Aus Kammern und Verbänden

Datengesteuerte Gesundheitsversorgung

Die elektronische Datensteuerung gewinnt bei der Arzneimittel- und Gesundheitsversorgung immer mehr an Bedeutung. Auf der 10. Jahrestagung Consumer Health Care, die am 22. Oktober 2010 in Berlin stattfand, diskutierten Experten die gegenwärtigen Rahmenbedingungen und die Chancen für die datengesteuerte Gesundheitsversorgung in Deutschland.
Die elektronische Gesundheitskarte ist ein Jahr vor ihrer geplanten Einführung immer noch umstritten.
Foto: BMG

In ihrem Einführungsvortrag ging Prof. Dr. Marion Schaefer, Leiterin des Masterstudiengangs Consumer Health Care in Berlin, auf die Ziele und Hemmnisse, aber auch den ethischen Anspruch einer datengesteuerten Gesundheitsversorgung ein. Die elektronische Auswertung von erhobenen Daten ist heute in nahezu allen Bereichen üblich. Ein relativ neues Feld ist dabei die Wirtschaftlichkeitsbewertung von Therapien.

Mit den "Datenströmen" wächst der Regulierungsbedarf durch die beteiligten Agenturen und Behörden, was zur Intransparenz durch viele regulative Eingriffe geführt hat. Hinzu kommt der Informationsbedarf der pharmazeutischen Industrie für Marketingzwecke.

Aufgrund von Systembrüchen stehen Daten oft nicht dort zur Verfügung, wo sie benötigt werden. Die Datenerfassung sollte daher in den Prozess der Leistungserbringung integriert und dabei auf das Nötige beschränkt werden.

Generell müssen die Datenbestände technisch so gesichert werden, dass ein Missbrauch weitestgehend ausgeschlossen ist.

Leistungssteuerung durch die Krankenkasse

Roland Linder vom Wissenschaftlichen Institut der Techniker Krankenkasse für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG), Hamburg, analysierte die Möglichkeiten einer Krankenkasse zur Leistungssteuerung. Die Vermeidung unnötiger Operationen und ein gutes Arzneimittelmanagement sind nicht nur für den Patienten von Nutzen, sondern führen auch zu Kosteneinsparungen und nützen der Gesamtheit der Versicherten ("Win-win-Situation"). Linder stellte Selektivverträge vor, bei denen die Krankenkasse Verträge mit Leistungserbringern, z. B. Krankenhäusern, schließt, die einen hohen Qualitätsstandard garantieren; sie leitet dann die Patienten gezielt in diese Krankenhäuser.

Am Beispiel der Implantationen von Gelenkprothesen konnte Linder zeigen, dass es in Krankenhäusern mit Selektivverträgen weitaus weniger Komplikationen gibt als sonst. Des Weiteren hat das WINEG den Nutzen von Disease Management Programmen bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 untersucht. Hierbei zeigten sich ein uneinheitliches Bild und ein insgesamt nur geringer Nutzen für die Patienten; allerdings war der Beobachtungszeitraum von sieben Quartalen möglicherweise zu kurz.

Was bringt der Morbi-RSA?

Dr. Dirk Göppfarth vom Bundesversicherungsamt in Bonn erläuterte Verfahren und Ziele des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA), der zum Jahresbeginn 2009 den bis dahin durchgeführten Risikostrukturausgleich (RSA) abgelöst hat. Die morbiditätsbasierte Komponente der Mittelzuweisung bezieht zurzeit 80 chronische Erkrankungen ein; sie soll den Solidarausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen verbessern und den Wettbewerb zwischen ihnen fördern.

Seit Einführung des Morbi-RSA kam es bei den 80 eingeschlossenen Erkrankungen zu einer Kostensteigerung von 6,33%, während die Kosten bei den nicht eingeschlossenen Therapien um 4,93% stiegen. Laut Göpffarth ist ein Einfluss des Morbi-RSA auf die Kodierung von Diagnosedaten nicht auszuschließen, aber mit dem beobachteten Anstieg der Ausgaben könne der Morbi-RSA nicht in Verbindung gebracht werden.

Anonymisierte Therapieverläufe

Detlef Schröder-Bernhardi von IMS Health berichtete über die EDV-gestützte Evaluierung der Versorgungssituation. Basierend auf den Daten von mehr als 1000 deutschen Arztpraxen, können Therapieverläufe abgebildet und Verknüpfungen zwischen Arzt, Patient, Diagnose und Therapie erstellt werden. Nach Inkrafttreten des AMNOG wird der messbare Zusatznutzen einer Therapie in den Fokus rücken, und Nutzen-Dossiers nach § 35a SGB V werden an Bedeutung gewinnen. Neben retrospektiven und prospektiven datengestützten Analysen wird es künftig eine Berichtspflicht für Kosten-Nutzen-Auswertungen geben, so Schröder-Bernhardi.

670 Millionen GKV-Rezepte pro Jahr

Thomas Moormann, Referent für Versorgungsforschung der INSIGHT Health, erläuterte, welche Daten im Arzneimittelsektor kontinuierlich evaluiert und analysiert werden. Die Daten stammen aus Apothekenrechenzentren, Apothekenpanels und dem Pharmagroßhandel. Alle Rezepte im vertragsärztlichen Bereich werden monatlich erfasst, sodass insgesamt Informationen von über 670 Millionen GKV-Rezepten pro Jahr vorliegen. Anzahl der Verordnungen, Umsätze, die Verordnungsweise von Facharztgruppen und Kostenträger werden fortlaufend dokumentiert und die Daten in bis zu 6200 regionalen Zellen erfasst. Darüber hinaus bestehen seit 2008 Medikamentenhistorien aufgrund von über 40 Millionen anonymisierten Patientendaten, wodurch umfassende regionale Versorgungsanalysen möglich sind. So konnte Moormann belegen, dass es bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen große regionale Unterschiede hinsichtlich ihrer Versorgung mit Basistherapeutika gibt.

