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Pharmaziegeschichte
"Arzneimittelkarrieren"
Nach den Grußworten der Bürgervorsteherin von Husum, Frau Ecke, richteten der Präsident der Apothekerkammer Schleswig-Holstein, Holger Iven, und Prof. Dr. Wolfram Hänsel von der Landesuniversität Kiel Grußbotschaften an die Versammlung. Eine Einführung in das Thema „Arzneimittelkarrieren – zur wechselvollen Geschichte aus-gewählter Medikamente“ gab Prof. Dr. Peter Dilg, Marburg, Vorsitzender der Fachgruppe Geschichte der Pharmazie der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft. Er wies darauf hin, dass es drei Typen von Arzneimittel-karrieren gibt: die Langläufer, die Kurzläufer und die – sinnvoller Weise so bezeichneten – „Wiederläufer“.
350 Jahre Glaubersalz
Prof. Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Heidelberg, referierte über „Das Glaubersalz – eine unendliche Karriere“ und machte darauf aufmerksam, dass die meisten chemiatrischen Arzneimittel, die vor allem von den Paracelsisten zusammengestellt und medizinisch verwendet wurden, heute in der Versenkung verschwunden sind. Hingegen erfreut sich das Glaubersalz immer noch stetiger Beliebtheit. Johann Rudolph Glauber (1604–1670), gelernter Spiegelmacher, zeitweiliger Apotheker, Chemiater und Entrepreneur, aber auch belesener Fachschriftsteller, hatte das „Sal mirabile“, also Natriumsulfat, während seiner „Peregrinatio academica“ 1625 in Wiener Neustadt „entdeckt“, die Wirkung jedoch erst 1658 in der Schrift „Tractatus de natura salium“ beschrieben. Das Glaubersalz wurde erstmals 1741 in die Pharmacopoea Wirttembergica aufgenommen und war bis zur 7. Ausgabe des Deutschen Arzneibuchs aus dem Jahre 1968 als „Natriumsulfat“ offizinell. Die Glauber-Therme in Bad Bertrich, die bereits Alexander von Humboldt als „mildes Karlsbad“ bezeichnet hatte, bietet noch heute Entschlackungskuren mit Glaubersalz an.
Zimt als Gewürz und Arznei
Prof. Dr. Bettina Wahrig und Dr. Gabriele Wacker, Braunschweig, gaben Einblicke in „Zimt – Fragmente aus dem Leben einer vielseitigen Arzneipflanze“. Der Zimtbaum (Cinnamonum ceylanicum) ist eine der ältesten zu Heilzwecken und als Gewürz genutzten Kulturpflanzen. Autoren der Antike und der frühen Neuzeit schrieben ihm u. a. eine diuretische, blähungstreibende, menstruations- und wehenfördernde sowie giftwidrige Wirkung zu. Im 18. Jahrhundert geriet besonders seine Wirkung auf das Nervensystem in den Fokus; gleichzeitig lassen sich auch Belege für seine blutstillende Wirkung finden. Als Stomachikum und entzündungswidriges Medikament wurde Zimtrinde ebenfalls über viele Jahrhunderte und in zahlreichen Kulturen angewendet. In neuerer Zeit ist gemahlene Zimtrinde als potenzielles Diabetikum neu in der Diskussion, wobei über die Stabilität der Wirkung und die zugrunde liegenden Wirkmechanismen noch gestritten wird. Das Forschungsprojekt „Arznei und Konfekt – Medikale Kultur am Wolfenbütteler Hof 1576–1714“ betrifft auch den Zimt und seine Zubereitungen: In den Akten der Wolfenbütteler Hofapotheke finden sich Belege für eine Vielzahl von Rezepturen und Zubereitungsformen mit Anwendungen sowohl zu medizinischen als auch zu Genusszwecken.
