Betriebswirtschaft

Optimierung des Warenlagers

Mehr Erfolg mit niederpreisigen Rx-Arzneimitteln

Von Thomas Müller-Bohn

Jede Arzneimittelpreisverordnung, wie sie auch immer strukturiert sein mag, setzt wirtschaftliche Anreize für die Tätigkeit in Apotheken. So hat auch das Packungshonorar, das die Heilberuflichkeit betonen soll, betriebswirtschaftliche Konsequenzen für die Gestaltung des Warenlagers, also die kaufmännische Komponente des Apothekerberufs. Obwohl die jetzige Arzneimittelpreisverordnung bereits seit über sieben Jahren gilt, nutzen offenbar viele Apotheken noch nicht alle Chancen, die in der Struktur dieser Preisbildung liegen. Ertragspotenzial bietet insbesondere die verbesserte Lieferfähigkeit durch bevorzugte Lagerhaltung niederpreisiger Rx-Arzneimittel.
Quelle: Gesdat
Abb. 1: Niederpreisige Packungen erobern den Markt Anzahl der vom pharmazeutischen Großhandel an öffentliche Apotheken gelieferten Rx-Arzneimittelpackungen mit einem Herstellerabgabepreis bis 3,74 Euro. Im Jahr 2004 und seit 2007 ist ein deutlicher Anstieg zu erkennen.

Die seit 2004 gültige Preisbildung für verschreibungspflichtige Arzneimittel auf der Ebene der Apotheken besteht aus zwei Komponenten. Auf den Apothekeneinkaufspreis werden drei Prozent und ein fester Betrag von 8,10 Euro aufgeschlagen, um den Netto-Apothekenverkaufspreis zu ermitteln. Aus der großen Bedeutung des Fixbetrages ergeben sich zwangsläufig riesige Unterschiede im relativen Aufschlag auf den Apo thekeneinkaufspreis. Bei einem Arzneimittel mit einem Einkaufspreis von 3 Euro beträgt der Aufschlag 340 Prozent. Nach Abzug des Kassenrabattes von 2,05 Euro einschließlich Mehrwert steuer, also 1,72 Euro netto, beträgt der Aufschlag noch 282 Prozent. Solche Fälle sind keineswegs exotisch, sondern sie werden sogar zunehmend zum Normalfall. Denn nach Angaben der Gesdat GmbH (Tochterunternehmen der Anzag) hat sich der Anteil der verschreibungspflichtigen Arzneimittelpackungen mit einem Herstellerabgabepreis von weniger als 3,74 Euro von rund 20 Prozent aller Packungen im Jahr 2002 bis heute verdoppelt (Abb. 1 und 2). Durch Patentabläufe und immer mehr Festbeträge hält dieser Trend weiter an. Ein bemerkenswertes und doch praxisrelevantes Beispiel bildet eine Packung mit 50 Tabletten Lamotrigin mit einem Apothekeneinkaufspreis von nur 0,18 Euro. Dort beträgt der Aufschlag 4506 Prozent.


Quelle: Gesdat
Abb. 2: Absatzstruktur von Rx-Arzneimitteln im Jahr 2010 Verteilung der vom pharmazeutischen Groß handel an öffentliche Apotheken gelieferten Rx-Arzneimittelpackungen auf drei Preisklassen, gemessen am Herstellerabgabepreis (HAP). Bereits 40% der Packungen haben einen HAP von höchstens 3,74 Euro.

Folgen der Preisbildung

So hohe Prozentzahlen kommen nur bei kleinsten Ausgangsbeträgen zustande und darum kann von solchen Werten niemand leben. Denn bezahlt wird mit Euro und nicht mit Prozenten. Doch bei einigen betriebswirtschaftlichen Überlegungen machen sich diese Prozentwerte doch bemerkbar. So geht von diesen Produkten eine enorme Hebelwirkung aus, weil mit sehr geringem Kapitaleinsatz ein vergleichsweise hoher Ertrag erzielt werden kann – wie sonst in keinem anderen Sortiment der Apotheke, auch nicht bei OTC-Arzneimitteln. Konsequenzen hat diese Erkenntnis insbesondere für das Warenlager. Denn ein Aufschlag von 282 Prozent bedeutet, dass für eine Packung, die verkauft wird, 2,82 Packungen mit dem gleichen Einkaufspreis wertlos verfallen könnten, ohne einen Rohertragsverlust zu verursachen. Bei höheren prozentualen Aufschlägen ist der Effekt noch stärker, sodass in diesem Preissegment das Lagerrisiko nur noch sehr gering ist.

