Pharmakogenetik in der Praxis

Wenn die Blutgerinnung nicht zu hemmen ist

Die als Antikoagulanzien eingesetzten Vitamin-K-Antagonisten zählen zu den bekanntesten Arzneistoffen, bei denen aufgrund pharmakogenetischer Besonderheiten Therapieoptimierungen erforderlich sind. Im Jahr 2007 änderte die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA) aufgrund von vermehrten Blutungen bei pharmakogenetisch prädisponierten Patienten die Fachinformation von Warfarin, einem hauptsächlich im angelsächsischen Raum eingesetzten Vitamin-K-Antagonisten [1]. Aber auch für die zwei weiteren im Markt befindlichen Vitamin-K-Antagonisten, Phenprocoumon und Acenocoumarol, spielt diese Prädisposition eine Rolle [2].
Abb.1: Pharmakokinetik und -dynamik von Phenprocoumon unter Berücksichtigung der genetischen Veränderungen im abbauenden Leberenzym CYP2C9 sowie des Phenprocoumon-Wirkortes, der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase.

In Deutschland wird bei Antikoagulanzien-Verschreibungen meist auf den Vitamin-K-Antagonisten Phenprocoumon (Marcumar®) zurückgegriffen [3]. Bislang wird allerdings nur in den USA in der Fachinformation von Warfarin auf die Bedeutung der Genmutationen hingewiesen.

Aus Studien war bekannt geworden, dass Mutationen sowohl im Warfarin-verstoffwechselnden Cytochrom-P450-Isoenzym 2C9 (CYP2C9) als auch im Angriffspunkt der Gerinnungshemmer, der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase (VKORC1), zu einer vermehrten Blutungsgefahr führen können, wenn die Erhaltungsdosis bei den Patienten nicht auf bis zu 20% der Standarddosis gesenkt wird [4]. Ausgehend von Personen ohne Mutation – sogenannten Wildtyp-Trägern, bezeichnet als CYP2C9 *1/*1 und VKORC1-CC – kommt es unter Standardtherapie bei Trägern einer CYP2C9*2- oder CYP2C9*3-Mutation zu einem verminderten Abbau des Gerinnungshemmers mit der Folge von erhöhten Plasmaspiegeln. Der ebenfalls untersuchte Polymorphismus im Wirkort des Arzneistoffs führt bei Trägern der VKORC1-CT- oder VKORC1-TT-Mutation zu einer erhöhten Sensitivität des Enzyms, sodass auch in diesem Fall eine verringerte Erhaltungsdosis benötigt wird. Bei Patienten mit Mutationen in gleichzeitig beiden Genen wird deshalb eine im Vergleich zur Standardtherapie deutlich niedrigere Erhaltungsdosis empfohlen. Das soll das Risiko einer Überdosierung und die damit verbundene höhere Blutungsgefahr minimieren. Beispielsweise benötigten Patienten ohne Mutationen (CYP2C9*1/*1 und VKORC1-CC) eine Erhaltungsdosis von 44,7 mg Warfarin wöchentlich, wohingegen Personen mit Mutationen auf beiden Genen lediglich 8 mg pro Woche für eine ausreichende Wirkung benötigten [4].

Diese bekannten Zusammenhänge sind in Abbildung 1 verdeutlicht: Liegt ein CYP2C9*2- oder CYP2C9*3-Polymorphismus vor, wird weniger Antikoagulans abgebaut (pharmakogenetische Veränderungen, die die Pharmakokinetik beeinflussen). Liegt eine VKORC1-CT- und VKORC1-TT-Mutation vor, ist die Sensitivität der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase erhöht (pharmakogenetische Veränderungen, die die Pharmakodynamik beeinflussen). In beiden Fällen kommt es zu einer erhöhten Blutungsgefahr. Besitzt daher ein Patient gleichzeitig auf beiden Genen Mutationen, addieren sich die Wirkungen. Die Gefahr von Blutungen nimmt weiter zu, wenn die Dosis nicht adjustiert wird. Dass darüber hinaus gänzlich neue Mutationen zu einer außergewöhnlichen und unerwarteten Wirkung führen können, soll ein authentischer Patientenfall (s. Kasten "Der außergewöhnliche Herr Schneider") schildern [5]. Er soll zeigen, dass der Einsatz von pharmakogenetischen Untersuchungen zur Lösung eines schwerwiegenden Therapieproblems unter Phenprocoumon beitragen kann. Die Lösung des Problems wurde in dem authentischen Fall durch den Apotheker herbeigeführt. Allerdings sind die Details dieser Problemlösung in eine virtuelle Arzt-Apotheker-Patienten-Situation übertragen worden.