Klappern gehört zum Handwerk
Zu „Werbung und Wirkung – Reklame als Karrierefaktor für Arzneimittel“ referierte Priv.-Doz. Dr. Axel Helmstädter, Marburg. Der wirtschaftliche Erfolg vieler Fertigarzneimittel, vor allem solcher, die im Rahmen der Selbstmedikation zum Einsatz kommen, erklärt sich auch durch geschickte Endverbraucherwerbung (z. B. Bullrich-Salz oder Wybert-Pastillen). Im Wettbewerb mit mehreren ähnlich zusammengesetzten und vergleichbar wirksamen Präparaten kam es vor allem darauf an, eine „Marke“ zu etablieren. Dabei spielten viele Faktoren eine Rolle wie der Name des Produktes, das Packungsdesign, die Gestaltung der Arzneiform, griffige Slogans, eine vertrauenerweckende Entdeckungs- oder Herkunftslegende sowie graphische Elemente wie der Schriftzug von Handelsnamen und Hersteller oder die Gestaltung von Anzeigen (z. B. „Schweizer Pillen“ von R. Brandt). Entsprechende Strategien lassen sich seit dem 16. Jahrhundert nachweisen, fanden eine besondere Blütezeit zur Zeit des industriellen Geheimmittelwesens um die Wende zum 20. Jahrhundert und setzten sich bis in die heutige Zeit fort.
Als Werbeträger dienten, abgesehen vom Direktvertrieb durch Handlungsreisende und Marktschreier, von Anfang an Drucksachen wie Handzettel, Zeitungen und Zeitschriften, später auch die Plakatierung in öffentlichen Räumen wie an der Litfaßsäule. Eine Sonderform stellt die Werbung in Liederbüchern dar, die sich die Beliebtheit des Chorgesangs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunutze machte (in England Beechams Gesangbücher). Lobende Aussagen bekannter oder vertrauenerweckender Persönlichkeiten („Testimonials“) wurden ebenfalls häufig werblich eingesetzt, wie beispielsweise Lydia Pinkhams „Vegetable compound“. Der mit Klangbeispielen und anschaulichen Werbeträgern unterfütterte Vortrag zeigte, dass Werbung für Arzneimittel sowohl für die Hersteller als auch die Verbraucher unerlässlich scheint.
Zwei „Wiederläufer“: Thalidomid …
Prof. Dr. Christoph Friedrich, Marburg, schilderte „Aufstieg, Absturz und neue Perspektiven“ des Arzneistoffs Thalidomid, der eine der schwersten Arzneimittelkatastrophen im 20. Jahrhundert auslöste. Thalidomid wurde von der Firma Chemie Grünenthal 1957 unter dem Namen Contergan® in den Handel gebracht und entwickelte sich schnell zu einem der beliebtesten Schlafmittel der Bundesbürger, nicht zuletzt dank einer gezielten Werbung mit der vermeintlichen „Atoxizität“ und „Unschädlichkeit“ des Arzneistoffes. Bereits 1959 hatte ein Neurologe auf die Gefahr von Nervenschädigungen hingewiesen, und während der Vertriebsphase traten bei Neugeborenen gehäuft Phokomelien auf, also Missbildungen, bei denen Hände und Füße unmittelbar am Rumpf ansetzen.
Den Zusammenhang zwischen den Missbildungen und der Einnahme des Contergans entdeckte 1961 der Kinderarzt Widukind Lenz. Obwohl er am 15. November 1961 den Forschungsleiter der Firma Grünenthal darüber informierte, war das Unternehmen zunächst zur Rücknahme der Thalidomidpräparate vom Markt nicht bereit. Erst am 27. November 1961 zog Grünenthal alle Thalidomidpräparate zurück und beendete vorerst die Karriere dieses Arzneimittels. Eine Rezeptpfliicht war bereits am 1. August 1961, zunächst jedoch nur in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg eingeführt worden. In den USA verhinderten die strengeren arzneimittelrechtlichen Rahmenbedingungen die Einführung thalidomidhaltiger Präparate, und 1962 zog die Firma den Antrag auf Zulassung zurück.
Nachdem bereits 1965 ein israelischer Arzt durch Zufall bei einem Leprapatienten entdeckt hatte, dass Thalidomid bei Erythema nodosum eine rasche und deutliche Rückbildung der Entzündungsherde auf der Haut bewirkt, begann nach 1996 eine neue Karriere des Thalidomids, und 1998 ließ die Food and Drug Administration Thalidomid zur Behandlung der Leprareaktion zu. In Brasilien wurden seit den 1990er-Jahren Hunderte von Kindern mit Missbildungen geboren, was die Anwendung erneut in Frage stellt.
