Form einer Volumenersatztherapie hat. So gibt es beispielsweise keine Evidenz für eine Behandlung oder Prophylaxe von Volumenmangelzuständen kritisch kranker Patienten mit Hydroxyethylstärke-Präparaten. Solche Präparate sollen auch nicht sicherer sein als Albumin [1].

Die Zweifel an der Studienlage werden zusätzlich durch den Verdacht geschürt, dass möglicherweise wichtige Studien zum Beleg der Überlegenheit gefälscht worden sind. In diesem Zusammenhang hatte die Zeitschrift Anesthesia&Analgesia Ende Oktober 2010 eine im Dezember 2009 veröffentlichte Arbeit von Prof. Dr. Joachim Boldt, damals noch Chefarzt der Anästhesiologie und Intensivmedizin des Klinikums der Stadt Ludwigshafen, zurückgerufen [2]. Er hatte in dieser Studie ein modernes HES-Präparat mit Albumin im Rahmen kardiopulmonaler Bypassoperationen verglichen und war zu dem Schluss gekommen, dass das HES-Präparat dem Albumin-Präparat überlegen war. Allerdings konnte Boldt nicht beweisen, diese Studie je durchgeführt zu haben. Unter anderem konnte er keine Labor- und Patientendaten vorlegen, was die Leitung des Klinikums Ludwigshafen am 25. November 2010 veranlasst hat, Boldt mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben zu entbinden. Eine Kommission ist zur Zeit damit beschäftigt, alle weiteren Publikationen von Boldt zu überprüfen. Darunter befinden sich laut Informationen der Zeitschrift Spiegel über 70 Publikationen zum Einsatz von HES, überwiegend mit für HES positivem Ausgang.

Hydroxyethylstärke (HES)


Hydroxyethylstärke-Präparate zählen wie Dextran- und Gelatine-Präparate zu den körperfremden kolloidalen Plasmaersatzmitteln. Sie werden durch Einführung von Hydroxyethylgruppen in Amylopektin-Hydrolysate gewonnen und unterscheiden sich in ihrer mittleren Molekularmasse und werden entsprechend dieser und ihrem Substitutionsgrad charakterisiert

  • 1. Generation: mittlere Molekularmasse 450 kDa, Substitutionsgrad 0,7 (HES 450/0.7)

  • 2. Generation: mittlere Molekularmasse 200 kDa, Substitutionsgrad 0,5 (HES 200/0.5)

  • 3. Generation: mittlere Molekularmasse 130 kDa oder 70 kDa, Substitutionsgrad 0,4 oder 0,5 (HES 130/0.4; HES 70/0.5)

"Höchste Anforderungen werden erfüllt!"

Aus Sicht der HES-Produkte-Hersteller Fresenius Kabi und Braun Melsungen bestehen trotz allem keine Zweifel an Wirksamkeit und Sicherheit der HES-Produkte. Auf Anfrage der DAZ erklärte Fresenius Kabi, dass HES-Produkte bewährte Arzneimittel sind, die seit vielen Jahren erfolgreich zur Therapie und Prophylaxe der Hypovolämie eingesetzt werden, und die höchsten Anforderungen an Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit erfüllen. Seit der Markteinführung von Voluven® (6% HES 130/0,4), der modernen dritten Generation des Stärke-Produkts, vor elf Jahren wurden weltweit mehr als 30 Millionen Patienten mit diesem Präparat behandelt. Die sichere und effektive Anwendung von Voluven® (6% HES 130/0,4) werde von zahlreichen nationalen und internationalen Arbeitsgruppen bestätigt. Bisher seien mehr als 180 wissenschaftliche Untersuchungen von diversen, renommierten, internationalen Arbeitsgruppen durchgeführt und publiziert worden, welche die klinische Wirksamkeit und Sicherheit von Voluven® unterstützen. Auf Basis der Ergebnisse dieser Studien sei Voluven® (6% HES 130/0,4) von den wichtigsten Arzneimittelbehörden der Welt, beispielsweise der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) im Jahr 2007 (siehe auch folgender Link: www.fda.gov/NewsEvents/Newsroom/PressAnnouncements/2007/ucm109048.htm) und der australischen Therapeutic Goods Administration (TGA) sowie der kanadischen Health Canada jeweils im Jahr 2006 zugelassen worden.

