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Weiterbildung
Geriatrische Pharmazie – eine Erfolgsgeschichte
Das Arzneimittel als Prozess
Das Arzneimittel wird im klassischen Sinne als "Ware der besonderen Art" bezeichnet. Aus dieser Definition leitet sich der besondere Schutz ab, unter den der Gesetzgeber die Arzneimittelversorgung gestellt hat. Die Geriatrische Pharmazie erweitert den tradierten Arzneimittelbegriff. Hier verstehen wir zusätzlich zur klassischen Definition das Arzneimittel als einen Prozess. Der gesamte Arzneimittelprozess wird damit in viele einzelne Prozessschritte aufgegliedert. Die öffentliche Apotheke ist daran mit wichtigen Prozessschritten und Schnittstellen beteiligt (s. Abb.).
Für die Arzneimittelversorgung von Altenheimen lassen sich die Prozessschritte in zwei große Bereiche unterteilen:
- einrichtungsbezogene Prozesse und
- therapiebezogene Prozesse.
Zu den einrichtungsbezogenen Prozessen gehören beispielsweise die Dispensierung, die korrekte Lagerung und Anwendung von Arzneimitteln sowie die Dokumentation. Die Mehrzahl der einrichtungsbezogenen Prozesse im Altenheim ist gesetzlich geregelt und wird vielfältig überwacht. Ihre praktische Umsetzung ist mit den Arbeitsabläufen im Apothekenbetrieb gut vergleichbar. In den Altenheimbegehungen können einrichtungsbezogene Prozesse daher auch zuverlässig durch die öffentliche Apotheke betreut und überprüft werden.
Neu: therapiebezogene Prozesse
Die Geriatrische Pharmazie ergänzt die einrichtungsbezogenen Prozesse durch therapiebezogene Prozesse. Der Prozessschritt "Therapieüberwachung" ist der ärztlichen Tätigkeit zugeordnet und wird im Altenheim durch die Therapiebeobachtungen der Pflege unterstützt. Geriatrische Pharmazeuten klinken sich an dieser Stelle ein. Sie unterstützen mit den Methoden der Geriatrischen Pharmazie und mit ihrer Sachkompetenz in Arzneimittelfragen die Durchführung dieses Prozessschrittes.
Damit entwickelt sich der Prozessschritt Therapieüberwachung zum zentralen Teil des patientenbezogenen Medikationsmanagements. An dieser Stelle wird auch deutlich, warum in der Arzneimittelversorgung von Altenheimpatienten eine fachübergreifende Zusammenarbeit von Arzt, Apotheker und Pflege besonders wichtig ist.
Medical Review
Das patientenbezogene Meditationsmanagement hat Vorbilder in anderen Ländern. Im angelsächsischen Sprachraum wird es als "Medical Review" bezeichnet. Im Gegensatz zu den stark reglementierten einrichtungsbezogenen Prozessen unterliegen therapiebezogene Prozesse nur vergleichsweise geringfügigen Regelungen. Das gilt ganz besonders für das Medikationsmanagement. Die Erstellung einer Medikationsanalyse ist derzeit noch nicht an eine berufliche Voraussetzung wie zum Beispiel die Approbation geknüpft. Apothekerinnen und Apotheker sind die Arzneimittelfachleute in unserem Gesundheitssystem. Sie sind damit prädestiniert, diese überaus wichtige Aufgabe durchzuführen.
Es erscheint außerdem sinnvoll, dass die Apothekerkammern die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das Meditationsmanagement zügig und eindeutig dem pharmazeutischen Leistungsspektrum zugeordnet wird. Die Einführung der Geriatrischen Pharmazie war dazu der erste richtungweisende Schritt.
Medical Review - Hilfreiche FragenEingesetzte Arzneimittel
Interaktions- und Kontraindikationscheck
Potenziell inadäquate Medikation
Art der Medikation
Dosierung
Verträglichkeit
Selbstmedikation
Zusammengestellt und überarbeitet nach Fachvorträgen [1] |
Haftungsrechtliche Konsequenzen
Das Meditationsmanagement ist ein dringend notwendiges Instrument zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit. In aller Regel erbringen engagierte Apothekerinnen und Apotheker diese zeitaufwendige Dienstleistung kostenlos und freiwillig. Inzwischen werden die Forderungen nach einer angemessenen Honorierung des Medikationsmanagements immer drängender. Außerdem stellen sich Fragen nach der Haftung für eine freiwillig erbrachte Leistung.
