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Feuilleton
Molekulare Ornamentik*
Die Begriffe Ornament, Ornamentik, ornamental sind vom lateinischen Verb ornare abgeleitet, das mit schmücken oder ausrüsten übersetzt werden kann. Ein Ornament ist demnach ein Schmuck oder eine Ausrüstung. Unter Ornamentik versteht man im Allgemeinen die künstlerische Ausschmückung eines Objektes, obwohl man den Begriff auch mit "zweckmäßiger Ausstattung" übersetzen könnte, was auf der molekularen Ebene von Naturstoffen geradezu zu erwarten ist. Doch das eine schließt das andere nicht aus.
Hierzu ein (gekürztes) Zitat aus dem "Handbuch der Ornamentik" von F. S. Meyer [1]:
Obwohl die Art der Ausschmückung eine äußerst mannigfaltige sein kann, ist sie trotzdem keine willkürliche, weil sie sich dem Zweck und dem Material des zu verzierenden Gegenstandes anzupassen hat.
Die Ornamentik lässt sich grob in die Bereiche Bandmotive und Flachmustermotive unterteilen.
Bandornamente, Bandmotive
Ein Bandornament oder eindimensionales Ornament ist ein sich periodisch wiederholendes Muster auf einem langen Band. Bandornamente sind vielfach wahrnehmbar: als Wandmalereien, als Gefäßdekorationen, als Friese an Tempeln, als Ziergitter von Umzäunungen, als Motive in Stuckaturen.
Wie entstehen Ornamentbänder? Indem man kleine, relativ einfache, gleiche Figuren (Module) linear aneinanderfügt.
Natürlich existieren auch Bandornamente aus verschiedenen Figuren, die sich dann aber in regelmäßigen Abständen wiederholen.
Auf molekularer Ebene ist hier an Polyethylengykole, Polysaccharide, Polyester oder Polykieselsäuren zudenken.
Lineare Polymere muten wie bandförmige Friese an, sei es eine Guttapercha-Zeile, eine Polyethylenglykol-Kette, ein gestrecktes Kautschuk-Molekül oder ein Polysilicat-Streifen, die in Abbildung 1 zwischen verschiedenen Mäanderbändern und dem sogenannten Laufenden Hund versteckt sind. Diese bekannten molekularen Objekte sind Beispiele endloser Kettenbänder. Dazu zählen auch die Cellulose und das Chitin sowie weitere Polysaccharide vom Typ der Glucane, Mannane, Galaktane, Arabane, Xylane.
In Abbildung 2 werden die Strukturen der Cellulose, des Chitins und des Chitosans, das man durch Desacetylierung des Chitins erhält, verglichen.
Chitinin ist als Derivat der Cellulose aufzufassen, bei der die 2-Hydroxygruppen durch acetylierte Aminogruppen ersetzt sind.
Die Funktion der Cellulose als Stützgewebe der Pflanzen übernimmt das Chitin für bestimmte wirbellose Tiere. Aus Chitin sind die Panzer (Außenskelette) der Arthropoden aufgebaut, wozu Krebse, Insekten, Spinnen und Tausendfüßler gehören. Ziemlich reines Chitin liegt in Maikäferflügeln und Hummerschalen vor.
Chitosan besitzt ein großes Anwendungspotenzial in der Lebensmitteltechnologie, Biotechnologie und Medizin und wird als "Fettbinder" empfohlen und verkauft.
Weniger bekannt sind die Poly-(β-hydroxy-alkansäuren) wie Poly-(β-hydroxy-buttersäure) oder Poly-(β-hydroxy-octansäure) (Abb. 3), die von vielen Bakterien als Reserve- und Speicherstoffe gebildet werden, um dann als Kohlenstoff- und Energiequellen zu dienen.
Die "Natur" produziert aber auch kurze Bänder mit genau definierter Länge wie symmetrische Dicarbonsäuren , z. B. Norbixin, und Isoprenoide , z. B. Pristan und Phytoen (Abb. 4), ferner die schon im 10. Essay unter dem Aspekt der cis-trans -Isomerie behandelten Terpene Squalen oder Lycopin [7].
Auch das im 12. Essay genannte Bola-Amphiphil ([8], Abb. 13) kann eher als Bandmotiv denn als Ring betrachtet werden. Schließlich kann man auch die im 5. Essay beschriebenen molekularen Palindrome im weiteren Sinne zu den molekularen Bandmotiven zählen [4].
Zu den reaktiven Naturstoffen, die bandförmige Oligomere bilden, gehören Anthocyanidine und bestimmte Alkaloide. In Abbildung 5 sind Quercetin, ein dimeres, ein trimeres, ein tetrameres und ein oligomeres Proanthocyanidin dargestellt, Vorstufen kondensierter Gerbstoffe.
