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Arzneimittel und Therapie
Erster Integrasehemmer steht in Europa zur Verfügung
Nach Expertenmeinung ist ein Ende der Aids-Pandemie nicht in Sicht. Die aktuellen Zahlen belegen dies: weltweit leiden noch immer mehr als 33 Millionen Menschen an dieser Erkrankung, 2007 kam es zu über 2,5 Millionen neuen HIV-Infektionen. Am schnellsten breitet sich das Virus gegenwärtig in Asien und Osteuropa aus. Doch auch in der EU sind die Zahlen erschreckend: nach Angaben des European Centre for the Epidemiological Monitoring of HIV and Aids wurden seit 2002 fast 250.000 HIV-Infektionen registriert.
Hoher Prozentsatz an Resistenzen
Eines der größten Probleme bei der Aids-Therapie ist die Fähigkeit des HI-Virus, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und anzupassen. In zahlreichen internationalen Studien wurden bei therapieerfahrenen Patienten Resistenzen gegenüber den zugelassenen Wirkstoffen nachgewiesen. Bei bis zu 76% von ihnen wird eine Resistenz gegenüber mindestens einer antiretroviralen Wirkstoffklasse vermutet.
Resistenzen sind inzwischen so weit verbreitet, dass sogar neu erkrankte, bisher unbehandelte (therapienaive) Patienten zu einem hohen Prozentsatz mit bereits resistenten Virusstämmen infiziert werden. Große Hoffnungen verbinden sich daher mit dem Einsatz von Wirkstoffen mit völlig neuen Wirkprinzipien, wie dies bei dem Integrasehemmer Raltegravir der Fall ist.
Hemmung eines essenziellen Virusenzyms
Die Integrase ist neben der Reversen Transkriptase und der Protease eines der essenziellen Enzyme, die das HI-Virus für seine Replikation und Ausbreitung im menschlichen Körper benötigt. Sie katalysiert den Einbau der viralen Erbinformation in das Genom der menschlichen Zelle, indem sie zunächst beide Stränge der humanen DNA im Zellkern zerschneidet. Anschließend werden virale DNA-Enden und die geschnittenen Enden der humanen DNA kovalent miteinander verknüpft. Wird dieser Prozess durch Raltegravir gehemmt, können keine neuen infektiösen Viruspartikel mehr gebildet werden, die Ausbreitung der Infektion wird behindert.
Überzeugende Studienergebnisse
Die Zulassung von Raltegravir beruht auf den gepoolten 24-Wochen-Daten zweier noch laufender doppelblinder placebokontrollierter randomisierter Studien (Benchmark-1 und Benchmark-2) mit 699 vorbehandelten erwachsenen Patienten. Bei diesen Patienten war eine Resistenz gegen mindestens einen Wirkstoff aus den drei Klassen nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren, (NRTI), nicht-nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) und Protease-Inhibitoren (PI) nachgewiesen worden.
In den Studien war eine zweimal tägliche Einnahme von 400 mg Raltegravir zusätzlich zu einer optimierten Hintergrundtherapie (OBT) im Vergleich zu einer Therapie mit Placebo plus OBT signifikant (p < 0,001) wirksamer bezüglich der Reduktion der HIV-RNA-Werte und der Steigerung der CD4-Zellzahl. Nach 24 Wochen erreichten 75% der Patienten (347 von 462) unter Raltegravir plus optimierte Hintergrundtherapie eine Reduzierung der HIV-RNA auf unter 400 Kopien/ml im Vergleich zu 40% der Patienten (95 von 237), die Placebo plus optimierte Hintergrundtherapie erhalten hatten.
Außerdem erreichten nach dieser Behandlungsdauer 63% der Patienten (289 von 462), die Raltegravir plus optimierte Hintergrundtherapie erhielten, eine Reduktion der Viruslast auf unter 50 Kopien/ml, im Vergleich zu 34% der mit Placebo plus optimierte Hintergrundtherapie behandelten Patienten (80 von 237).
Die Steigerungsraten bei den CD4-Zellzahlen im Vergleich zum Ausgangswert lagen bei 84 Zellen/mm3 bei den Patienten, die Raltegravir plus optimierte Hintergrundtherapie erhielten und bei 37 Zellen/mm3 unter Placebo plus optimierte Hintergrundtherapie.
