Aus Kammern und Verbänden

Frühe Nutzenbewertung von Arzneimitteln

Mit Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes zum 1. Januar 2011 haben sich aufgrund der frühen Nutzenbewertung die Rahmenbedingungen zur Preisbildung und Erstattungsfähigkeit von neu eingeführten Arzneimitteln grundlegend geändert. Auf der 11. Jahrestagung Consumer Health Care, die am 14. Oktober 2011 in Berlin stattfand, diskutierten Experten aus nahezu allen Bereichen des Gesundheitswesens über die bisherigen Erfahrungen und mögliche Konsequenzen.

Einführend erläuterte Silke Baumann vom Bundesministerium für Gesundheit den gesetzlich vorgesehenen Ablauf:

  • Einreichung des Nutzendossiers durch den pharmazeutischen Unternehmer beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA),

  • Prüfung und Bewertung des Zusatznutzens durch das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG),

  • Veröffentlichung und Beschluss der Nutzenbewertung durch den G-BA,

  • Preisverhandlungen und Festlegung des Erstattungsbetrags.

Baumann betonte die Notwendigkeit, den fortwährenden Anstieg der Arzneimittelausgaben in der Gesetzlichen Krankenver sicherung (GKV) zu dämpfen. Die frühe Nutzenbewertung diene dazu, faire Preise für Arzneimittel festzulegen; dies sei schwierig, aber es handle sich um ein "lernendes System".

Bei der Beurteilung des Zusatznutzens gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie spielen insbesondere die Verkürzung der Krankheitsdauer, die Verlängerung der Überlebenszeit und die Verbesserung der Lebensqualität eine Rolle.

Sorgen und Bedenken der Industrie

Laut Dr. Markus Frick, Sanofi-Aventis Deutschland, stellen die umfangreichen Anforderungen zur frühen Nutzenbewertung die pharmazeutischen Unternehmer vor neue Herausforderungen. Dies betrifft vor allem die Definition der Endpunkte, die den Zusatznutzen belegen sollen. Es gibt sechs verschiedene Zusatznutzen-Kategorien, doch sei z. B. eine Unterscheidung zwischen "Heilung" und "Verlängerung der Überlebenszeit" nicht nur methodisch anspruchsvoll, sondern auch ethisch fragwürdig.

Die im Nutzendossier geforderten Subgruppenanalysen machen das Verfahren sehr komplex. Die zur Bestimmung des Zusatz nutzens gewählte Vergleichstherapie (Referenzpräparat) hat Einfluss auf den zukünftigen Erstattungsbetrag.

Frick fragte, ob hier Erst- und Zweitlinientherapien sowie Basis- und On-Top-Medikationen überhaupt miteinander vergleich bar seien, auch bezüglich des Preises. Bei der Bewertung, wie wirtschaftlich eine Therapie ist, zähle nicht nur der Arzneimittel preis, sondern auch die Verzögerung des Krankheitsverlaufs oder die Vermeidung kostenintensiver Interventionen wie chirurgischer Operationen.

Auch Dr. Uwe May, Rheinbreitbach, analysierte die Probleme bei der Festsetzung des Erstattungsbetrages nach der Nutzenbewertung durch den G-BA. Seiner Meinung nach stehen die pharmazeutischen Unternehmer hier unter einem "Preisdiktat über die GKV hinaus". Bei gegebenem Zusatznutzen müsse ein mindestens kostendeckender Preis (einschließlich der Kosten für Forschung und Entwicklung) festgesetzt werden. May behauptete, wenn ein erheblicher Zusatznutzen des neuen Arzneimittels nachgewiesen wurde, dann sei dieses eben nicht (!) mit dem Referenzprodukt vergleichbar. Es könne geschehen, dass innovative Präparate selbst dann nicht kostendeckend sind, wenn ihr Preis doppelt so hoch ist wie der des Referenzpräparates. Weiterhin sei es ethisch fragwürdig, wenn ein Gewinn an Lebensjahren bei unterschied lichen Erkrankungen weniger oder mehr wert sein darf.

