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- DAZ 11/2009
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Feuilleton
Opium – Fluch und Segen
Der Selbstversuch hätte Friedrich Wilhelm Adam Sertürner und drei Freunden beinahe das Leben gekostet. Sie hatten in halbstündigen Abständen dreimal ein halbes Gran Morphin eingenommen. Diese Menge entspricht dem Dreifachen der heute üblichen Höchstdosis. In letzter Sekunde gelang es Sertürner, sich und den anderen ein Brechmittel zu verabreichen …
50 Jahre von der Isolierung des Morphins …
In einer Abhandlung, die im Frühjahr 1817 in den international anerkannten "Annalen der Physik" publiziert wurde, rechtfertigte Sertürner den Versuch an Menschen: "Meine (frühere) Abhandlung hat man nur wenig berücksichtigt; sie war flüchtig geschrieben, die Mengen, mit denen ich gearbeitet hatte, waren nur kleine." Damit bezog er sich auf Experimente, die er als junger Apothekergehilfe in der Hofapotheke seiner Heimatstadt Paderborn zur analgetischen Wirksamkeit von Opium unternommen hatte.
Wie viele seiner Berufskollegen wollte Sertürner die Inhaltsstoffe von Arzneipflanzen und deren chemische Zusammensetzungen ergründen. Insbesondere in Frankreich hatte man seit dem 17. Jahrhundert versucht, die Wirkstoffe des Opiums zu isolieren. Antoine Baumé hatte das "sel essentiel d‘opium", das Narcotin, und Charles Derosne eine Mischung aus Narcotin und Morphin, das "sel de Derosne", entdeckt. Allen Erwartungen zuwider reagierte aber das Salz trotz mehrfacher Reinigung alkalisch. Derosne ahnte nicht, dass dies eine Eigenschaft der Substanz selbst war, und erklärte die Alkalität als Folge einer unvermeidbaren Verunreinigung.
Mit jugendlicher Neugier und "unbelastet" von den Erkenntnissen seiner französischen Kollegen, ging Sertürner im beschaulichen Paderborn seinen Forschungen zur Analyse des Opiums nach. Im 25. Versuch erkannte er schließlich, dass "dieser Körper weder Erde, Gluten noch Harz, sondern ein ganz eigener Stoff sey". Um seine Vermutung, das Wirkprinzip des Opiums isoliert zu haben, zu bestätigen, verabreichte er einem Hund eine geringe, in Alkohol gelöste und gesüßte Dosis des Alkaloids. Der Vierbeiner wurde bald schläfrig und erbrach kurze Zeit später. Sertürner hatte keinen Zweifel, dass "diese Substanz der eigentliche betäubende Grundstoff des Opiums" war.
Insgesamt 57 Versuche unternahm Sertürner. Als er im Frühjahr 1805 nach Einbeck zog, um dort in der Ratsapotheke als Gehilfe zu arbeiten, hatte er seine Versuchsergebnisse niedergeschrieben und die Abhandlung an Johann Bartholomäus Trommsdorff geschickt, der sie im "Journal der Pharmacie" veröffentlichte. Die Arbeit wurde indessen nicht ernst genommen. Insbesondere bemängelten die Berufskollegen Ungenauigkeiten bei den Mengenangaben.
MuseumBrandenburgisches Apothekenmuseum
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Führungen: Dienstag bis Freitag 11 und
14 Uhr, Samstag und Sonntag 14 und 15 Uhr
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… bis zur subkutanen Injektion
Sertürners zweite Publikation fand zunächst in Frankreich große Beachtung. Louis-Joseph Gay-Lussac, Herausgeber der Zeitschrift "Annales de chimie et de physique", erkannte, dass Sertürner mit "Morphium" – benannt nach dem Traumgott Morpheus – endlich die Grundlage für eine wirksame und zuverlässige Schmerzbekämpfung entdeckt hatte, und publizierte etwa zeitgleich zur Veröffentlichung in Deutschland eine französische Übersetzung der Abhandlung. Allerdings spielte Morphin vorläufig keine Rolle in der Therapie, weil es bei der oralen Applikation Brechreiz verursacht. Erst nach der wesentlichen Verbesserung der Injektionsspritze durch den französischen Chirurgen Charles Gabriel Pravaz (1853) wurde es möglich, Morphin parenteral, und zwar in der Regel subkutan zu applizieren.