Durch die Logik der Arzneimittelpreisverordnung müssen allerdings mehr als 15 niederpreisige Packungen verkauft werden, um den Verfall einer Packung mit einem Einkaufswert von 100 Euro auszugleichen. So ist das berufspolitisch gewünschte, heilberufliche orientierte Packungshonorar bei hochpreisigen Produkten eine gewaltige Belastung für die kaufmännische Seite des Apothekers. Doch soll es hier nicht um eine politische Diskussion über die Honorarstruktur gehen, sondern um die betriebswirtschaftlichen Chancen, die diese Struktur bei den niederpreisigen Arzneimitteln bietet.

Nein-Verkäufe und Nachlieferungen

Hier kommen die Nein-Verkäufe ins Spiel, die im Apothekenalltag ein Ärgernis darstellen. Durch wechselnde Rabattverträge, Ärzte mit sprunghaften Verordnungsgewohnheiten oder Apothekenstandorte mit viel Laufkundschaft gibt es immer wieder Verordnungen, die nicht beliefert werden können. Im schlimmsten Fall lehnt der Kunde jede Nachlieferung ab und legt das Rezept in einer anderen Apotheke vor. Da jedes Rezept im Durchschnitt etwa 1,5 Verordnungen enthält, entgeht der Apotheke wegen eines fehlenden Produktes durchschnittlich 1,5-mal der Rohertrag von 6,38 Euro (8,10 Euro minus 1,72 Euro Netto-Kassen abschlag), also 9,57 Euro. Wenn ein solcher Rohertrag wegen eines Arzneimittels verloren geht, das im Einkauf vielleicht weniger als einen Euro kostet, ist das sehr schmerzlich – und betriebswirtschaftlich unklug, denn die Kapitalbindung ist in diesem Fall irrelevant, und auch das Verfallrisiko erscheint vergleichsweise unbedeutend. Im Bewusstsein des Apothekenteams sollte also fest verankert sein, dass ein Nein-Verkauf eine Rohertrags einbuße von rund 10 Euro bedeutet – doch manche Kunden nehmen sogar gleich mehrere Rezepte wieder mit.

Die nächstbessere Alternative wäre eine Nachlieferung des fehlenden Arzneimittels. Diese Variante sichert den Rohertrag, erhöht aber die Kosten der Apotheke, weil der Vorgang personalintensiv ist. Die Kosten hängen sehr davon ab, ob das Arzneimittel geliefert werden muss, wie der Botendienst strukturiert ist und wo der Patient wohnt. Die beste Lösung wäre, dass gar keine Nachbestellung nötig ist, weil das Produkt vorrätig ist. So kann die Lieferfähigkeit zu einem wichtigen Erfolgsfaktor für die Apotheke werden.

Optimierung mit EDV-Hilfe

Dabei helfen die obigen Überlegungen zur Arzneimittelpreisverordnung weiter. Je geringer der Preis des Produktes ist, um so eher sollte es ins Lager gelegt werden. Daraufhin haben Pharmagroßhändler und Apothekenkooperationen Optimierungsprogramme entwickelt, die das Warenlager und die Lieferfähigkeit vorrangig nach diesem Konzept optimieren. Dass solche Programme noch viele Jahre nach Inkrafttreten der derzeitigen Arzneimittelpreisverordnung die Erträge verbessern können, zeigt, wie sehr der Effekt der Preisbildung offenbar bisher unterschätzt wurde. Angesichts des seit Jahren steigenden Anteils der niederpreisigen Rx-Arzneimittel ist allerdings auch das Potenzial für die Ausnutzung dieses Effektes immer größer geworden.

Ergebnisse der Optimierung

Ein Beispiel für ein Programm, das den dargestellten Effekt ausnutzt, ist vivesco optiL® von Anzag und vivesco. Carlos Thees, Abteilungsleiter eBusiness bei der Anzag, empfiehlt: "Apotheker sollten den Fokus bei der Lieferfähigkeit auf die niederpreisigen Arzneimittel legen, nicht nur auf Schnell dreher." Nach einem Nein-Verkauf sollten sehr niederpreisige Produkte auf Lager gelegt werden, wenn auch nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für eine erneute Nachfrage besteht, empfehlen Anzag-Berater nach ihren ersten Erfahrungen mit dem Optimierungsprogramm. In einer Präsentation der Ergebnisse geben die Programmanbieter an, dass der Ertrag einer durchschnittlichen teilnehmenden Apotheke durch die verbesserte Lieferfähigkeit um etwas über 650 Euro pro Monat im Vergleich zur Zeit vor Anwendung des Programms gestiegen sei. Davon würden sich gut 200 Euro aus verringerten Kosten für Nachlieferungen und rund 450 Euro aus zusätzlichen Erträgen aufgrund der verringerten Zahl an Nein-Verkäufen ergeben. Angesichts der Streuung der Ergebnisse zwischen den Apotheken können dies nur grobe Orientierungswerte sein.

