Feuilleton

"Körner"

Manche Sportreporter gebrauchen immer häufiger die Redewendung "noch ein paar Körner drauf legen", besonders bei Langstreckenläufen, beim Biathlon oder Skilanglauf, wenn es darum geht, den Konkurrenten zu überholen oder einen Platz auf dem Treppchen zu erobern, also Energien freizusetzen, um die Laufgeschwindigkeit zu steigern.

Aber was für Körner sollen das denn sein? Was haben Leistungssport treibende Menschen mit Körnern zu tun? Mit Kimme und Korn verstehen die Biathleten umzugehen. Sportler sind selten Körnerfresser, machen eher keine Körnerkur und betten abends auch nicht ihr müdes Haupt auf ein Körnerkissen. Den Körner als Werkzeug brauchen sie nicht und schon gar nicht den Dichter Karl Theodor Körner.

Schauen wir uns mal einige Körner an:

Weizen- und andere Getreidekörner brauche ich nicht vorzustellen, doch möchte ich daran erinnern, dass das Gerstenkorn (Hordeolum) noch eine andere Bedeutung hat. Es tritt am Rand des Augenlides auf, wird durch bakterielle Entzündungen von Drüsen verursacht und ist schmerzhaft.

Dagegen ist das Hagelkorn (Chalazion) eine gutartige, nicht infektiöse und nicht schmerzende Schwellung im Ober- oder Unterlid. Apropos, wussten Sie, dass die gleichnamigen kleinen Eiskugeln, die bisweilen im Hochsommer vom Himmel fallen, im Extremfall einen Durchmesser von bis zu 10 cm aufweisen können? Ihr Auto sollte dann in einer Garage stehen!

Grünkorn heißt richtig Grünkern und ist die Bezeichnung für unreif geernteten und getrockneten Dinkel. Seine "Erfindung" ist wohl auf die Furcht vor Missernten bei schlechtem Sommerwetter zurückzuführen. Um die unreifen, noch weichen Körner haltbar und mahlfähig zu machen, wurden sie gedarrt. Dabei nehmen sie eine grünliche Farbe an, woraus der Name abgeleitet ist. Aus Grünkernschrot kann man schmackhafte Bratlinge bereiten, die etwas Abwechslung in den vegetarischen Speiseplan bringen.

Pfefferkörner müssten frisch gemahlen auf empfindliche Hautpartien gebracht oder in Körperhöhlen geblasen werden, um die Geschwindigkeit eines Sportlers zu steigern.

Popcorn (oder Poppkorn!) ist als Snack im Kino und auf Volksfesten sehr beliebt, dürfte aber als Energielieferant während einer anstrengenden sportlichen Hochleistung wenig geeignet sein. Erstens braucht man zwei Hände, um es "drauf zu legen", und zweitens dauert es eine ganze Weile, bis beim Verdauungsprozess daraus Traubenzucker entsteht, der dann als muskulärer Treibstoff wirksam wird.

Meinen die Sportreporter vielleicht Salzkörner? Wohl kaum! Salz könnte zwar den Elektrolytverlust des Sportlers ausgleichen, aber keinen Speed erzeugen. Sandkörner kommen erst recht nicht infrage. Denn wo und wozu könnte man sie "drauf legen"?

Suchen wir nun im Bereich der Arzneidrogen und pflanzlichen Gifte nach Körnern. Hier finden sich Hexen-, Kokkels- und Stephanskörner, das Mutterkorn und das Senfkorn.

Als Hexenkörner werden die Samen der Pfingstrose (Paeonia officinalis , Paeoniaceae) bezeichnet. Im Ergänzungsbuch zum DAB 6 waren sie unter der Bezeichnung Semen Paeoniae aufgeführt. Diese Droge wurde früher in der Volksmedizin als Brechmittel verwendet.

Kokkelskörner sind die Samen oder die getrockneten Früchte der südostasiatischen Schlingpflanze Anamirta cocculus , die zur Familie der Mondsamengewächse (Menispermaceae) gehört. Sie enthalten das giftige Pikrotoxin und werden seit dem Mittelalter (verbotenerweise auch noch heute) als Fischköder benutzt. Pikrotoxin ist eine äquimolare Mischung zweier Sesquiterpen-Dilactone und wirkt ähnlich wie Strychnin. Nach dem Verzehr der Kokkelskörner treiben die Fische mit der Bauchseite nach oben an die Oberfläche des Wassers und können bequem mit der Hand gefangen werden.

