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Arzneimittel und Therapie
Mit Capsaicin gegen den neuropathischen Schmerz
Capsaicin ist das Vanillylamid der Fettsäure trans-8-Methyl-6-nonensäure. Traditionell wird das Alkaloid Capsaicin aus den Früchten der Gattung Capsicum (vorzugsweise aus Capsicum frutescens L., Capsicum annum L.) isoliert. Um die biopharmazeutische Reproduzierbarkeit zu verbessern, wird in Qutenza allerdings synthetisch hergestelltes trans-Capsaicin eingesetzt. Capsaicin ist ein hoch selektiver Agonist für den TRPV1-Rezeptor (transient receptor potential vanilloid 1). Im ersten Schritt führt die Stimulation TRPV1-exprimierender kutaner Nozizeptoren durch die Freisetzung von vasoaktiven Neuropeptiden zu Brennen und möglicherweise zu Erythemen. Nach der Capsaicin-Exposition werden die kutanen Nozizeptoren dann für verschiedene Reize weniger empfindlich. Diese "Desensibilisierung" ist vermutlich der Grund für die beobachtete Schmerzlinderung nach der Applikation von Qutenza. Die so induzierten Veränderungen in den kutanen Nozizeptoren sind reversibel. Bei gesunden Probanden kehrte ihre normale Funktion (die Wahrnehmung von schädlichen Empfindungen) innerhalb weniger Wochen zurück.
Unterschiede zu Wärmepflaster
Von den klassischen freiverkäuflichen Capsaicin-haltigen ABC- bzw. Wärmepflastern unterscheidet sich Qutenza® vor allem durch einen deutlich höheren Capsaicingehalt. Während Qutenza® 640 µg Capsaicin pro cm2 Pflasterfläche enthält, liegen die Gehalte der freiverkäuflichen Capsaicin-Wärmepflaster um den Faktor 18 (Hansaplast® med ABC Wärme-Pflaster Capsicum: 35,7 µg/cm2) bis 95 (Gothaplast Rheumamed® AC Wärmepflaster 6,75 µg/cm2) niedriger. Bei diesen – gemessen an Qutenza® – vergleichsweise niedrig dosierten Capsaicin-Pflastern stehen die Wärmegenerierung und die mit ihr verbundenen physiologischen Effekte (Muskelentspannung, Durchblutungsförderung etc.) sowie eine vorübergehende Hemmung der Schmerzweiterleitung im Vordergrund, wohingegen die kurzzeitige hochdosierte Capsaicin-Applikation von Qutenza auf eine gezielte Überstimulation der Rezeptoren ausgerichtet ist, die zu einer Desensibilisierung führt, die weit über den eigentlichen Applikationszeitraum hinausgeht. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Indikationen der jeweiligen Pflaster. Während ABC- bzw. Wärmepflaster für die lokale Behandlung zur Linderung von Muskelschmerzen zugelassen sind, dient Qutenza zur Behandlung von peripheren neuropathischen Schmerzen (d. h. Schmerzen, die durch Nervenschädigungen hervorgerufen werden). Qutenza® wird nur unter medizinischer Aufsicht für maximal 30 bis 60 Minuten angewendet, die applikationsfreien Intervalle betragen mindestens 90 Tage. Niedriger dosierte Capsaicinpflaster können hingegen, je nach Präparat, bis zu zwölf Stunden auf der Haut verbleiben, eine Reexposition ist bereits nach einer Wartezeit von weiteren zwölf Stunden möglich.
Wirksamkeit klinisch belegt
In klinischen Studien wurde die Wirksamkeit von Qutenza® bei peripheren Neuropathien untersucht, die durch Gürtelrose (= postherpetische Neuralgie; PHN) und HIV-Infektionen (= HIV-assoziierte Neuropathie; HIV-AN) hervorgerufen wurden. In allen Studien wurde das Qutenza® -Pflaster mit 8% (w/w) Capsaicin als Verum verwendet, als Kontrolle diente ein niedrig konzentriertes Capsaicinpflaster (0,04%), um die Integrität Verblindung im Hinblick auf das Capsaicin-bedingte Brennen an der Applikationsstelle zu gewährleisten. Primärer Endpunkt der klinischen Wirksamkeitsstudien war die mittlere prozentuale Veränderung des Numeric Pain Rating Scale (NPRS) Score (0 = keine Schmerzen; 10 = stärkste Schmerzen) gegenüber dem Ausgangswert. Dabei war Qutenza® dem Kontrollpflaster in puncto Schmerzlinderung signifikant überlegen. In zwei unabhängigen Studien an Patienten mit PHN betrug die Reduzierung des NPRS Score unter Qutenza® nach acht Wochen 30% bzw. 32%, verglichen mit 20% und 24% bei Patienten, die Kontrollpflaster bekamen. In einer der Studien an Patienten mit HIV-assoziierter Neuropathie verzeichneten die Patienten unter Qutenza® nach zwölf Wochen eine Reduzierung der Punktezahl in der Schmerzbewertung um 23% im Vergleich zu 11% bei den Kontrollpatienten. In einer weiteren Studie an Patienten mit HIV-assoziierter Neuropathie reduzierte Qutenza zwar die Schmerzen um 30%, war damit aber nicht wirkungsvoller als das Kontrollpflaster. Dennoch erkannte das Expertengremium der europäischen Zulassungsbehörde die Wirksamkeit von Qutenza® bei postherpetischer Neuralgie und HIV-assoziierter Neuropathie an, wobei es berücksichtigte, dass die Wirkung aufgrund der geringen Capsaicinmenge im Kontrollpflaster kleiner erscheinen könnte als sie in Wirklichkeit ist. Klinische Daten, die die Wirksamkeit des hochdosierten Capsaicin-Pflasters bei der Behandlung der schmerzhaften peripheren diabetischen Neuropathie belegen sollten, wurden hingegen als unzureichend beurteilt.