Im Folgenden soll im Rahmen eines Fragenkatalogs auf verschiedene Aspekte des Patientenfalls eingegangen werden. Der Krankheitsverlauf des Patientenfalls ist in Abbildung 2 schematisch wiedergegeben.

Der außergewöhnliche Herr Schneider

Herr Schneider kommt nach längerer Zeit wieder in seine Hausapotheke und übergibt seinem Apotheker Rezepte über Irbesartan, Carvedilol, Pravastatin, Furosemid, Spironolacton, Pantoprazol, Temazepam und Phenprocoumon.

Ein Abgleich mit der Patientendatei, in der Herr Schneiders Arzneimittelanamnese gespeichert ist, gibt dem Apotheker den Hinweis, dass lediglich Phenprocoumon neu verordnet wurde. Alle anderen Medikamente waren in gleicher Dosierung und Applikationsweise schon zuvor verordnet worden. Auf die Nachfrage, ob die Blutgerinnungswerte bereits gut eingestellt wären, erfährt der Apotheker, dass Herr Schneider sehr besorgt ist. Er wurde nach einem Herzinfarkt aus der Klinik entlassen, ohne dass die Einstellung mit der neuen Medikation erfolgreich beendet worden ist. Der Hausarzt soll die Einstellung weiterführen. Der Apotheker überprüft die Medikation auf Arzneimittelinteraktionen mit Phenprocoumon und beruhigt Herrn Schneider. Es sei vollkommen üblich, dass die Einstellung mit Phenprocoumon etwas länger dauern könne und durch den Hausarzt fortgeführt würde.

Zwei Wochen später steht Herr Schneider wieder in der Apotheke mit einem weiteren Rezept von seinem Hausarzt: Acetylsalicylsäure (ASS) 100 mg soll einmal täglich eingenommen werden. Der Apotheker trägt auch diese Medikation in Herrn Schneiders Patientendatei ein und führt eine Arzneimittelinteraktionsprüfung durch. Eine Arzneimittelsicherheitswarnung weist auf eine erhöhte Blutungsgefahr durch die gleichzeitige Einnahme von Phenprocoumon und ASS hin.

Der Apotheker erkundigt sich daraufhin nach der Einstellung mit Phenprocoumon. Herr Schneider ist froh, dass er vom Apotheker angesprochen wird, denn die Werte sind noch nicht so wie gewünscht und er macht sich immer noch Sorgen, dass er keinen Herzinfarktschutz hat. Er würde alle Tabletten vorschriftsmäßig einnehmen und dennoch würde sich der Blutgerinnungswert nicht verändern. Er habe gelesen, dass in dieser Apotheke Blutgerinnungswerte gemessen würden und ob der Apotheker nicht mal seinen Wert überprüfen könne? Der Apotheker vereinbart mit dem Patienten einen Termin zur Überprüfung am übernächsten Tag. Das gibt ihm Zeit, mit dem behandelnden Arzt zu sprechen, denn er möchte ihn auf die Arzneimittelinteraktion zwischen ASS und Phenprocoumon noch einmal hinweisen. Außerdem möchte er seiner Pharmaziepraktikantin Gelegenheit geben, ausführlich nach Erklärungsmöglichkeiten für die langwierige Einstellungsphase des Patienten mit Phenprocoumon zu suchen.

Das Gespräch mit dem Hausarzt bestätigt dann auch die Probleme, die bei der Einstellung von Herrn Schneider aufgetreten waren: Der Hausarzt erklärt, dass Herr Schneider ein ganz außergewöhnlicher Fall sei. Trotz längerer Gabe von 9 mg Phenprocoumon pro Tag, was mehr als dem doppelten der normalen Erhaltungsdosis entspricht, veränderte sich der Zielparameter für die Blutgerinnung, der sogenannte INR-Wert, nicht. Eine suffiziente Therapie mit dem Gerinnungshemmer war deshalb bisher nicht möglich. Aus Sorge vor einer mangelnden Herzinfarktprophylaxe wolle er vorübergehend ASS dazugeben. Das sei langfristig aber eine schlechte Lösung. Eine Erklärung für Herrn Schneiders ungewöhnliches Nichtansprechen auf die Therapie hatte der Arzt jedoch nicht. Auf Nachfrage nach den Serumspiegeln von Phenprocoumon gibt er die Auskunft, dass das Labor für Herrn Schneider einen Phenprocoumonspiegel von 11 mg/L bestimmt hat und dass normalerweise schon bei 0,6 bis 5 mg/L ausreichende INR-Werte zu erwarten sind. Auch sei der Vitamin-K-Spiegel von Herrn Schneider mit nur 0,6 nmol/L noch unterhalb des Normalbereichs von 0,8 bis 5,3 nmol/L und könne daher nicht der Grund für die ausbleibende Wirkung von Phenprocoumon sein. Der Arzt ist froh, dass er einen Ansprechpartner für dieses schwierige Problem gefunden hat, und verabredet sich zu einem Telefonat am nächsten Tag.