GlossarViruslast (HIV-1-RNA-Spiegel) Gemessen in Kopien/ml Blut ist sie ein Indikator für die Gesamtzahl der virusproduzierenden Zellen. Sie dient der Beurteilung des Voranschreitens der HIV-Infektion und der Wirksamkeit der Behandlung. Ziel der Therapie ist eine Absenkung auf unter 50 Kopien/ml. CD4-Zellzahl Parameter für die Prognose eines HIV-Infizierten. Beim gesunden Menschen liegt sie zwischen 500 und 1500. Bei Aids-Patienten kann sie bis auf unter 200 absinken. OBT (Optimised Background Therapy, Hintergrundtherapie) Behandlungsregime für HIV-Patienten mit einer Kombination aus drei bis fünf antiretroviralen Medikamenten. Es wird nach Auswertung der bisherigen Behandlung und einer Resistenz-Testung individuell erstellt. |
Orale Einnahme möglich
Raltegravir wird als Filmtablette mit 400 mg zweimal täglich zusammen mit oder ohne eine Mahlzeit eingenommen und ist gut mit anderen antiretroviralen Wirkstoffen kombinierbar.
Nach bisheriger Datenlage ist die Substanz ist kein Substrat des Cytochrom P450-Enzymsystems. Die Enzyme CYP1A2, CYP2B6, CYP28, CYP2C9, CYP2C19, CYP2D6 oder CYP3A4 werden von Raltegravir nicht gehemmt, CYP3A4 nicht induziert. Dies ist von besonderem Vorteil, da dann keine Wechselwirkungen mit Arzneistoffen, die über Cytochrom P450-Enzyme verstoffwechselt werden, zu befürchten sind.
Die Elimination von Raltegravir erfolgt hauptsächlich nach einer durch das Enzym Uridindiphosphat-Glukuronosyltransferase 1A1 (UGT1A1) katalysierten Glukuronidierung.
Zu beachten ist, dass die Plasmaspiegel von Raltegravir bei Kombination mit Arzneistoffen, die als starke UGT1A1-Inhibitoren bekannt sind (z. B. Atazanavir) erhöht sein können. Auch Tenofovir kann durch einen noch unbekannten Mechanismus den Plasmaspiegel von Raltegravir erhöhen. In Studien zeigte sich jedoch ein ähnliches Verträglichkeitsprofil bei Patienten mit und ohne gleichzeitige Gabe von Atazanavir und/oder Tenofovir, daher ist keine Dosisanpassung erforderlich. Auch bei älteren Patienten ist keine Dosisanpassung notwendig. Als älterer Patient gelten in der Aids-Therapie Menschen ab einem Alter von 50 Jahren, da bei dieser Erkrankung die Lebenserwartung erwartungsgemäß gering ist. Allerdings war in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg der Lebenserwartung zu verzeichnen: während im Jahre 1996 ein HIV-Infizierter ab einem Alter von 20 Jahren statistisch gesehen noch 24,3 Lebensjahre vor sich hatte, ist dieser Zeitraum seit 2005 bereits auf 33,5 Jahre angestiegen.
Geringe Abbruchraten wegen Nebenwirkungen
In den zulassungsrelevanten Raltegravir-Studien lagen die Abbruchraten aufgrund von unerwünschten Ereignissen bei 2,0% unter Raltegravir plus optimierte Hintergrundtherapie und bei 1,4% bei Patienten unter Placebo plus optimierte Hintergrundtherapie. Nebenwirkungen, die in diesen Studien sowohl unter Raltegravir als auch unter Placebo mit einer Häufigkeit von mehr als 10% auftraten, waren Durchfall, Übelkeit, Kopfschmerzen und Fieber.
Studien zur Indikationserweiterung
Die bisherige Zulassung für Raltegravir erlaubt den Einsatz der Substanz nur bei Patienten, die bereits behandelt werden oder wurden, wobei die HIV-1-Replikation nicht erfolgreich reduziert (das heißt unter die Grenze von 50 Kopien/ml gebracht) werden konnte. Vorläufige klinische Daten zeigen jedoch, dass Raltegravir auch bei therapienaiven Patienten zu einer Senkung der Viruslast und einer Erhöhung der CD4-Zellzahl führt, sodass es möglich sein könnte, dass Raltegravir zu einem späteren Zeitpunkt auch eine Zulassung für unbehandelte Aids-Patienten erhält.