Als Stephanskörner (syn. Mäusekörner) werden die Samen des Rittersporns (Delphinium consolida undD. staphisagria , Ranunculaceae) bezeichnet. Während die herrlich blaue Blütenfarbe des Rittersporn durch Anthocyanglykoside (hauptsächlich mit Delphinidin als Aglykon) verursacht wird, sind in den Samen giftige Diterpen-Alkaloide enthalten. Auszüge aus den Samen werden heute noch in der Homöopathie verwendet.

Mutterkorn (Secale cornutum) ist bekanntlich das Sklerotium (Dauermycel) des durchwucherten Fruchtknotengewebes von Roggen (und anderen Gräsern), das durch den Pilz Claviceps purpurea verursacht wird.

Das violettbraune, spornartige Gebilde, das aus den reifen Roggenähren herausragt, wird mit diesen geerntet und gelangt(e) über das Mehl ins tägliche Brot. Da das Mutterkorn eine Reihe stark wirksamer Indolalkaloide enthält, kam es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wiederholt zu Vergiftungsepidemien, die als Antoniusfeuer, Heiliges Feuer, Brandseuche oder Ergotismus bezeichnet wurden. Doch dies ist jedem Pharmazeuten, Arzt und vielen Nicht-Fachleuten bekannt. Was aber kaum zu glauben ist, soll hier nicht verschwiegen werden: Noch um 1990 konnte man, genauer gesagt, konnte ich im Schaufenster eines Tübinger Bio-Ladens Müesli-Roggen sehen – und kaufen, der mit zahlreichen prächtigen, hornförmigen Mutterkorn-Sklerotien versehen war. Biokost ist ja so gesund und garantiert frei von diesen giftigen Chemikalien, die man als Pestizide in der Landwirtschaft einsetzt …

Das Senfkorn ist Objekt eines berühmten Gleichnisses, das in den synoptischen Evangelien nachgelesen werden kann. Aus dem kleinsten aller Samen wird ein mächtiger Baum, in dem die Vögel wohnen. Markus ist etwas realistischer eingestellt als die anderen Evangelisten, denn er bezeichnet die aus dem Senfsamen erwachsende Pflanze als "größer denn alle anderen Kräuter" und verbannt die Vögel in deren Schatten auf den Boden.

Kehren wir auf den Boden der Tatsachen zurück. Von Variationen abgesehen, gibt es zwei verschiedene Senfsamen (= Senfkörner) mit den Stammpflanzen Weißer Senf (Sinapis alba, Brassicaceae) und Schwarzer Senf (Brassica nigra, Brassicaceae).

Die Größe der weißen Senfsamen ist uns von den Gurkenkonserven her bekannt. Die Samen des schwarzen Senfs, der in dem biblischen Gleichnis gemeint ist, sind winzig klein und haben einen Durchmesser von 1 bis 1,5 mm. Etwa 750 schwarze Senfkörner bringen zusammen 1 Gramm auf die Waage. (Orchideensamen sind zwar noch kleiner, taugten aber nicht für dieses Gleichnis, weil Orchideen in der Welt des Neuen Testaments keine Rolle spielten.)

Wegen des Gehaltes an Allylsenföl, das beim Mahlen oder Zerreiben der Senfkörner enzymatisch freigesetzt wird und auf der Haut eine stark hyperämisierende Wirkung entfaltet, wurden früher Senfpflaster und Senfwickeln als Antirheumatika verwendet. Doch Vorsicht! Allylsenföl erzeugt auf der Haut ziemlich rasch eine intensive Rötung, gefolgt von stechenden Schmerzen, Entzündungen bis hin zu Blasenbildungen und Nekrosen. Ein Senfölpflaster sollte spätestens nach 15 Minuten entfernt werden.

Lassen wir die Körner rund sein.

Gestern habe ich doch tatsächlich einen Sportreporter vernommen, der – von allen Körnern unbelastet – gesagt hat: "Um zu gewinnen, muss der (Läufer) aber noch eine Schippe drauflegen!"

Darauf lasst uns einen Doppelkorn trinken!


Autor

Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth, Friedrich-NaumannStr. 33, 76187 Karlsruhe, www.h-roth-kunst.com, info@h-roth-kunst.com



DAZ 2011, Nr. 30, S. 70

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