Die Pharmaziepraktikantin hatte inzwischen ausführlich recherchiert. Apotheker und Praktikantin kommen zu dem Schluss, dass weitere Laboruntersuchungen notwendig seien. Im Telefongespräch mit dem Arzt am nächsten Tag macht der Apotheker deshalb den Vorschlag, den Patienten auf die Funktion seines Leberenzyms CYP2C9 und der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase zu testen. So würde man Informationen zu zwei wichtigen Enzymen erhalten, die in der Pharmakokinetik und -dynamik von Phenprocoumon eine wesentliche Rolle spielen.

Zwei Tage später erscheint Herr Schneider zu seinem Termin in der Apotheke. Die anschließende Blutgerinnungsuntersuchung bestätigt, dass unter dem aktuellen Therapieregime mit 9 mg pro Tag noch keine ausreichende INR-Wert-Einstellung erreicht worden war. Der Apotheker empfiehlt Herrn Schneider eine weitere Blutuntersuchung beim Arzt machen zu lassen, die Aufschluss über die Funktion der Enzyme CYP2C9 und die Vitamin-K-Epoxid-Reduktase geben soll.

Die daraufhin durchgeführte Genotypisierung ergab, dass bei Herrn Schneider keine Polymorphismen im CYP2C9-Enzym, dafür aber zwei Mutationen im Gen der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase vorlagen. Eine dieser beiden Mutationen ist bisher sehr gut beschrieben. Die zweite Mutation ist in den bisher veröffentlichten Studien nicht berücksichtigt.

Nach einer weiteren intensiven Diskussion mit seiner Pharmaziepraktikantin entschloss sich der Apotheker, dem Arzt eine Dosiserhöhung von Phenprocoumon bei Herrn Schneider zu empfehlen. Skeptisch, aber aus Mangel an Alternativen folgte der Hausarzt dem Vorschlag des Apothekers. Nach einer vorsichtigen Dosiserhöhung über etwa 5 Wochen wurde bei Herrn Schneider eine Erhaltungsdosis von 18 bis 21 mg Phenprocoumon pro Tag erreicht, die zu ausreichenden INR-Werten zwischen 2,5 und 3,5 führte. Auch im Verlauf der nächsten zwei Jahre blieb die Therapie stabil und wirkungsvoll.

Warum verordnete der Arzt Acetylsalicylsäure?

Die gerinnungshemmende Wirkung von Phenprocoumon setzt mit einer Latenz von ca. 36 bis 72 Stunden ein. Sollte schnell eine Antikoagulation erforderlich sein, wird die Therapie mit Heparin eingeleitet, um das Zeitfenster zu überbrücken [6]. Der Patient im Beispiel hatte diese initiale Phase schon hinter sich und sollte mit Acetylsalicylsäure (ASS) abgesichert werden, da sich kein Effekt des Vitamin-K-Antagonisten eingestellt hatte. Ohne diese spezielle Konstellation bei diesem Patienten wäre eine solche Verordnung absolut bedenklich, da sie das Blutungsrisiko deutlich erhöhen würde.

Warum ist eine INR-WertErhöhung für den Therapieerfolg so wichtig?

Phenprocoumon wird nach einem Myokardinfarkt als Reinfarktprophylaxe eingesetzt, wenn ein erhöhtes Risiko für thromboembolische Komplikationen besteht [6]. Man versucht also die Gerinnungsfähigkeit des Blutes zu verringern, um eine Bildung von Thromben zu unterbinden. Diese Verminderung wurde früher durch Bestimmung des Quick-Wertes überwacht. An seine Stelle ist heute der INR-Wert (International Normalised Ratio) getreten, dessen Vorteil in der Vergleichbarkeit von Messergebnissen zwischen verschiedenen Laboren besteht. Die beiden Messwerte verhalten sich unter Therapie mit Gerinnungshemmern gegenläufig. Während der Quick-Wert im Therapieverlauf abnimmt, steigt der INR-Wert bei erfolgreicher Therapie an. Ohne antikoagulative Therapie beträgt der INR-Wert 1. Unter Therapie werden Zielwerte von 2,5 bis 3,5 angestrebt. In diesem Korridor ist zum einen die Gefahr der Thrombenbildung vermindert, aber auf der anderen Seite auch das Risiko für Blutungskomplikationen noch gering. Eine suffiziente und erfolgreiche antikoagulative Therapie geht also immer mit einer Erhöhung des INR-Wertes einher.