Eine der ältesten Kulturpflanzen
Der Ausgangsstoff, das Opium, wird aus der Samenkapsel des Schlafmohns Papaver somniferum gewonnen. Eine Woche nachdem die Blütenblätter abgefallen sind, werden die unreifen Kapseln abends im unteren Teil mehrfach eingeschnitten. In den Anbauländern haben sich unterschiedliche Schnitttechniken entwickelt. So sind in Ostasien waagerechte Einschnitte üblich, während in Indien die Kapseln schräg eingeschnitten werden. Im Iran wiederum hat der senkrechte Schnitt Tradition. Am folgenden Morgen werden die milchweißen Tropfen von den Kapseln abgeschabt. Während des Trocknens zum Rohopium nimmt der Saft eine bräunliche Farbe an.
Der Schlafmohn gehört nicht nur wegen des Opiums, sondern auch wegen der ölhaltigen Samen zu den ältesten Kulturpflanzen der Welt. Er stammt aus dem Mittelmeerraum und wurde in Südeuropa bereits ab 6000 v. Chr. genutzt. In vorderasiatischen Keilschriften aus der Zeit um 4000 v. Chr. wird erstmals über die Herstellung von pharmazeutischen Präparaten aus Schlafmohn berichtet. Die Sumerer sprachen von der "Pflanze der Freude".
China wird süchtig
Im Reich der Pharaonen waren ab 1800 v. Chr. Mixturen aus Opium bekannt. Bei den Römer war Opium eine Wohlstandsdroge. In China wird der Schlafmohn zuerst in medizinischen Werken des 8. Jahrhunderts erwähnt. Im 17. Jahrhundert wurde dort der Opiumgenuss zum gesellschaftlichen Problem: Nachdem der letzte Ming-Kaiser das durch europäische Seefahrer im 16. Jahrhundert eingeführte Tabakrauchen verboten hatte, füllten die Nicotinabhängigen ihre Pfeifen mit der viel gefährlicheren Rauschdroge. Es war durchaus üblich, dass ein Raucher in einer "Opiumhöhle" 20 bis 40 berauschende Pfeifen am Tag konsumierte. Süchtige, die gar die doppelte Dosis rauchten, genossen als "Große Raucher" fragwürdigen Respekt.
Um die in allen Bevölkerungsschichten des Reichs der Mitte grassierende Sucht einzudämmen, versuchte 1839 Kaiser Daoguang den illegalen Drogenhandel der britischen East India Company mit allen nur möglichen Mitteln zu unterbinden. Nach drei Jahre andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen zwang aber Großbritannien schließlich China, die Märkte wieder zu öffnen und den Import von Opium zuzulassen. Nach Abschluss des Vertrags von Nanking wurde die Insel Hongkong für 157 Jahre eine britische Kronkolonie.
"Jesus-Opium" gegen die Sucht
Um die verheerenden Folgen des Opiumgenusses abzuwenden, versuchte China indessen weiterhin das Laster zu bekämpfen. Die Durchsuchung eines englischen Schmugglerschiffs durch chinesische Soldaten löste dann 1856 den zweiten Opiumkrieg aus. Diesmal kämpften auch Frankreich und die USA an der Seite der Briten. Das Reich der Mitte musste abermals die uneingeschränkte Einfuhr der gefährlichen Droge dulden. Erst 1906 lenkte die britische Regierung Schritt für Schritt ein.
