Praxis

Off label und immer wieder Streit um Kostenübernahme

Was muss bei Verordnungen von Arzneimitteln außerhalb der Zulassung, also off label, beachtet werden? Wer trägt das Haftungsrisiko? Und wann übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten und wann nicht?

Unter einem Off-label-use versteht man die Anwendung eines Arzneimittels außerhalb seiner Zulassung (national oder europäisch). Das kann sich auf die Indikation, für die das Arzneimittel seine Zulassung erhalten hat, beziehen, aber auch auf die Dosierung, die Dauer oder Art der Anwendung, das Geschlecht oder das Alter des Patienten. Hinweise darauf, welche Erkrankungen und Patienten in welcher Dosierung mit einem Arzneimittel behandelt werden dürfen, finden sich in der Fach- oder der Gebrauchsinformation, also dem "label" eines Arzneimittels.

Davon abzugrenzen ist der wesentlich seltenere "Compassionate Use", was übersetzt in etwa "Mitleidsverschreibung" bedeutet oder auch als individueller Heilversuch bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um die Anwendung von Arzneimitteln, die überhaupt noch keine Zulassung besitzen (oft nicht einmal am Menschen erprobt sind), bei lebensbedrohlich erkrankten Patienten, für die keine andere Therapie zur Verfügung steht. Arzneimittel, die im Rahmen des Off-label-use angewendet werden, sind dagegen bereits zugelassen, wenn auch für ein anderes Anwendungsgebiet.

Warum gibt es Off-label-use?

Das Zulassungsverfahren des aktuell gültigen deutschen Arzneimittelgesetzes von 1976 schreibt den Nachweis der pharmazeutischen Qualität, der Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit eines Arzneimittels vor. Vor Inkrafttreten des Gesetzes war, wie heute beispielsweise bei homöopathischen Arzneimitteln, nur eine Registrierung erforderlich. Unter dem Eindruck der Contergan-Katastrophe entschloss man sich jedoch, die Zulassungsbedingungen für neue Arzneimittel zu verschärfen. Ein Zulassungsverfahren ist für den pharmazeutischen Unternehmer aufwändig und kostenintensiv. Wenn sich die medizinischen Erkenntnisse zur Behandlung einer Erkrankung oder der Anwendung eines Arzneimittels ändern, wird manchmal auch aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus keine Zulassung oder Zulassungserweiterung angestrebt. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um seltene Erkrankungen handelt oder einem Arzneimittel nur geringe Marktchancen eingeräumt werden. Werden die Arzneimittel dann trotzdem angewendet, spricht man von einem Off-label-use (s. Kasten "Beispiele für Off-label-use").

Beispiele für Off-label-use*


  • Hormonale Kontrazeptiva: Besonders Gestagenpräparate werden gerne zur Behandlung der Endometriose verordnet. In der Apotheke fällt die Verordnung auf einem Kassenrezept auf, wenn die Kundin das 20. Lebensjahr überschritten hat.

  • Medivitan®: Das Vitaminpräparat wird oft als "Aufbauspritze" auf einem Privatrezept verordnet.

  • Zometa®: Die Verordnung zur Prophylaxe von Knochenmetastasen ist derzeit noch off label. Eine Zulassungserweiterung wird aber angestrebt.

  • Irinotecan: wird als Spray zur Behandlung des kleinzelligen Bronchialkarzinoms eingesetzt. Der G-BA sah die Bedingungen des BSG-Urteils nicht erfüllt, da es therapeutische Alternativen gäbe und keine Überlegenheit nachweisbar sei.

  • Medikinet ret®: Das Methylphenidat-Präparat ist nur für Kinder zugelassen und wurde früher auch off-label für Erwachsene verordnet. Seit dem 1. Juli 2011 ist mit Medikinet adult® auch ein Präparat für Erwachsene verfügbar.


* bei diesen Fällen hat die Apotheke keine Prüfpflicht

Rechtliche Aspekte

Für Arzt und Patient ist das eine unbefriedigende Situation, garantiert doch die rechtmäßige Zulassung einen hohen Grad an Sicherheit. Bei einem Off-label-use dagegen entfällt die Gefährdungshaftung des Herstellers für sein Produkt (das gilt nicht, wenn der Hersteller den Off-label-use durch sein Verhalten toleriert oder bewirbt [1]); kommt es zu einem arzneimittelbedingten Schaden, kann nur der Arzt haftbar gemacht werden. Die entsprechenden Fachgesellschaften empfehlen daher nur dann eine Off-label-Verordnung, wenn Leitlinien oder anerkannte wissenschaftliche Literatur ausreichend Belege für eine sinnvolle und sichere Anwendung liefern. Darüber hinaus wird der Abschluss eines Behandlungsvertrages empfohlen, der dokumentieren soll, dass der Patient ausreichend über die Risiken informiert wurde [2].