Was hat der Vitamin-K-Spiegel mit dem Therapieerfolg zu tun?

Die Wirkung der Vitamin-K-Antagonisten beruht auf einer Hemmung des Vitamin-K-Zyklus der für die Blutgerinnung von entscheidender Bedeutung ist. Führt man z. B. durch den Konsum von viel grünem Gemüse (z. B. Spinat, Rosenkohl) große Mengen an Vitamin K dem Körper zu, substituiert man gewissermaßen das Antidot zur Gerinnungstherapie. Hohe Vitamin-K-Spiegel führen also zu einem verminderten Ansprechen und benötigen eine höhere individuelle Dosis, wohingegen geringe Spiegel zu starkem Ansprechen und erhöhten Blutungen führen können. Der gemessene Vitamin-K-Spiegel von Herrn Schneider war mit lediglich 0,6 nmol/L sogar noch unterhalb des Normalbereichs von 0,8 bis 5,3 nmol/L und kann daher nicht der Grund für die ausbleibende Wirkung von Phenprocoumon sein [7]. Der Apotheker konnte mit seiner Frage nach dem Serumspiegel einen möglichen Grund für ein vermindertes Ansprechen der Phenprocoumontherapie ausschließen.

Welche Bedeutung hat der Genotypisierungsbefund für die Therapie des Patienten?

Der Patient wurde in der Genotyp-Untersuchung als CYP2C9*1/*1, also Wildtyp-Träger, klassifiziert. Das heißt, es fanden sich keine Mutationen im Gen des metabolisierenden CYP2C9-Leberenzyms. Dieses Ergebnis bestätigt den Laborbefund des Phenprocoumon-Plasmaspiegels von 11 mg/L: Bei doppelt so hoher Dosis (9 mg pro Tag gegenüber üblicherweise 4,5 mg maximale Erhaltungsdosis pro Tag) erzielt Herr Schneider etwa eine doppelt so hohe Plasmakonzentration von Phenprocoumon (normalerweise bis 5 mg/L für einen adäquaten INR-Wert-Anstieg) [8]. Das bedeutet, dass die individuelle Metabolisierung von Phenprocoumon bei dem Patienten nicht im Zusammenhang mit der fehlenden Wirksamkeit steht.

Die Gründe für das Nichtansprechen der Therapie sind mit größerer Wahrscheinlichkeit im Wirkort, also der Pharmakodynamik, zu suchen. Die Interpretation des VKORC1-Befundes, das Gen der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase, ist allerdings komplex. Die Untersuchung des VKORC1-Gens ergab zwei Mutationen. Einmal zeigte Herr Schneider an Position 1173 des Gens auf einem Allel einen Basenaustausch von "C" nach "T", der mit VKORC1-CT als heterozygoter Genotyp bezeichnet wird. Dieser Basenaustausch führt nach Literaturlage zu einer erhöhten Sensitivität der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase gegenüber Phenprocoumon [2, 9, 10]. Das würde aber bedeuten, dass Herr Schneider schon bei niedrigen Phenprocoumon-Plasmaspiegeln mit einer INR-Wert-Erhöhung reagieren müsste. Nur sehr hohe Vitamin-K-Konzentrationen (durch evtl. nahrungsbedingte übermäßige Zufuhr) hätten dieses empfindliche Ansprechen unterdrücken können. Die Vitamin-K-Konzentrationen von Herrn Schneider lagen allerdings mit 0,6 nmol/L noch unterhalb des Normbereichs von 0,8 bis 5,3 nmol/L. Es mussten also andere Gründe herangezogen werden, um Herrn Schneiders Therapieresistenz erklären zu können.

Es deutet viel darauf hin, dass die zweite Mutation der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase hierfür eine Erklärung liefern könnte. Und genau dieser Befund war es dann auch, der den Apotheker und seine Pharmaziepraktikantin zu der Empfehlung einer Dosiserhöhung veranlasst hatte. Die Begründung wird bei der Beantwortung der nächsten Frage gegeben.