… und Arsenik
Dr. Ulrich Meyer, Berlin, befasste sich mit „Arsen – vom Mordgift zum Leukämie-Therapeutikum“. Die giftigen Verbindungen des Arsens waren bereits in der Antike bekannt. Um 700 n. Chr. gewannen arabische Alchemisten durch Rösten von Realgar und Auripigment Arsenoxid (As2O3). Für den Gebrauch als Mordgift eignete sich Arsenik aus drei Gründen besonders gut:
- Schon 100 mg Arsenik können für den Erwachsenen tödlich sein.
Die Substanz lässt sich unauffällig in Speisen und Getränke einarbeiten.
Arsenik war bis 1836, als der Chemiker James Marsh (1794–1846) die nach ihm benannte Probe entwickelt hatte, gerichtsmedizinisch kaum nachzuweisen.
Etwa 50 Jahre später verordnete der Breslauer Arzt Heinrich Lissauer (1861–1891) die von dem englischen Mediziner Thomas Fowler (1736–1801) kreierte Arsenik-Lösung erstmals einer jungen Frau mit akuter Leukämie und erzielte eine deutliche Besserung. Die Anwendung der Fowler’schen Lösung bei verschiedenen Formen von „Blutkrebs“ hielt – trotz der Einführung der zytostatisch wirkenden Antimetaboliten – bis in die 1940/1950er-Jahre an, und geriet dann in Vergessenheit. 1998 berichteten chinesische Ärzte im „New England Journal of Medicine“, dass sie mit 0,06 bis 0,2 mg Arsenik/kg Körpergewicht/Tag eine vollständige Remission der akuten Promyelozytenleukämie erreichen konnten. 2001 erfolgte die Zulassung einer entsprechenden Injektionslösung durch die FDA in den USA, seit Juni 2002 steht Trisenox® (in Anknüpfung an die MBK-Präparate) auch in Deutschland zur Verfügung.
Mitgliederversammlung der DGGPPräsident Prof. Dr. Christoph Friedrich begrüßte die versammelten Mitglieder und trat nach der Totenehrung in die Tagesordnung ein.
Der Präsident dankte Frau Rotraud Mörschner, Berlin, und Dr. Volker Articus, Husum, für die hervorragende Organisation der Biennale.
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Cannabis als Arznei
„Cannabis – eine Rauschdroge macht Karriere als Heilmittel“ war das Thema von Manfred Frankhauser, Langnau/Schweiz. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die medizinische Bedeutung von Cannabis in Europa relativ bescheiden. Dies änderte sich erst, als der in Indien stationierte irische Arzt William O’Shaughnessy im Jahr 1839 eine umfassende Studie über den Indischen Hanf veröffentlichte. Die darin beschriebenen Erfolge bei Rheuma, Starrkrampf, Cholera usw. fanden große Beachtung. Zunächst beschäftigten sich die Franzosen intensiv mit dieser Pflanze, und in den darauf folgenden Jahren erschienen verschiedenste medizinische Arbeiten über Hanf. Im Laufe der Zeit konnte sich die Arzneipflanze in praktisch allen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten etablieren. Neben Frankreich waren es vor allem England, die USA und später auch Deutschland, die dem Heilmittel Cannabis in der westlichen Medizin zum Durchbruch verhalfen. Die Zeit von 1880 bis ca. 1900 kann als eigentlicher Höhepunkt der medizinischen Karriere des Hanfs bezeichnet werden. Verwendet wurde Haschisch vor allem bei Schmerzzuständen (z. B. Migräne), Keuchhusten, Asthma, als Schlaf- und Beruhigungsmittel; daneben diente Cannabisextrakt als Zusatz zu Hühneraugenmitteln. In dieser Zeit befanden sich verschiedenste industriell gefertigte Cannabispräparate auf dem Markt.
Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts verschwanden sie allerdings vollständig. Die Gründe dafür sind die medizinisch-pharmazeutische Entwicklung, die umstrittene Wirksamkeit der Hanfpräparate, wirtschaftliche Aspekte und nicht zuletzt massive rechtliche Einschränkungen, die Mitte des 20. Jahrhunderts in dem internationalen Verbot für Cannabispräparate gipfelten. Dennoch wurde die Cannabisforschung in den letzten 10 bis 15 Jahren stark vorangetrieben. Die Entdeckung der Cannabinoid-Rezeptoren trug dazu bei, dass sich die Pharmazie und Medizin wieder vermehrt der Anwendung von Cannabis zuwenden. So ist Dronabinol in einigen Ländern, auch in Deutschland, für gewisse Indikationen zugelassen.