Ein Off-label-use kommt am häufigsten bei schwerwiegenden, z. B. onkologischen oder neurologischen Erkrankungen oder bei seltenen Erkrankungen vor. Aber auch in der Kinderheilkunde werden häufig Medikamente eingesetzt, die für diese Altersgruppe nicht zugelassen sind. Der Gesetzgeber hat das Problem erkannt und entsprechende Regelungen geschaffen. Dazu gehören beispielsweise erleichterte Zulassungsbedingungen für Arzneimittel für seltene Erkrankungen (EG-Verordnung für Orphan Medical Products [3]) oder eine Verlängerung des Patentschutzes, wenn Kinderstudien durchgeführt werden (EG-Verordnung zu Kinderarzneimitteln [4]).

Kostenübernahme durch die Krankenkassen

Strittig bleibt, ob die Kosten für Arzneimittel, die off label verordnet werden, von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Das Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) B 1 KR 37/00 (siehe Kasten BSG-Urteil) gab zwar eine Orientierung, in welchen Fällen die Kassen bezahlen, jedoch enthält das Urteil viele Ungenauigkeiten. Beispielsweise ist nirgendwo definiert, welche Krankheit als "schwerwiegend" anzusehen sei. Die Nicht-Verfügbarkeit einer Therapie ist unklar, wenn zugelassene Therapien zwar existieren, aber unwirksam sind oder vom Patienten nicht vertragen werden. So bleibt in vielen Fällen nur die Hoffnung auf eine positive Einzelfallentscheidung der Krankenkasse oder der Gang vor das Sozialgericht. Unstrittig dagegen ist die Kostenübernahme von Arzneimitteln, die in der Anlage VI der Arzneimittelrichtlinien gelistet sind [5]. In Teil A hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) auf Empfehlung der Expertengruppe "off-label" die verordnungsfähigen Wirkstoffe aufgenommen, in Teil B sind die Wirkstoffe mit einem negativen Votum verzeichnet.

BSG-Urteil – Kostenübernahme


Nach dem BSG-Urteil B 1 KR 37/00 muss die gesetzliche Krankenkasse die Kosten für einen Off-label-use unter folgenden Voraussetzungen übernehmen:

Es handelt sich um eine schwerwiegende Erkrankung, bei der keine andere Therapie verfügbar ist und auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen ist. Dies bedeutet, dass Forschungsergebnisse vorliegen müssen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn

  • entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder

  • außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund derer in einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. (nach [1])

Was muss in der Apotheke beachtet werden?

Eine Off-label-Verordnung fällt in der Apotheke meistens dann auf, wenn ein gesetzlich krankenversicherter Patient eine Privatverordnung erhält. Der Patient kann in diesem Fall darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Krankenkasse in manchen Fällen doch die Kosten übernimmt. Die Off-label-Verordnung auf einem Kassenrezept fällt dagegen nicht immer auf, der Apotheker hat hier auch keine Prüfpflicht. Beachtet werden sollte jedoch, dass es auch im Rahmen der Selbstmedikation zum Off-label-use kommen kann. Hier steht der Apotheker sehr wohl in der Verantwortung und könnte für arzneimittelbedingte Schäden haftbar gemacht werden. Beispielsweise sind Loperamid-Präparate in der Selbstmedikation nur für Patienten, die das 12. Lebensjahr vollendet haben, zugelassen und freiverkäufliche Hypnotika (Doxylamin, Diphenhydramin) nur zur Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen. Ein populärer Off-label-use ist die prophylaktische Anwendung von Alka-Seltzer® vor einer feucht-fröhlichen Feier. In diesen Fällen ist die kompetente Beratung in der Apotheke gefordert.

Die Antwort kurz gefasst


  • Eine Anwendung eines Arzneimittels außerhalb der Zulassung ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich.

  • Verordnet ein Arzt ein Arzneimittel off label, so übernimmt er auch die Haftung.

  • Bei Off-label-use im Rahmen der Selbstmedikation steht der Apotheker in der Verantwortung.

  • Die Kostenübernahme eines Off-label-use ist nicht eindeutig geregelt. Patienten können oft nur auf eine positive Einzelfallentscheidung hoffen oder den Rechtsweg beschreiten.



Quellen

[1] vfa-Positionspapier "Zulassungsüberschreitender Einsatz von Medikamenten bei schweren Erkrankungen", Stand 12/2010, http://www.vfa.de

[2] Patienteninformationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: www.gesundheitsinformation.de

[3] http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:018: 0001:0005:DE:PDF

[4] http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2006:378: 0001:0019:DE:PDF

[5] http://www.g-ba.de/downloads/83-691-262/AM-RL-VI-Off-label-2011-08-06.pdf


Autorinnen

Heike Peters, Stanislava Dicheva, Insa Heyde, Dörte Fuchs, Apothekerinnen und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen in der Arbeitsgruppe "Arzneimittelanwendungsforschung", Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen


Warum nicht auf Rezept?


Apothekerinnen der Arbeitsgruppe "Arzneimittelanwendungsforschung, Zentrum für Sozialpolitik, Bremen, erläutern in der DAZ regelmäßig besondere Probleme der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln für gesetzlich Krankenversicherte. Bislang sind folgende Beiträge erschienen:



DAZ 2011, Nr. 36, S. 66

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