Unter den Pyrrolo-Indol-Alkaloiden sind solche anzutreffen, die zur Oligomerisation neigen und von Psychotria -Arten (Rubiaceae) produziert werden. In Abbildung 6 ist das Vatamidin zu sehen, das acht Tryptamin-Einheiten enthält.
Bandförmige Friese entstehen auch manchmal dort, wo man sie nicht vermuten würde, z. B. bei der Zersetzung reaktionsfreudiger Arzneistoffe, zu denen die Penicilline mit ihrem spannungsgeladenen β-Lactamring zählen. Das Europäische Arzneibuch enthält eine Prüfung auf Oligomere von Penicillosäure als Verunreinigung von Ampicillin (Abb. 7).
Flächenornamente, Flachmustermotive
Symmetrische Flächenornamente sind oft in der dekorativen Kunst anzutreffen, z. B. in Stoff- und Tapetenmustern. Sie können Translations-, Spiegel- und Rotations-Symmetrie miteinander kombinieren. Es wird den Leser nicht überraschen, dass Flächenornamente auch im molekularen Bereich häufig zu finden sind.
Begrenzte Flachornamente
Begrenzte Flachmuster entstehen oft schon durch Dimerisierung. Die oxidative Dimerisierung von Anthrachinonen führt u. a. zu den Bisanthronen Fagopyrin (Fagopyrum esculentum) und Hypericin (Hypericum perforatum), die in Abbildung 5 des 1. Essays [2] dargestellt sind.
Auch alle Naturstoffe spielkartensymmetrischer Struktur, die aus zwei gleichen, doppelt gespiegelten Molekülhälften bestehen, besitzen ornamentalen Charakter. Man betrachte hierzu alle Abbildungen des 4. Essays [3].
In die Kategorie der Vielecke lassen sich fast alle zyklischen Oligomere einordnen, die im 8. Essay beschrieben wurden – Porphin, IgM, Nonactin, Patellamid A, Cyclodextrine, Fusigen, Nocardamin, Enniatin B, Valinomycin [6] – oder die als große Ringe im 12. Essay zu findenden Naturstoffe Roccanin ([8], Abb. 1) und Viscosamin ([8], Abb. 8).
Als Vielstrahl-Muster kann man das trimere Salvarsan betrachten (8. Essay [6], Abb. 18).
Zu den molekularen Sternvielecken gehören alle gleichartig substituierten tertiären Amine, das Enterobactin (7. Essay [5], Abb. 13) und die 1. Mannichbase ([5], Abb. 8).
Auf die synthetischen Dendrimere [9], die wie regelmäßig geteilte, üppige Zweige eines Baumes (mit fraktaler Struktur) anmuten, soll hier nicht näher eingegangen werden, da es sich nicht um Naturstoffe handelt. Doch gibt es auch Naturstoff-Dendrimere aus Zuckern, aus der Aminosäure Lysin oder aus Glycerol [10]. Es sind hoch verzweigte Polymerstrukturen, die sich, von einem Kern ausgehend, generationsweise aufbauen und aus ästhetischer Sicht Chaos und Ordnung miteinander verbinden. Gegen die Einordnung in den Bereich der unbegrenzten Flachornamente spricht ihre dreidimensionale Gestalt, die sich mit zunehmender Anzahl an Generationen immer mehr einer Kugel nähert.
Ein dendritisches Polyglycerol ist in Abbildung 8 als ornamentale Grafik dargestellt, wobei alle freien OH-Gruppen durch Blättchen symbolisiert sind.
Auch mit Maßwerken – Kreisbogenornamenten, Formbildungen des gotischen Stils – lassen sich bestimmte Naturstoffe gedanklich koordinieren:
Mit zweischneußigen Fenstern ("Fischblasen") beispielsweise das Lyclavatol (Abb. 9), mit dreischneußigen Fenstern das Enterobactin (Abb. 10), mit vierschneußigen Fenstern das Porphyrin (Abb. 11) und mit sechsschneußigen Fenstern das α‑Cyclodextrin, wie bereits im 8. Essay dargelegt wurde ([6], Abb. 6).
Endlose Flachornamente
Die Translation als Symmetrieelement kann man auf molekularer Ebene in verschiedenen Biopolymeren ebenso beobachten wie in synthetischen Kunststoffen oder in Kristallgittern anorganischer Verbindungen.