Steckbrief Phenprocoumon

Phenprocoumon ist in Deutschland das am häufigsten verwendete Cumarinderivat. Es wird zur Behandlung und Prophylaxe von Thrombosen und Embolien, sowie zur Langzeitbehandlung des Herzinfarktes bei erhöhtem Risiko für thromboembolische Komplikationen eingesetzt. Nach oraler Gabe wird es schnell und nahezu vollständig resorbiert. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 10 bis 14 Tage. Die Metabolisierung erfolgt hepatisch, die unwirksamen Metabolite werden renal eliminiert. Die Dosierung richtet sich nach dem INR-Wert, es wird jedoch zu Beginn der Behandlung eine höhere Initialdosis gegeben, die dann reduziert wird. So kann, beispielsweise 9 mg am ersten Tag gegeben werden, gefolgt von je 6 mg an den Tagen 2 und 3. Danach erfolgt eine INR-Kontrolle und Anpassung der Dosierung an den Erhaltungsbedarf. Ist nach zwei bis drei Wochen der INR-Wert unter einer Erhaltungsdosis konstant, können die engmaschigen Kontrollintervalle für die INR-Werte verlängert werden [6].

Warum empfahlen Apotheker und Pharmaziepraktikantin eine Dosiserhöhung?

Die vorgeschlagene Erhöhung der Phenprocoumondosis erscheint zunächst widersprüchlich: Der gefundene CYP2C9*1/*1-Wildtyp und der heterozygote VKORC1-CT-Polymorphismus von Herrn Schneider würden eine erhöhte Arzneistoffwirkung vermuten lassen. Das ist in der Literatur gut belegt [4, 9]. Die Phenprocoumondosis hätte also folglich ausreichend wirken müssen.

Für die widersprüchliche Reaktion des Herrn Schneider könnte allerdings die zweite Mutation der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase mitverantwortlich sein. Die zweite Mutation bezieht sich auf die Position 6621 der DNA-Sequenz. Hier liegt ein Basenaustausch von "T" nach "C" bei Herrn Schneider vor, der nachfolgend auch einen Aminosäureaustausch nach sich zieht [5]. An der Stelle, an der normalerweise Tryptophan in der Aminosäurekette der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase vorliegt, befindet sich bei Herrn Schneider Arginin. Im Allgemeinen ist bei einem solchen Aminosäureaustausch auch die Tertiärstruktur des Enzyms verändert [11]. Diese Mutation wurde im Rahmen des vorliegenden Falles das erste Mal detektiert. Bislang ist der Zusammenhang zwischen der entdeckten Genmutation und klinisch auffälligen Therapieversagern unter Phenprocoumon nicht bewiesen. Hinsichtlich des Phänotyps ist Herr Schneider allerdings kein Einzelfall: Die Literatursuche ergab, dass bereits bei mehreren Patienten sehr hohe Dosen nötig waren, um einen Therapieerfolg herbeizuführen [12, 13].

Eine Hypothese wäre demnach, dass bei Herrn Schneider die neu aufgetretene Mutation in der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase zu einer insgesamt verminderten Sensitivität des Enzyms gegenüber Phenprocoumon geführt hatte, auch wenn eine Mutation an Position 1173 vorliegt. Durch eine Dosiserhöhung könnte man versuchen in den effektiven Bereich der Konzentrations-Wirkungs-Kurve zu gelangen und dann sollte es auch gelingen, eine adäquate Erhöhung des INR-Wertes zu erreichen. Diese Hypothese ist graphisch in Abbildung 1 bei der Pharmakodynamik dargestellt: Die Mutation an Position 6621 der DNA-Sequenz führt zu einer verminderten Sensitivität der VKORC1. Die Konzentrations-Wirkungs-Kurve ist nach rechts in der Graphik verschoben. Es müssen höhere Konzentrationen eingesetzt werden, um eine Wirkung zu erzielen. Phenprocoumonkonzentrationen, die man unter einer Standarddosis bei einem Wildtyp für CYP2C9 erwarten würde (blauer Balken, entspricht dem CYP2C9*1/*1-Genotyp des Patientenfalls), sind noch nicht effektiv.

Steckbrief des CYP2C9- und des VKORC1-Polymorphismus

Im Gen des Cytochrom-P450-Isoenzyms 2C9 (CYP2C9) sind bisher über 30 verschiedene Punktmutationen bekannt [15]. In aktuellen Studien zu Warfarin und Phenprocoumon werden zwei Punktmutationen genauer in die Untersuchung einbezogen, die vom Wildtyp-Allel, das als *1 bezeichnet wird, abweichen. Die mit *2 und *3 benannten Veränderungen in der DNA-Basenabfolge bewirken eine verminderte metabolische Aktivität des Enzyms. Die verminderte Abbauleistung resultiert wiederum in höheren Plasmaspiegeln von Arzneistoffen, die über dieses Enzymsystem abgebaut werden, so auch die Vitamin-K-Antagonisten [16, 17].