Durch ein patientenbezogenes Medical Review können therapierelevante Interventionen ausgelöst werden. Da aber im deutschen Gesundheitswesen der Arzt die volle Haftung für die Therapie übernimmt, erscheint es dringend geboten, eindeutig festzustellen, welche haftungsrechtlichen Konsequenzen die therapierelevante Beratung des behandelnden Arztes für geriatrisch-pharmazeutisch tätige Apothekerinnen und Apotheker nach sich ziehen kann. Auf die Weiterentwicklung der Geriatrischen Pharmazie dürfte sich die Klärung dieser bis dato offenen Frage erheblich auswirken.
Arzneimittelprobleme im Alter
Die Geriatrische Pharmazie hat sich zum Ziel gesetzt, die Arzneimitteltherapiesicherheit von Altenheimbewohnern zu optimieren. Ältere Patienten weisen einige Besonderheiten auf, die bei der pharmazeutischen Betreuung Jüngerer nicht so stark im Vordergrund stehen. Dazu zählen:
- Die alterstypische Multimorbidität und die Polypharmazie, die sich daraus ergibt.
- Ein vermehrtes Auftreten arzneimittelbezogener Probleme durch den gleichzeitigen Einsatz vieler Arzneimittel.
- Mangelnde Evidenz für eine altersadaptierte Therapie aufgrund zumeist fehlender Studien für Menschen über 65 Jahre.
- Unterversorgung geriatrischer Patienten durch fehlende altersadaptierte Leitlinien.
- Arzneimittel, die als potenziell inadäquat im Alter (PIM) gelten.
Durch diese Besonderheiten entstehen oft komplexe und schwierig zu überschauende Medikationsregime, deren pharmazeutische Betreuung besondere Fachkompetenz benötigt. Eine Spezialisierung, wie sie die Geriatrische Pharmazie bietet, ist hier sehr hilfreich. Deshalb muss diese Spezialkompetenz viel stärker in den Blick der anderen Heilberufe und der Öffentlichkeit gerückt werden.
Die Patientenakte, eine wichtige Datengrundlage
Für geriatrisch arbeitende Apothekerinnen und Apotheker ist die Patientenakte eines Heimbewohners eine wichtige Datengrundlage, um dessen Arzneimitteltherapiesicherheit zu verbessern. Aus diesem Grunde sollte mit der Heimleitung verbindlich vereinbart werden, dass geriatrisch ausgebildete Pharmazeuten Betreuungseinsicht in die Patientenakten erhalten. Die Zustimmung jedes einzelnen Patienten oder Patientin ist dafür ebenfalls erforderlich und schriftlich zu hinterlegen.
Die Auswertung der Patientenakte erfordert ein systematisches Vorgehen. Wichtige Schritte sind:
- Systematische Detektion von Doppelverordnungen.
- Systematische Detektion von Arzneimitteln ohne Indikationsstellung.
- Interaktionscheck aller Medikamente, die aktuell eingenommen werden.
- Überprüfung der Medikation auf eine im Alter potenziell inadäquate Medikation.
- Kontrolle der Dosierung.
- Beurteilung der Relevanz der detektierten Ergebnisse.
Verbindliche Arbeits- und Handlungsanweisungen etablieren
Die Akademie für öffentliches Gesundheitswesen veranstaltete zusammen mit dem Landesinstitut für Arbeit und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen eine Fachtagung zum Thema "Arzneimittelversorgung von Heimbewohnern – Vorstellung der Ergebnisse des sozialpharmazeutischen Projektes und Folgerungen für die Praxis" [1]. Aufgrund der dort gehaltenen Referate lässt sich die derzeitige Lage der Geriatrischen Pharmazie sehr gut abschätzen.