Nebenwirkung: Schmerzen am Applikationsort
Die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen waren vorübergehendes lokales Brennen, Schmerzen, Erythem und Pruritus an der Anwendungsstelle. Während bei gesunden Probanden temporär leichte Veränderungen der sensorischen Funktion (z. B. der Wärmewahrnehmung) auftraten, wurden in klinischen Studien keine, mit der Behandlung im Zusammenhang stehenden Beeinträchtigungen der neurologischen Funktion beobachtet. Infolge einer vorübergehenden Wirkstoff-bedingten Zunahme der Schmerzen kann es während und kurz nach der Behandlung mit Qutenza® zu einem temporären Blutdruckanstieg (um durchschnittlich < 8,0 mmHg) kommen. Der Blutdruck sollte daher während der Behandlung überwacht werden. In der Verumgruppe ergab sich eine höhere Inzidenz von Herzerkrankungen (1,2%) als in der Kontrollgruppe (0,5%). Da diese schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse allerdings bei Patienten mit anamnestischer koronarer Herzkrankheit und/oder bekannten Risikofaktoren auftraten und weder ein zeitlicher Zusammenhang noch eine Dosisabhängigkeit festgestellt werden konnte, gilt ein Kausalzusammenhang mit der Qutenza® -Exposition als unwahrscheinlich. Neurologische Langzeituntersuchungen über zwölf Monate mit dem hochdosierten Capsaicin-Pflaster deuten, auch nach mehrmaliger Applikation (acht Behandlungen über 43 Monate), nicht auf eine beschleunigte Nervenschädigung hin.
Besondere Vorsichtsmaßnahmen geboten
Qutenza darf nur auf unverletzter, nicht gereizter, trockener Haut angewendet werden. Damit das Pflaster besser haftet, müssen Haare an den betroffenen Stellen gegebenenfalls abgeschnitten werden, allerdings darf die Haut nicht rasiert werden. Die Pflaster sollten nicht in die Nähe von Augen oder Schleimhäuten gelangen und dürfen nicht am Kopf oder im Gesicht angewendet werden. Die Inhalation von in der Luft vorhandenem Capsaicin kann zu Husten oder Niesen führen. Aus Gründen der Arzneimittelsicherheit darf das Capsaicin-Pflaster nur durch Ärzte oder medizinisches Fachpersonal angewendet werden, das durch den Zulassungsinhaber in der Handhabung des Arzneimittels speziell geschult wurde. Das Behandlungsareal sollte vor dem Aufkleben des Pflasters mit einem topischen Anästhetikum (z. B. Lidocain 4%) behandelt werden, um lokale Schmerzen während der Anwendung zu reduzieren. Beim Umgang mit dem Capsaicin-Pflaster und beim Reinigen der Behandlungsareale sollten immer Nitrilhandschuhe getragen werden, da Latexhandschuhe keinen ausreichenden Schutz bieten. Um möglichst wenig Capsaicin freizusetzen, wird das Pflaster entfernt, indem man es langsam und vorsichtig einwärtsrollt. Um eventuelle Capsaicinreste zu entfernen, wird nach dem Entfernen des Pflasters großzügig Reinigungsgel auf die Applikationsstelle aufgetragen, wo es mindestens eine Minute einwirkt, bevor es mit trockenem Verbandmull abgewischt wird. Die Pflaster und alle sonstigen Materialien, die mit der behandelten Hautstelle in Kontakt waren, werden in einem Polyethylenbeutel versiegelt und als medizinischer Abfall entsorgt. Es dürfen maximal vier Pflaster gleichzeitig angewendet werden. Falls die Schmerzen persistieren oder wiederkehren, ist alle 90 Tage eine Wiederholung der Behandlung mit Qutenza® möglich.
Capsaicin kaum systemisch verfügbar
Basierend auf in-vitro-Studien wird geschätzt, dass während der einstündigen Anwendungen etwa 1% des Capsaicins in die Epidermis und die Dermis der Haut resorbiert wird. Aus der empfohlenen Höchstdosis ergäbe sich demnach bei einem Körpergewicht von 60 kg eine maximale potenzielle Exposition gegenüber Capsaicin von etwa 0,12 mg/kg alle drei Monate. Nach Angaben des Wissenschaftlichen Ausschusses für Lebensmittel der Europäischen Kommission beträgt die durchschnittliche orale Aufnahme von Capsaicin in Europa 1,5 mg/Tag (0,025 mg/kg/Tag für eine 60-kg-Person). Die systemische Resorption von Capsaicin nach kutaner Applikation ist so gering, dass keine klinisch relevanten Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln zu erwarten sind. Aufgrund dessen wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass Qutenza das Risiko für Entwicklungsanomalien während der Schwangerschaft erhöht als sehr gering angesehen. Dennoch ist bei der Anwendung in der Schwangerschaft Vorsicht geboten. Ob Capsaicin in die Muttermilch übergeht ist nicht bekannt. Mütter sollten daher am Tag der Behandlung nicht stillen. Die Anwendung von Qutenza bei Kindern und Jugendlichen wird aufgrund fehlender Daten zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit nicht empfohlen.
QuelleCHMP Assessment Report for Qutenza 2009.
Apotheker Dr. Andreas Ziegler
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