Auch das Gen der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase, genauer der Untereinheit 1 (VKORC1), zeigt verschiedene Mutationen. Am besten untersucht ist der Austausch der DNA-Basen Cytosin ("C") gegen Thymin ("T") an Position 1173 des Gens.

Referenz für Dosisunterschiede in den durchgeführten Studien sind reine Wildtyp-Träger. Das bedeutet für CYP2C9-Personen einen Genotyp, der *1/*1 entspricht und für VKORC1 einem Vorhandensein von "C" auf jedem Allel, also CC als Genotyp [2,10,18]. In Abhängigkeit der verschiedenen möglichen Konstellationen der Polymorphismen, die auftreten können sowie deren Auswirkungen auf die Therapie, kann man für Phenprocoumon eine Abstufung durchführen.

  • Die angesprochenen reinen Wildtyp-Träger *1/*1 CC benötigten die höchste Dosis von durchschnittlich 3,2 mg pro Tag.
  • Träger mindestens einer *2- oder *3-Mutation im CYP2C9-Gen, die gleichzeitig auch eine Mutation auf beiden VKORC1-Allelen aufwiesen ("TT"), benötigten mit 1,5 mg respektive 1,3 mg Phenprocoumon täglich deutlich weniger Arzneistoff. In diesen Gruppen finden sich auch die meisten Patienten mit einer erhöhten Blutungsneigung, die durch einen INR-Wert von >6 charakterisiert ist [9].

Im Vergleich zu Ergebnissen von Warfarin-Studien, spielt der CYP2C9-Polymorphismus bei Phenprocoumon "CC", also Wildtyp-Trägern der VKORC1, eine größere Rolle als bei Trägern mindestens einer Mutation (CT oder TT). Bei diesen Personen ist der Einfluss des CYP2C9-Polymorphismus geringer als die Veränderung im Angriffsort der Vitamin-K-Antagonisten [2, 9].

Zusammenfassend kann man sagen, dass Personen, die genetische Veränderungen in beiden Enzymen aufweisen, am meisten von einer prädiktiven Gendiagnostik profitieren würden. Ihre Dosisanforderungen sind um mehr als 50% geringer im Vergleich zur Standardtherapie. Das korreliert auch mit dem Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter einer Phenprocoumontherapie.

Zusammengefasst ergaben also folgende Befunde eine Rationale für die empfohlene Dosiserhöhung:

  • Nach Überprüfung der Medikation des Patienten gab es keinerlei Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, die die Therapieresistenz erklären könnte.
  • Die Bestimmung des Phenprocoumon-Serumspiegels ergab einen ausreichenden Spiegel von 11 mg/L, so dass einerseits ein Metabolisierungsproblem aber auch ein Complianceproblem ausgeschlossen werden konnten. Dieses Ergebnis korreliert auch mit dem CYP2C9*1/*1 Wildtyp für das metabolisierende Enzym CYP2C9. Für einen INR-Anstieg würden zum Vergleich normalerweise schon 0,6 bis 5mg/L Phenprocoumon ausreichen.
  • Die Vitamin-K-Serumkonzentration des Patienten ist niedrig. Alimentär bedingte Störungen der Phenprocoumonwirkung konnten ausgeschlossen werden. Im Gegenteil, die niedrigen Vitamin-K-Spiegel hätten zusammen mit dem erhöhten Phenprocoumon-Serumspiegel zu einer verstärkten Wirkung führen sollen.
  • Die vorliegende VKORC1-Mutation an Position 1173 (VKORC1-CT) hätte zu einer erhöhten Sensitivität der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase und damit zu einer Wirkung bei schon niedrigen Phenprocoumonspiegeln führen müssen.
  • Die vorliegende VKORC1-Mutation an Position 6621 ist bisher nicht beschrieben. Sie ist mit einem Aminosäureaustausch verbunden, der vermutlich in der Lage ist, die Tertiärstruktur des Enzyms zu verändern und damit seine Sensitivität zu erniedrigen. Das könnte einen Erklärungsansatz für die fehlende Wirksamkeit bieten.

Warum wurde eine Dosiserhöhung auf maximal 21 mg pro Tag bei Herrn Schneider durchgeführt?

Die Empfehlung für das Ausmaß der Dosiserhöhung folgte Literaturhinweisen: Es waren mehrere Fälle bekannt, in denen Dosierungen von bis zu 30 mg pro Tag von Phenprocoumon nötig waren, um einen Therapieerfolg herbeizuführen [12, 13].