Bei der Vorstellung unterschiedlicher Projekte zur geriatrisch-pharmazeutischen Betreuung von Altenheimbewohnern wurde schnell deutlich, dass das Medical Review in der Praxis recht unterschiedlich umgesetzt wird. Für die Weiterentwicklung der Geriatrischen Pharmazie ist es ganz besonders wichtig, dass alle notwendigen Prozessschritte strukturiert und insbesondere nach für den ganzen Berufsstand verbindlichen Arbeits- und Handlungsanweisungen erfolgen. Nur auf der Grundlage einheitlicher und verbindlicher Standards kann das Medikationsmanagement als honorierte Dienstleistung etabliert werden. Diese fehlen aber derzeit!
Es ist schwierig Handlungs- oder Arbeitsanweisungen zu finden, die im deutschen Gesundheitswesen einsetzbar sind. Für den ersten Durchgang der Weiterbildung "Geriatrische Pharmazie" der Apothekerkammer Nordrhein wurden entsprechende Arbeitsblätter zunächst zu Ausbildungszwecken entwickelt [2]. Diese Vorlagen sind noch ausbaufähig. Vorrangig sollten sie mit einem deutlich höheren Evidenzgrad ausgestattet und stärker auf die in Deutschland gelebte pharmazeutische Praxis ausgerichtet werden.
Im Rahmen der Fachtagung wurden praxisgerechte Arbeitshilfen vorgestellt, die zum Teil das Potenzial haben, als Handlungsanweisungen in eine BAK-Leitlinie zur Pharmazeutischen Betreuung geriatrischer Patienten als Anlagen aufgenommen zu werden. Beispielsweise bildet ein Fragenkatalog, der abfragt, worauf beim Medikationsmanagement besonders geachtet werden muss, die gelebte pharmazeutische Arbeitspraxis sehr gut ab (siehe Kasten). Aber auch Arbeitshilfen, die als übersichtliche, eingeschweißte Erinnerungskarten im Altenheim verbleiben, erscheinen ausgesprochen hilfreich [1].
Wenn eine Patientenakte systematisch ausgewertet worden ist, sind die Ergebnisse zu dokumentieren. Diese Dokumentation ist die Grundlage für eine systematische Intervention.
Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team
Sind durch die Auswertung der Patientendatei arzneimittelbezogene Probleme detektiert worden, dann ist es Aufgabe des Apothekers zu entscheiden, bei welchen Arzneimittelereignissen eine Intervention nötig ist. Als Ansprechpartner bieten sich die Pflegedienstleitung und die Bezugspflege an. In den meisten Fällen muss jedoch der behandelnde Arzt kontaktiert werden.
Bei der Einführung der Geriatrischen Pharmazie stellte man sich seinerzeit vor, dass durch eine fachübergreifende Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team arzneimittelbezogene Probleme im Altenheim leichter lösbar sein würden. Inzwischen liegen dazu erste Erfahrungen aus der Praxis vor [1]. So wurde zum Beispiel die fachübergreifende Zusammenarbeit in einem AMTS-Team erprobt (AMTS = Arzneimitteltherapiesicherheit). Einer solchen Arbeitsgruppe gehören speziell auf Arzneimittel geschulte Pflegefachkräfte an. Die das Altenheim versorgenden Hausärzte und die geriatrisch betreuenden Apothekerinnen und Apotheker arbeiten hier regelmäßig zusammen. Erste Praxiserfahrungen mit diesem Instrument zeigen, dass sich in einem solchen Team die Zusammenarbeit zwischen Pharmazie und Pflege deutlich positiv entwickeln kann. Handlungsbedarf besteht nach wie vor bei der Etablierung der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Apotheker. [1]
Maßnahmen zur Glättung der Schnittstelle Arzt– ApothekerEine patientenorientierte Interventionsstrategie erfordert eine möglichst frühzeitige Einbindung der behandelnden Ärzte. Erprobt wurde:
Erfolgversprechend scheint
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Der langfristige Erfolg der Geriatrischen Pharmazie wird von der positiven Ausgestaltung der Schnittstelle Arzt – Apotheker abhängen. Derzeit zeigt die überwiegende Anzahl der Ärzte wenig Interesse an einer Zusammenarbeit mit Apothekern. Deshalb besteht vorrangiger Handlungsbedarf, diese Schnittstelle zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit zu bereinigen. In der täglichen Praxis sind dazu viele verschiedene Möglichkeiten erprobt worden (s. Kasten). Persönliche Kontakte auszunutzen scheint hier wohl den besten Erfolg zu versprechen. Auch Arbeitskreise, die von Amtsapothekern geleitet werden, sollten als zweckmäßiges Instrument stärker ausgebaut werden. Es ist zu prüfen, ob zur Glättung dieser Schnittstelle persönliches Engagement ausreicht oder ob verbindliche Regelungen eingeführt werden müssen. Die Niederlande können hier als Vorbild dienen.