Ehrungen der DGGPRotraud Mörschner, Berlin, erhielt die Valentin-Medaille in Bronze für ihre langjährige Tätigkeit für die DGGP. Dr. Barbara Rumpf-Lehmann, Marburg, sowie Prof. Dr. Horst Remane, Halle, erhielten die Valentin-Medaille in Silber für ihr wissenschaftliches Lebenswerk. |
Trapidil und Talinolol
Albrecht Einhorn, Berlin, nahm zu den in der DDR hergestellten Arzneimitteln „Trapidil und Talinolol – erfolgreich in der Arzneimittelgeschichte?“ Stellung. Trapidil – in den Jahren 1969/1971 vom Leipziger pharmakologischen Forschungskreis um Fritz Hauschild in Zusammenarbeit mit den Deutschen Hydrierwerken Rodleben (DHW, Sachsen-Anhalt) entwickelt und dort auch synthetisiert – gilt als ein originärer Vertreter der Stoffklasse der Triazolopyrimidin-Derivate mit der Indikation „Koronardilatator“. Als Rocornal 200 mg Kapseln behauptet sich Trapidil bis heute im Markt, wobei der Wirkstoff auch in Japan als führendes Arzneimittel bei ischämischen Herzkrankheiten seinen festen Platz erobert hat.
Talinolol – 1975 vom Arzneimittelwerk Dresden (AWD, Sachsen) zur Therapie von Herz- und Kreislauferkrankungen in den Arzneimittelschatz eingeführt – gehört heute zur Gruppe der selektiven Rezeptorenblocker der zweiten Generation. Entwicklungs- und Synthesearbeiten liefen beim AWD, klinische Forschungen in Dresdner pharmakologischen Einrichtungen. Obwohl im Kontext wachsender Selektivitätsansprüche inzwischen eine große Zahl von Arzneimitteln aus der scheinbar so homogenen Substanzklasse der Adrenozeptoren-Hemmstoffe im Markt ist, behaupten Cordanum 50/ -100 mg-Filmtabletten aufgrund ihrer spezifischen Anwendungskriterien ihren festen Platz im Arzneimittelsortiment. Beide Arzneimittel haben die Hürden von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft genommen und entsprechen den aktuellen gesetzlichen Zulassungskriterien bezüglich pharmazeutischer Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.
Die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen zur Entwicklung von Trapidil, einem „Highlight der DDR-Pharma-Industrie“ (D. Onken u. a., Jena/Rodleben), und Talinolol waren relativ günstig gewesen. Seit Ende der 1970er-Jahre traten in der DDR zunehmend Schwierigkeiten in der Beschaffung von Rohstoffen und Verpackungsmaterialien auf. Es kam zu keinen nennenswerten Originalentwicklungen mehr. Die bedarfsgerechte Versorgungssituation stand im Vordergrund. Arzneimittel von heuteProf. Dr. Hartmud Morck, Marburg, stellte unter dem Titel „Erfolgskriterien für neue Arzneimittel im 21. Jahrhundert“ dar, dass heute – im Gegensatz zu früheren Zeiten – der Nutzen der Arzneimittel zunächst für die GKV, dann für den Hersteller und erst zuletzt für den Patienten festgestellt wird. Die GKV fordert neben einem Preisstopp niedrige Qualitätssicherungskontrollen und eine Reduktion der Preisgestaltung. Die Hersteller, für die der wirtschaftliche Erfolg im Vordergrund steht, beforschen keine Infektionskrankheiten mehr, da nur chronische Krankheiten Geld einbringen. Der Vortragende nannte eine Reihe von Orphan Drugs und Krebsmitteln, die den Herstellern satte Gewinne versprechen, zumal die Forschung oft mit EU-Mitteln gefördert wird.
Das Vortragsprogramm wurde durch die Präsentation von Postern der Marburger Doktoranden der Pharmaziegeschichte ergänzt.
Verfasser: Prof. Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke
wdjahnck@rz-online.de
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