Durch die Verteilung von "Jesus-Opium" – eine euphemistische Bezeichnung für Morphin – versuchten christliche Missionare in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sucht in den Griff zu bekommen – natürlich ohne Erfolg. 1906 galten 13 Millionen Chinesen als süchtig, 1945 zählte die Statistik bereits 40 Millionen Menschen, die auf Opium oder Morphin nicht mehr verzichten konnten. Erst nach dem Regierungsantritt von Mao Zedong (1949) gelang es, Opium aus dem Land zu verbannen.
Symbol von Traum und Tod
Im Abendland hatten Kleriker im 4. Jahrhundert die Gabe von schmerzstillendem Opium verboten, weil sie Krankheiten als Strafe Gottes betrachteten. Erst mit der Verbreitung der arabischen Medizin, insbesondere durch die Schule von Salerno, kehrte die Droge wieder nach Europa zurück. Weil man aber damals noch nicht wusste, worauf die Wirkung des Opiums beruht, war seine Anwendung immer wieder ein schmaler Grat zwischen Schmerzlinderung und Tod. Wohl dieser Umstand führte dazu, dass die Mohnkapsel als Symbol für Morpheus, den Gott des Traumes, Thanatos, den Gott des Todes, und Nyx, die Göttin der Nacht, gleichermaßen Eingang in die bildende Kunst fand; als Symbol des Todes sind sie auch auf Grabdenkmälern und an Friedhofsgebäuden häufig zu finden.
Süchtig durch Schmerztherapie mit Opioiden
Die betäubende Wirkung von Morphin beruht darauf, dass es die Weiterleitung von Schmerzsignalen im zentralen Nervensystem hemmt. Nach der Einnahme fällt der Konsument in einen als angenehm empfundenen Rausch. Infolge eines Gewöhnungseffekts besteht die Gefahr der Abhängigkeit: Der Konsument muss die Dosis immer wieder steigern, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die gesundheitsschädlichen Folgen sind bekannt.
Nachdem die Injektion von Morphin zum Segen für Schwerkranke üblich geworden war, nahm die Anzahl der Abhängigen zu; in vielen Fällen war die Sucht iatrogen und beruhte nicht primär auf einem Abusus. Noch um 1900, als sich in Europa der Konsum von Cocain zusehends verbreitete, versuchten einige Mediziner den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, indem sie Cocainsüchtigen Morphin zur Substitutionstherapie verabreichten.
1873 gelang es dem englischen Chemiker Charles Robert Alder Wright, aus Morphin und Essigsäureanhydrid Diacetylmorphin (Diamorphin) zu synthetisieren. 1896 übernahm die Aktiengesellschaft Farbenfabriken, die heutige Bayer AG, das Verfahren und meldete das Präparat unter der Bezeichnung Heroin® zum Patent an. Ein gutes Jahr später synthetisierte der bei der AG Farben beschäftigte Chemiker Felix Hoffmann ebenfalls Diamorphin. Ab 1898 begann die Firma mit der Produktion. Das vermeintliche Arzneimittel wurde in zwölf Sprachen beworben und für über vierzig Indikationen empfohlen. Erst 1904, nachdem sich Heroin als Stoff mit sehr hohem Suchtpotenzial entpuppt hatte, wurde in Fachkreisen vor der Verordnung gewarnt.
Strenge Gesetze, engmaschige Kontrollen
1912 wurde auf der Internationalen Opiumkonferenz in Den Haag ein Abkommen beschlossen, das Morphin und Cocain unter staatliche Kontrolle stellte. 1930 wurde in Deutschland das Opiumgesetz verabschiedet, das den Verkehr mit Suchtmitteln von der Apotheke zum Arzt, Zahnarzt und Veterinärmediziner regelt. Seither ist eine lückenlose Dokumentation vom Eingang bis zur Abgabe vorgeschrieben. Unterschieden sich die Rezeptformulare bis 1945 nicht von anderen Verordnungen, so ermöglichen heute die Dokumentation über EDV und entsprechende Formulare eine engmaschige Kontrolle des Verbleibs von Betäubungsmitteln.
Reinhard Wylegalla
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