Dr. Claus Runge, AstraZeneca Deutschland, berichtete über die Erfahrungen seines Unternehmens mit der frühen Nutzen bewertung des Thrombozytenfunktionshemmers Ticagrelor (Brilique®). Er hielt die derzeit noch nicht endgültig vereinbarten Kriterien zur Preisfindung für problematisch. Um einen fairen Interessenausgleich zu erzielen, sollten aus seiner Sicht Elemente eines Value-based Pricing in die Preisbildung einbezogen werden.

Dierk Neugebauer, Bristol- Myers Squibb, schilderte, wie aufwendig die Erstellung der Nutzendossiers ist. Er schätzte die Kosten nur für die statistische und dokumentbezogene Aufbereitung auf ca. 200.000 Euro. Hinzu kommen weitere nicht unerhebliche Kosten für die interne Abstimmung mit den beteiligten Abteilungen und Unternehmensteilen. Bei einem internationalen Zulassungsverfahren (FDA, EMA) werde oft eine Vergleichstherapie vorgeschrieben, die der deutschen Versorgungsrealität nicht entspricht. In solch einem Fall stehen für die frühe Nutzenbewertung keine Daten aus einer "zweckmäßigen Vergleichstherapie" gemäß AMNOG zur Verfügung. Laut Neugebauer ist bisher nicht transparent, wie sich die erreichte Nutzenkategorie (erheblich, beträchtlich oder gering) auf die Preisbildung auswirkt.

Dr. Markus Feufel, Harding Zentrum für Risikokompetenz in Berlin, zeigte an Beispielen, wie man Laien die Ergebnisse klinischer Studien verständlich vermitteln kann. So könne man die Darstellung statistischer Ergebnisse vereinfachen, indem man beim Vergleich von Behandlungsalternativen Überlebensraten statt Sterberaten kommuniziert. Die Nennung absoluter Risiken sei verständlicher als Prozentangaben, also z. B. 1 von 1000 Personen statt 0,1%.

Teure Arzneimittel – kostengünstige Therapie?

Insa Rüttershoff befasste sich mit dem Therapieerfolg schon bekannter Arzneimittel, indem sie die Ergebnisse ihrer Masterarbeit (Consumer Health Care) präsentierte (siehe Foto, Mitte). Beim Vergleich der Nebenwirkungsprofile von Antihyperten siva anhand der Fachinformationen und von Online-Consumer-Reports kam sie zu dem Schluss, dass das am häufigsten verordnete Präparat am schlechtesten verträglich war und viermal mehr unerwünschte Arzneimittelwirkungen verursachte als das bestverträgliche Präparat. Rüttershoff betonte, dass der behandelnde Arzt bei der Verordnung neben dem Arzneimittelpreis auch die Vorteile einer guten Verträglichkeit bedenken sollte, weil ein günstiges Nebenwirkungsprofil sich positiv auf die Compliance auswirkt und somit kardiovaskuläre Ereignisse verringern kann.


Katja Weber, Mark Goldammer, Berlin


Foto: Privat
Absolventen des Masterstudiengangs des Consumer Health Care in Berlin (von links nach rechts): Désirée Kietzmann, Kerstin Bendig, Stefan Brinkmeier, Insa Rüttershoff, Stefan Prüller, Franziska Broer, Deny Lorenz.

Kurse in Berlin


Während der Jahrestagung erhielten die Absolventen des Masterstudiengangs Consumer Health Care der Charité – Universitätsmedizin Berlin ihre Urkunden und Zertifikate.

Kurz nach der Jahrestagung begann ein 14-tägiges Zusatzmodul des Studiengangs Consumer Health Care über "Methodische Grundlagen der Pharmakoepidemiologie und der frühen Nutzenbewertung". Der Kurs endete am 4. November mit einem Update-Workshop, der auch für Gäste geöffnet war und den Referenten aus dem Bundesgesundheitsministerium, von Verbänden und der Industrie Gelegenheit gab, bisherige Erfahrungen und offene Fragen zur frühen Nutzenbewertung mit einem fachkundigen Publikum zu diskutieren.



DAZ 2011, Nr. 46, S. 95

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