Steckbrief: RaltegravirHandelsname: Isentress Hersteller: MSD, Sharp & Dohme GmbH, Haar Einführungsdatum: 3. Januar 2008 Zusammensetzung: Jede Filmtablette enthält 400 mg Raltegravir (als Kaliumsalz). Sonstige Bestandteile: Tablettenkern: mikrokristalline Cellulose, Lactose-Monohydrat, wasserfreies Calciumhydrogenphosphat, Hypromellose 2208, Poloxamer 407, Natriumstearylfumarat, Magnesiumstearat. Filmüberzug: Polyvinylalkohol, Titandioxid (E 171), Polyethylenglykol 3350, Talkum, rotes Eisenoxid (E 172), schwarzes Eisenoxid (E 172). Packungsgrößen, Preise und PZN: 60 Filmtabletten, 1062,03 Euro, PZN 5956967. Stoffklasse: Antibiotika/Antiinfektiva; antiretrovirales Arzneimittel zur systemischen Anwendung, Integrase-Strangtransfer-Inhibitor. ATC-Code: J05AX08. Indikation: In Kombination mit anderen antiretroviralen Arzneimitteln zur Behandlung einer Infektion mit dem humanen Immundefizienzvirus (HIV-1) bei vorbehandelten erwachsenen Patienten mit nachgewiesener HIV-1-Replikation trotz antiretroviraler Therapie. Diese Indikation beruht auf Verträglichkeits- und Wirksamkeitsdaten aus zwei doppelblinden, placebokontrollierten Studien von 24-Wochen Dauer bei vorbehandelten Patienten. Dosierung: Zweimal täglich 400 mg, unabhängig von der Nahrungsaufnahme. Gegenanzeigen: Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder einen der sonstigen Bestandteile. Nebenwirkungen: Schwindel; Vertigo; Bauchschmerzen, Flatulenz, Obstipation; Pruritus, erworbene Lipodystrophie, Hyperhidrose; Arthralgie; Müdigkeit, Schwächegefühl. Wechselwirkungen: Da Raltegravir hauptsächlich über UGT1A1 verstoffwechselt wird, sollte es nur vorsichtig mit starken Induktoren der UGT1A1 (z. B. Rifampicin) kombiniert werden, denn diese können die Plasmaspiegel von Raltegravir erniedrigen. Starke Inhibitoren der UGT1A1 (z. B. Atazanavir), können die Plasmaspiegel von Raltegravir erhöhen. Raltegravir sollte mit Arzneimitteln, die den gastrischen pH-Wert erhöhen (z. B. Protonenpumpenhemmer und H2-Antagonisten), nur angewendet werden, wenn es unvermeidlich ist. Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen: Raltegravir sollte in Kombination mit mindestens einem anderen aktiven antiretroviralen Arzneimittel verwendet werden. Raltegravir sollte bei Patienten mit schwerer Leberfunktionsstörung mit Vorsicht angewendet werden. Patienten mit chronischer Hepatitis B oder C, die mit einer antiretroviralen Kombinationstherapie behandelt werden, haben ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende unerwünschte und potenziell tödliche hepatische Ereignisse.Bei HIV-infizierten Patienten mit schwerem Immundefekt kann sich zum Zeitpunkt der Einleitung einer antiretroviralen Kombinationstherapie (ART) eine entzündliche Reaktion auf asymptomatische oder residuale opportunistische Infektionen entwickeln, die zu schweren klinischen Zuständen oder zur Verschlechterung von Symptomen führt. Bei Kombination von Raltegravir mit starken Induktoren der Uridin-Diphosphat-Glukuronosyltransferase (UGT) 1A1 (z. B. Rifampicin) ist Vorsicht geboten, weil Rifampicin den Plasmaspiegel von Raltegravir reduziert. |
Quelle
Prof. Dr. Jürgen Rockstroh, Bonn, Dr. Heribert Knechten, Aachen: Presseworkshop "Quantensprung im Management von HIV", Berlin, 10. Januar 2008, veranstaltet von der MSD Sharp & Dohme GmbH, Haar.
Fachinformation Isentress® 400 mg Filmtabletten, Stand Dezember 2007.
Apothekerin Dr. Claudia Bruhn
Zum WeiterlesenIntegrasehemmer Raltegravir. Sprunginnovation in greifbarer Nähe? Med Monatsschr Pharm 2007;30(11):419-21. |
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