In zahlreichen Studien hätte belegt werden können, dass der Einsatz von HES im Rahmen der zugelassenen Maximaldosis von 50 ml/kg/d sicher ist und klinisch bedeutsame Parameter (z. B. Flüssigkeitsbilanz, Makrohämodynamik, Mikrozirkulation & Entzündungsreaktion) verbessert. In diesem Zusammenhang verweist Fresenius Kabi auf eine Übersichtsarbeit von van Aken und Mitarb., in der wiederum Arbeiten des umstrittenen Autors Boldt zitiert werden. Fresenius Kabi betont, kontinuierlich weitere Studien durchzuführen und damit fortlaufend den wissenschaftlichen Kenntnisstand in der Therapie mit Blutvolumenersatzstoffen zu erweitern.

"Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass unser Produkt Voluven® die höchsten Anforderungen an Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit erfüllt", so Fresenius Kabi.

"Keine Veränderung der Nutzen-Risiko-Bewertung"

Die Firma Braun-Melsungen ist nach Überprüfung ihrer Zulassungsunterlagen und weiterem wissenschaftlichen Erkenntnismaterial zu Hydroxyethylstärke (HES) zu der Überzeugung gekommen, dass sich die Risiko-Nutzen-Bewertung ihrer HES-Produkte nicht verändert hat. HES sei eine altbekannte und häufig verwendete Substanz. Sie wurde bereits Millionen von Patienten mit Volumenmangel nach einem Unfall oder einer Operation verabreicht. HES-haltige Volumenersatzmittel seien von europäischen Behörden und der US-FDA bereits vor Jahren zugelassen worden, lange bevor Professor Boldt mit der Substanz überhaupt gearbeitet hat, so Braun-Melsungen gegenüber der DAZ. Es gebe umfangreiches wissenschaftliches Erkenntnismaterial zur Sicherheit von HES, das in den mehr als 30 Jahren der Anwendung dieser Substanz gesammelt worden sei. Diese Erkenntnisse hätten u. a. zu einer Weiterentwicklung und kontinuierlichen Verbesserung der Substanz geführt (HES 450/0,7 -> HES 200/0,5 bzw. HES 70/0,5 -> HES 130/0,42). Zu HES seien mittlerweile mehr als 3000 wissenschaftliche Arbeiten verfasst worden, davon hunderte klinischer Studien, welche die Sicherheit und Wirksamkeit von HES belegen würden. Die Zulassung der neuesten Generation HES 130/0,42 von Braun Melsungen beruhe auf eigenen Studien und selbstverständlich auch auf wissenschaftlichem Erkenntnismaterial, das bis zur Zulassungseinreichung verfügbar war. Weitere Untersuchungen würden darüber hinaus durchgeführt, wie dies auch üblich sei.

Wie andere Arzneimittel sei auch HES für genau definierte Indikationsbereiche zugelassen. Hierzu gehöre die Behandlung von drohendem oder manifestem Volumenmangel und Schock. "Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch, d. h. einer präzisen Indikationsstellung und Beachtung der Dosislimitierung sowie der Kontraindikationen, gilt die Anwendung von HES als sicher", so Braun Melsungen.


Quelle:

[1] Reinhart K et al.: The Efficacy and Safety of Colloid Resuscitation in the Critically Ill Anesth Analg 2011 112:17 – 18;

[2] Shafer SL. Notice of retraction. Anesth Analg 2010;111(6):1567: Retracted Article: Boldt J et al: Cardiopulmonary Bypass Priming Using a High Dose of a Balanced Hydroxyethyl Starch Versus an Albumin-Based Priming Strategy. Anest Analg 2009: 109: 1752 – 62

[3] Van Aken H et al: Hydroxyethylstärke in der Intensivmedizin: Staus Quo und Perspektiven. Anästh Intenivmed 2010; 51: 211 – 218


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DAZ 2011, Nr. 5, S. 60

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