Die nächsten Schritte
Fast fünf Jahre nach ihrer Einführung steht die Geriatrische Pharmazie am Scheideweg. Die große Nachfrage nach entsprechenden Weiterbildungsangeboten rechtfertigt ihre Einführung und erhöht deutlich die Kompetenz des Berufsstandes. Die zukünftige Entwicklung der Geriatrischen Pharmazie wird wesentlich davon abhängen, wie es gelingen wird, die Herausforderungen zu meistern, die sich in der ersten Umsetzungsphase gezeigt haben. Zu lösende Aufgaben sind
- die eindeutige Klärung der Haftungsfrage,
- die Entwicklung und Implementierung verbindlicher Arbeits- und Handlungsanweisungen,
- die Strukturierung der Schnittstelle Arzt – Apotheker und
- eine angemessene Vergütungsregelung.
Durch gemeinsame Anstrengungen können die Herausforderungen zügig gemeistert werden. Sinnvoll ist, dass sich die Fachkolleginnen und Kollegen der Geriatrischen Pharmazie stärker miteinander vernetzen. Eine geeignete Plattform wäre hilfreich, um Erfahrungen auszutauschen und zu sammeln und in praxisgerechtes Handeln umzusetzen.
Quellen
[1] "Arzneimittelversorgung von Heimbewohnern – Vorstellung der Ergebnisse des sozialpharmazeutischen Projektes und Folgerungen für die Praxis", Fachtagung der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen und des Landesinstituts für Arbeit und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 24. bis 25. Mai 2011; www.liga.nrw.de/_media/pdf/news/Fachtagung_Sozialpharmazie_Mai_2011.pdf?pi_t =true.
[2] Hanke, Frank-Christian: Schriftliche Unterlagen zum ersten Weiterbildungszyklus "Geriatrische Pharmazie" der Apothekerkammer Nordrhein, 2007.
[3] Hanke, Frank-Christian: Geriatrische Pharmazie – Neue Wege in der Seniorenversorgung. ApothekenMagazin 2007, Nr. 11, S. 8 – 12.
Autorin
Elisabeth Thesing-Bleck
Elisabeth Thesing-Bleck war fünf Jahre lang Vizepräsidentin der Apothekerkammer Nordrhein. In ihrer Amtszeit kümmerte sie sich vorrangig um die Arzneimittelversorgung von Patientengruppen, bei denen ein überdurchschnittlich hohes Risiko für unerwünschte Arzneimittelereignisse zu vermuten war. Als eine der ersten thematisierte sie in der pharmazeutischen Standespolitik die Besonderheiten der Arzneimitteltherapie von Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter und forderte die Apothekerschaft auf, die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft anzunehmen und Lösungen für eine altersadaptierte Arzneimittelversorgung geriatrischer Patienten zu erarbeiten. Vor allem ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass von der Apothekerkammer Nordrhein eine neue Weiterbildungsmöglichkeit zur pharmazeutischen Betreuung älterer Menschen eingerichtet wurde. Am ersten Weiterbildungszyklus "Geriatrische Pharmazie" nahm sie selber teil und bestand zum in Deutschland frühestmöglichen Zeitpunkt die Abschlussprüfung als "Geriatrische Pharmazeutin".
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