Warum war die VKORC1-Mutation an Position 6621 im Gen nicht bekannt?

Genetische Untersuchungen haben eine Vielzahl an Polymorphismen im Gen der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase gefunden. In aktuellen Studien zu Phenprocoumon als auch zu Warfarin werden in der Regel häufig auftretende, bereits bekannte Polymorphismen sehr gezielt untersucht. Die Punktmutation an Position 1173 kommt bei ca. 60% der Bevölkerung vor und ist damit häufig. In der Tabelle ist darüber hinaus die Häufigkeit der CYP2C9- und VKORC1-Mutationen angegeben [9]. Die neu beschriebene Mutation scheint hingegen so selten zu sein, dass sie in den vielen Genotypisierungsstudien zu Warfarin und Phenprocoumon bisher nicht detektiert worden ist.

Tab.: Häufigkeit von CYP2C9- und VKORC1-Mutationen und erforderliche durchschnittliche Phenprocoumon-Erhaltungsdosierungen [9].
 GenotypenHäufigkeitErhaltungsdosis
CYP 2C9VKORC1[%]Durchschnitt 
[mg/ Woche]
*1/*1CC2222,4
*2 oder *3CC1515,4 – 15,6
*1/*1CT3416,4
*2 oder *3CT1015,0 – 14,4
*1/*1TT910,6
*2 oder *3TT109,4 – 8,5

Welche Konsequenz hat das Beispiel für den Alltag in der Apotheke?

In dem beschriebenen Patientenfall konnte der Apotheker durch sein Fachwissen wesentlich zur Therapieoptimierung und vermutlich sogar zur Entdeckung einer neuen Mutation beitragen.

Bei jährlich über 260 Millionen verordneten Einzeldosen von Phenprocoumon in Deutschland ist die Kenntnis der Verstoffwechslung und der Wirkmechanismen notwendig. Grundsätzlich ist die prädiktive Genotypisierung der bekannten Mutationen für CYP2C9 und VKORC1 bei einer Phenprocoumontherapie sinnvoll. Jedes Jahr erleben 10 bis 17% der Patienten mit einer antikoagulativen Therapie Blutungskomplikationen als unerwünschte Wirkungen ihrer Behandlung. Schwere Blutungen, die eine Krankenhauseinweisung nötig machen, sind mit ca. 2 bis 5% und tödliche Blutungskomplikationen mit 0,5 bis 1% vertreten [14]. Da die meisten Studien zu Polymorphismen und Vitamin-K-Antagonisten in angelsächsischen Ländern durchgeführt wurden, ist die Datenlage für Warfarin deutlich besser als für das in Europa verwendete Phenprocoumon. Ähnlich wie bei Warfarin soll aber auch bei Phenprocoumon eine Gendiagnostik beider Enzyme Hilfestellung für optimierte Initial- und Erhaltungsdosen geben können [9]. Das führt zur Verkürzung der Einstellungsphase und zur Verminderung von unerwünschten Wirkungen von Vitamin-K-Antagonisten.

 

Korrespondenz

Prof. Dr. Stephanie Läer

Institut für Klinische Pharmazie und Pharmakotherapie

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Universitätsstraße 1

40225 Düsseldorf



Literatur

[1] Fachinformation COUMADIN® TABLETS. Stand August 2007.

[2] Stehle S et al.: Pharmacogenetics of oral anticoagulants: a basis for dose individualization. Clin Pharmacokinet 2008; 47:565 – 594.

[3] Schwabe U, Paffrath D: Arzneiverordnungs-Report 2008. Springer-Verlag Berlin, Heidelberg (2008)

[4] Anderson JL et al.: Randomized trial of genotype-guided versus standard warfarin dosing in patients initiating oral anticoagulation. Circulation 2007; 116:2563 –70.

[5] Wilms EB et al.: A new VKORC1 allelic variant (p.Trp59Arg) in a patient with partial resistance to acenocoumarol and phenprocoumon. J Thromb Haemost 2008; 6:1224 –1226.

[6] Fachinformation Marcumar® Stand Juli 2008.

[7] van Haard PM: Routine clinical determination of carotene, vitamin E, vitamin A, 25-hydroxyvitamin D3 and trans-vitamin K1 in human serum by straight phase HPLC. Biomed Chromatogr 1987; 2:79 – 88.

[8] Petersen D et al.: Concentrations of phenprocoumon in serum and serum water determined by high-performance liquid chromatography in patients on oral anticoagulant therapy. J Haemostasis 1993; 23: 83 – 90.