Bandförmige Makromoleküle können sich vernetzen, d. h. zu flächenartigen Verbänden assoziieren, wie z. B. viele Polysaccharide zeigen. Bei der Cellulose wird der Zusammenschluss endloser Ketten (Abb. 2) zu endlosen Netzen oder Geweben (Abb. 12) durch intermolekulare Wasserstoffbrücken vollzogen. Deshalb löst sich die Cellulose trotz einer Überfülle an OH-Gruppen nicht in Wasser. Wird die Ordnung aber gestört, z. B. durch partielle Methylierung der OH-Gruppen, so wird das Produkt immerhin mit Wasser quellbar – siehe Tapetenkleister.
Abbildung 13 enthält ein maritimes Polysaccharid. Dargestellt ist die bandförmige, translative Symmetrie der Alginsäure, die auch in ähnlicher Form anderen Polysacchariden zu eigen ist und sich zu flächendeckenden Verbänden koordiniert.
Translationen lassen sich gut an so ebenmäßigen Polymeren wie den Polyterpenen Kautschuk und Guttapercha demonstrieren (Abb. 14). Der Unterschied zwischen beiden Molekülen mit unendlicher Symmetrie besteht nur darin, dass die Isopreneinheiten im Kautschuk cis - und in der Guttapercha trans -verknüpft sind.
Dreidimensionale Ornamente stellen die Kristallgitter anorganischer Verbindungen und Salze dar, beispielsweise das Kristallgitter des Diamanten. Projiziert man es in die Ebene, entsteht ein endloses zweidimensionales Ornament, das man als Parkettierung oder Pflasterung aus großen Fünfecken, kleinen Dreiecken und kleinen Rauten betrachten kann. Mit etwas Fantasie und in Gedanken an den niederländischen Grafiker Maurits Cornelis Escher (1898 –1972; er schuf Werke, die sich aus regelmäßigen Wiederholungen geometrischer Grundfiguren zusammensetzen) kann man darin Ornamente erkennen, die wie junge Raben oder alte Ritter anmuten (Abb. 15 und 16).
Zu den dreidimensionalen Ornamenten gehören auch die Girlanden, und zu den Girlanden im weiteren Sinne zählen die essenziellen Helices des Lebens wie die DNA und Analoga oder die helikalen Abschnitte in Peptiden (ein überaus großer molekularer Bereich). Beschränken wir uns auf die Darstellung eines kleinen funktionellen Peptids, des Insulin-Antagonisten Glucagon (Abb. 17). Das lineare, aus 29 Aminosäuren aufgebaute Peptid liegt in Form einer α-Helix vor. Helices bilden auch einige Polysaccharide, z. B. die Amylose oder das Chitosan, wenn es aus Crustaceen gewonnen wurde.
Eine grafisch anspruchsvolle Girlande soll den Abschluss unserer Betrachtungen bilden: Durch fortlaufende Ketalisierung aus einem nativen und einem synthetischen Edukt, nämlich aus Pentaerythritol und 1,4-Cyclohexandion, entsteht ein Spiropolymer (Abb. 18). Dabei stehen die Ebenen der sesselförmig gewinkelten Ringe jeweils senkrecht zu einander.
Autor und WebsiteProf. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth, Friedrich-Naumann-Str. 33, 76187 Karlsruhe Auf dieser Website stehen alle 14 Folgen der Serie. |
Literatur
[1] Franz Sales Meyer: Handbuch der Ornamentik, 12. Aufl., Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1927.
[2] Hermann J. Roth: 1. Essay der Reihe Molekulare Ästhetik, "Was ist und wie entsteht molekulare Ästhetik?". DAZ-Beilage Student und Praktikant, November 2006.
[3] H. J. Roth: 4. Essay, "Spielkartensymmetrie". DAZ-Beilage Student und Praktikant, Juli 2007.
[4] H. J. Roth: 5. Essay, "Molekulare Palindrome". DAZ-Beilage Student und Praktikant, Oktober 2007.
[5] H. J. Roth: 7. Essay, "Die Zahl 3 als ästhetisches Ordnungsprinzip". DAZ-Beilage Student und Praktikant, Januar 2008.
[6] H. J. Roth: 8. Essay, "Zyklische Oligomerisierung, ein symmetrogenes Prinzip". DAZ-Beilage Student und Praktikant, April 2008.
[7] H. J. Roth: 10. Essay, "Cis und trans , Z und E, Kopf und Schwanz". DAZ-Beilage Student und Praktikant, November 2008.
[8] H. J. Roth: 12. Essay, "Große Ringe". Dtsch Apoth Ztg 2009;149:453.
[9] F. Vögtle, et al.: Dendritische Moleküle. Teubner-Verlag, Wiesbaden 2007.
[10] R. Haag, et al.: An Approach to Glycerol Dendrimers and Pseudo-Dendritic Polyglycerols. J Am Chem Soc 2000;122:2954.
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