Die ermittelten Einsparungen beziehen sich auf Apotheken, die auch vorher konventionelle Warenwirtschaftssysteme eingesetzt haben. Die Erfolge beruhen also nicht auf der üblichen Auswertung der Lagerumschlagsgeschwindigkeit, sondern auf den Konsequenzen aus den unterschiedlichen Einkaufspreisen. Thees bringt die Arbeitsweise des Systems auf die kurze Formel: "Entscheidend für den betriebswirtschaftlichen Erfolg der Apotheke ist der Absatz und nicht der Umsatz." Thees berichtet, dass die Apotheken mit der neuen Optimierung etwa 30 Prozent mehr verschreibungspflichtige Arzneimittel ins Warenlager nehmen. Nach seinen Erfahrungen würde eine typische teilnehmende Apotheke etwa 600 bis 800 niederpreisige Artikel zusätzlich aufnehmen, aber 30 bis 50 hochpreisige Artikel aus dem Lager entfernen, bei denen sich die Arzneimittelpreisverordnung ungünstig auswirkt. Der Wert des Warenlagers würde sich dadurch kaum erhöhen, weil sich die ein- und ausgelagerten Artikel nahezu ausgleichen. Bei der Optimierung berücksichtigt das System auch apothekenindividuelle Aspekte wie Größe, Lagerkapazität und besonders die unterschiedlichen Kapitalkosten bei Eigen- und Fremdfinanzierung. Dies bedingt eine große Streuung der Wirkungen auf das Lager. Als praktischen Vorteil beim Einsatz eines solchen Programms betont Thees, dass die Optimierung nahtlos in die bestehende Warenwirtschaft integriert wird und keine zusätzlichen Arbeitsabläufe erfordert.

Konsequenzen auch ohne EDV-Einsatz

Letztlich zeigen die Erfolge von Optimierungsprogrammen, dass der Effekt der Preisbildung auf die Entscheidung über die Lagerhaltung subjektiv bisher zu gering eingeschätzt wird. Dies gilt offenbar für beide Richtungen: Die Chancen der Niederpreisartikel werden wohl nicht ausreichend genutzt, es werden wohl aber auch die Risiken durch den möglichen Verfall hochpreisiger Packungen unterschätzt.

Anders als ein Computerprogramm wird das Apothekenpersonal bei einer eigenständigen Entscheidung über die Einlagerung eines Produktes nach einem Nein-Verkauf auch berücksichtigen, ob dies ein Rabattarzneimittel einer relevanten Krankenkasse ist oder die Verordnung von einem benachbarten Arzt kam. Doch Thees rät, das Bauchgefühl eher auszuschalten und die Entscheidung dem Programm zu überlassen. Dies bedeutet letztlich, vorrangig nach dem Preis zu entscheiden. So können von dieser Erkenntnis sicher auch Apotheken profitieren, in denen kein zusätzliches Programm für die Warenlageroptimierung eingesetzt wird. Denn die Grundidee dieser Optimierung ist so einfach, dass sie zumindest ansatzweise auch ohne Com puterhilfe umgesetzt werden kann. Daher soll hier auch keine Übersicht über Unterschiede zwischen einzelnen Softwareangeboten vermittelt werden. Im Mittelpunkt soll vielmehr der betriebswirtschaftliche Effekt der Arzneimittelpreisverordnung stehen.

Zusätzliche Wirkungen

Wer die Logik der zusätzlichen niederpreisigen Lagerartikel in Apotheken aus der Perspektive des Großhandels durchdenkt, findet in der propagierten Strategie auch Vorteile für den Großhandel. Denn zusätzliche Lagerartikel in den Apotheken bedeuten weniger eilige Nachlieferungen im Großhandel und damit auch dort geringere Kosten. Doch ein solches Interesse des Großhandels wäre nicht zu beanstanden und für die Apotheken ohne Nachteil. Denn niemand wünscht sich verzichtbare Sonderlieferungen, die die gemeinsame Logistik belasten und bei allen Beteiligten zusätzliche Kosten verursachen.

Eine Besonderheit hinsichtlich des beschriebenen Effektes ist zur Jahreswende 2011/12 zu beachten. Durch die neue Preisbildung auf der Großhandelsebene werden die niederpreisigen Rx-Arzneimittel an diesem Termin teurer. Bei den niederpreisigen Lagerartikeln ist demnach ein Lagerwertgewinn zu erwarten. Andererseits mindert die Preiserhöhung den künftigen Hebeleffekt der niederpreisigen Artikel geringfügig. Doch langfristig dürften gerade die anhaltenden Sparbemühungen im Gesundheitswesen das Potenzial dieses Effektes weiter ver bessern.



DAZ 2011, Nr. 46, S. 72

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