Probleme durch Rabattverträge

Judith Rommerskirchen referierte ihre Masterarbeit (Consumer Health Care), in der sie anhand von Verordnungsdaten einer Betriebskrankenkasse Art und Umfang von Problemen aufgrund der Rabattverträge untersucht hat. Apotheker lehnen einen rabattbedingten Arzneimittelwechsel aufgrund "pharmazeutischer Bedenken" vor allem ab, wenn

  • der Arzneistoff eine geringe therapeutische Breite hat,
  • die Compliance des Patienten gefährdet ist,
  • es sich um eine retardierte Arzneiform handelt.

Allerdings lehnen weitaus weniger Apotheker als Ärzte den Wechsel eines Arzneimittels ab. Dies dürfte mit ihrer Angst vor Regressen durch die Krankenkassen begründet sein.

Elektronische Gesundheitskarte

Seit Jahren wird die elektronische Gesundheitskarte (eGK) diskutiert, die 2011 allen Versicherten zur Verfügung stehen soll. Manfred Pfeiffer vom Bundesverband für Patienten- und Versicherteninteressen Rheinland-Pfalz kritisierte, dass die eGK neben wenigen Pflichtanwendungen wie Versicherungsdaten, Lichtbild und elektronisches Rezept (eRezept) zahlreiche freiwillige Anwendungen wie Notfalldaten, Arzneimitteldokumentation, elektronischen Arztbrief, elektronische Patientenakte (ePA) und das Patientenfach enthält, bei denen allein der Patient bestimmen kann, wer Zugriff auf die Daten haben darf. Nach Meinung von Pfeiffer sind die Patienten verpflichtet, die in der Selbstmedikation verwendeten Arzneimittel zu erfassen, damit ein Abgleich der gesamten Medikation hinsichtlich Wechselwirkungen möglich ist.

Bezüglich der Verschlüsselung der persönlichen Daten berichtete Pfeiffer, dass das Sicherheitskonzept des Modellprojektes "Elektronische Gesundheitskarte Rheinland-Pfalz" ein entsprechendes Zertifikat vom TÜV Rheinland-Pfalz erhalten hat. Datenschutzrechtlich und technisch noch nicht umgesetzt ist allerdings die Forderung der Versicherten, die eGK auch am heimischen PC lesen zu können.

Priorisierung kann man lernen

Vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen, aber erhöhter Nachfrage von medizinischen Leistungen erläuterte Prof. Dr. Dr. Marlies Ahlert, Universität Halle-Wittenberg, das Prinzip der Priorisierung, das nicht mit Rationierung zu verwechseln ist. Künftig kann die GKV nicht mehr alle Leistungen für jeden Versicherten finanzieren. Daher ist es nötig, Prioritäten zu setzen, doch fehlen dafür klare Konzepte und Verfahren. Die Priorisierung legt Rangordnungen fest, wobei am oberen Ende unverzichtbare, am unteren Ende wirkungslose und schädliche Leistungen stehen.

Das von Ahlert geleitete Forschungsprojekt FOR 655 soll Leitlinien der Priorisierung erstellen, die die Wünsche aller Betroffenen (Patienten, Mediziner, Bürger) berücksichtigen. Bisher wurden Studien durchgeführt, in denen die Teilnehmer (Studierende der Fachbereiche Ökonomie, Medizin und Jura) unter Berücksichtigung von Mindestbedarf, Effektivität und Ressourcen über die "gerechte" Verteilung der Leistungen entscheiden mussten. Dabei lernten die Teilnehmer schnell, bei knappen Mitteln Leistungen zu priorisieren oder auszuschließen, und berücksichtigten die Kriterien der Effektivität in späteren Situationen auch dann, wenn ausreichende Mittel verfügbar waren.

Der "E-Patient"

Alexander Schachinger, Gründer von Healthcare42, sprach über Healthcare Websites in Deutschland. Der "E-Patient" sucht vor allem "Informationen zu einer Diagnose" und "Informationen über Therapie- oder Behandlungsmöglichkeiten". Er ist durchschnittlich zwischen 32 und 64 Jahren alt; der Anteil von Frauen und chronisch erkrankten Patienten ist überproportional hoch. Neben allgemeinen Gesundheitsportalen mit aktuellen und lexikalischen Beiträgen sind Patientenforen und Websites von Selbsthilfegruppen beliebt. Websites von pharmazeutischen Unternehmen und Behörden finden hingegen weniger Beachtung.

In Umfragen äußerten sich die Patienten über den Nutzen der Gesundheitsinformationen im Internet häufig so: "Ich kann nun besser Entscheidungen für oder gegen eine Behandlung treffen", "Ich stelle dem Arzt jetzt andere oder mehr Fragen", "Ich kann mit meiner Erkrankung (bzw. mit der Krankheit von Angehörigen) nun deutlich besser umgehen".

Die Jahrestagung bot neben den interessanten Vorträgen und der anregenden Diskussion auch wieder den Rahmen für die Übergabe der Urkunden und Zertifikate an die Absolventen des Masterstudiengangs Consumer Health Care der Charité – Universitätsmedizin Berlin.


Ulrike Hiemer, Editha Räuscher, Mark Goldammer, Berlin

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