[9] Schalekamp T et al.: VKORC1 and CYP2C9 Genotypes and Phenprocoumon Anticoagulation Status: Interaction Between both Genotypes Affects Dose Requirement. Clin Pharmacol Ther 2007; 81:185 –193.

[10] Rost S et al: Mutations in VKORC1 cause warfarin resistance and multiple coagulation factor deficiency type 2. Nature 2004; 427:537 – 541.

[11] Höltje HD: Was theoretische Verfahren in der Arzneistoffentwicklung leisten. Pharmazeutische Zeitung 2008; 48:16 – 25.

[12] Keréveur A: Vitamin K metabolism in a patient resistant to vitamin K antagonists. Haemostasis 1997; 27:168 –173.

[13] Harrington DJ et al.: Pharmacodynamic resistance to warfarin associated with a Val66Met substitution in vitamin K epoxide reductase complex subunit 1. Thromb Haemost 2005; 93:23 – 26.

[14] http://www.aerzteverlag.de/buecher/buchimg/extra_2884.pdf 12/01/09.

[15] Human Cytochrome P450 (CYP) Allele Nomenclature Committee http://www.cypalleles.ki.se/ 12/01/2009.

[16] Schalekamp T et al.: Effects of cytochrome P450 2C9 polymorphisms on phenprocoumon anticoagulation status. Clin Pharmacol Ther 2004; 76:409 – 417.

[17] Visser LE et al.: The risk of bleeding complications in patients with cytochrome P450 CYP2C9*2 or CYP2C9*3 alleles on acenocoumarol or phenprocoumon. Thromb Haemost 2004; 92:61– 66.

[18] Daly AK et al.: Pharmacogenetics of oral anticoagulants. Pharmacogenetics 2003; 13:247 – 252.

 

Glossar

Allel
Allele sind die unterschiedlichen Varianten eines Gens an einer bestimmten Stelle (Genort). Jeder Mensch hat immer zwei Allele nämlich eines von der Mutter und eines vom Vater.
Genotyp
Er stellt das Erbbild eines Organismus dar, also seine exakte genetische Ausstattung, die jeder Zellkern in sich trägt.
Heterozygot
Bedeutet generell mischerbig. Hier: Die beiden vorhandenen Allele unterscheiden sich.
Homozygot
Bedeutet reinerbig. Hier: Sowohl das mütterliche wie auch das väterliche Allel sind identisch.
Mutation
Veränderung des Erbgutes eines Organismus durch Veränderung der Abfolge der DNA-Basen.
Polymorphismus
Variation in der DNA Sequenz mit einer Häufigkeit in der Bevölkerung von über 1%.
Phänotyp
Wird auch als Erscheinungsbild des Organismus bezeichnet und stellt die Summe aller Merkmale eines Individuums da. Zwar sind die äußeren Merkmale durch die genetischen Informationen festgelegt (Genotyp), der Phänotyp ist jedoch davon abhängig, welche Gene tatsächlich ausgeprägt werden. So liegen z. B. beim Menschen viele Gene in zwei Varianten (Allele) – eine vom Vater, die andere von der Mutter– vor. Häufig wird nur das dominante Gen umgesetzt.
Punktmutation
Veränderung in der DNA-Sequenz von der nur eine Base betroffen ist. Einzelne Mutationen werden mit einem (*) markiert und durchnummeriert.
Wildtyp
Erscheinungsform (hier die eines Gens), die in der freien Natur am häufigsten anzutreffen ist. Abweichungen hiervon werden als Mutation bezeichnet.
INR-Wert
International Normalised Ratio (INR) ist der Nachfolger des Quick-Werts zur Überwachung der Blutgerinnung. Sein Vorteil besteht in der Vergleichbarkeit der Messwerte auch zwischen verschiedenen Laboren. Der INR-Wert verhält sich zum Quick-Wert umgekehrt proportional. Nimmt die Gerinnungszeit und somit auch die Blutungsneigung zu, sinkt der Quick-Wert, wohingegen der INR-Wert größer wird. Bei verkürzter Gerinnungszeit wird der INR-Wert kleiner und der Quick-Wert steigt an. Die Thrombosegefährdung nimmt zu. Normal ist eine INR von 1,0. Muss die Blutgerinnung aus therapeutischen Gründen verringert werden, so sind INR-Werte zwischen 2,0 und 4,0 anzustreben.
Abb. 2: "Der außergewöhnliche Herr Schneider": Schematische Darstellung des Krankheitsverlaufs [4].

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