Medizin

Was ist eigentlich ... Autismus?

Eine starke Ich-Bezogenheit und gravierende Störungen im zwischenmenschlichen Verhalten prägen das Krankheitsbild des Autismus. Die vielen Facetten dieser unheilbaren Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung sind in beeindruckender Weise in dem vielfach ausgezeichneten Film "Rainman" dargestellt. Hierin spielt Dustin Hoffman den autistischen Raymond, der von seinem Bruder Charlie (Tom Cruise) aus einer Klinik heraus auf eine lange Reise durch die USA mitgenommen wird.

Schon im Jahr 1911 prägte der Schweizer Psychiater Bleuler den Begriff Autismus. Damit wird "die Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Innenlebens" beschrieben. Allerdings wurde die Bezeichnung "Autismus" damals zur Beschreibung an Schizophrenie Erkrankter gewählt, welche durch starke Selbstbezogenheit und sozialen Rückzug auffielen. Als eigenständige Krankheit wurde Autismus 1943 vom amerikanischen Psychiater Kanner beschrieben. Erst während der 1980er Jahre wurde die Erkrankung als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt.

Autistische Störungen lassen sich in vier Gruppen unterteilen. Neben psychogenem und somatogenem Autismus werden noch das Kanner-Syndrom (frühkindlicher Autismus) und das Asperger-Syndrom unterschieden. Diese beiden Syndrome bilden die Hauptformen des Autismus. Bei allen vier Gruppen steht das gestörte zwischenmenschliche Verhalten und die unzureichende Kommunikation im Vordergrund (siehe Kasten).

Nach internationalen Untersuchungen leiden etwa fünf von 10.000 Menschen an frühkindlichem Autismus. Berücksichtigt man das ganze Spektrum autistischer Störungen, kann man von bis zu 25 Menschen auf 10.000 ausgehen. Jungen sind viermal häufiger betroffen als Mädchen. Bei den autistischen Persönlichkeitsstörungen (Asperger-Syndrom) ist das voll ausgeprägte Bild selten, Störungen leichten Grades scheinen jedoch häufiger vorzukommen als der frühkindliche Autismus, wobei viele Betroffene mit leichten Auffälligkeiten nie Hilfe in Anspruch nehmen. Auch bei diesem Syndrom überwiegt deutlich das männliche Geschlecht.

Suche nachbiologischen Ursachen

Die genaue Ursache ist noch nicht endgültig geklärt. Nachdem lange Zeit Thesen zur Psychogenese der autistischen Störungen dominierten, forscht man in den letzten Jahren intensiv nach biologischen Ursachen.

Sehr wahrscheinlich spielen Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen eine führende Rolle. Entsprechende Hinweise findet man bei rund 60 Prozent der autistischen Kinder. Allerdings bestehen hinsichtlich Entstehungszeitpunkt, Lokalisation und Schwere der Störung noch unterschiedliche Auffassungen. Geburtskomplikationen wie beispielsweise Sauerstoffmangel während der Geburt sind relativ häufig zu finden. Bereits im Säuglingsalter zeigen autistische Kinder neurobiologische Veränderungen. Dazu gehören unter anderem Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, Essstörungen, abnormes Schreien, Störungen der Ausscheidungsfunktionen, Übererregbarkeit etc.

Für die Bedeutung genetischer Faktoren sprechen unter anderem Familien- und Zwillingsstudien. Diese zeigten eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass bei einem autistischen Zwillingskind auch der andere Zwilling betroffen ist. In Zahlen ausgedrückt: Die Wahrscheinlichkeit bei eineiigen Zwillingen beträgt etwa 95,7 Prozent, bei zweieiigen Zwillingen 23,5 Prozent. Molekulargenetische Untersuchungen haben bereits bestimmte Gen-Orte lokalisieren können, welche für die Verursachung des frühkindlichen Autismus maßgeblich sein können. Daraus lässt sich schließen, dass an der Erkrankung mehrere Gene beteiligt sein müssen.

Die Mutter ist nicht schuld

Lange Zeit meinte man, dass das Verhalten der Eltern – insbesondere das der Mutter – eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Autismus spielen würde. Es wurde angenommen, dass die Eltern das Kind ablehnen und sich das Kind deshalb in eine eigene Welt zurückzieht. In dieser Welt ist es vor Enttäuschungen und Verletzungen geschützt. Dagegen sprechen unter anderem die von Geburt an bestehenden neurobiologischen Besonderheiten. Zudem ließ sich nicht nachweisen, dass sich die Eltern autistischer Kinder durch besondere Kälte oder Ablehnung dem Kind gegenüber auszeichnen und schon im frühen Säuglingsalter Symptome zu finden sind, was eher auf biologische Ursachen hinweist.

Viele Autisten haben einen erhöhten Spiegel des Hirnbotenstoffs Serotonin. Dies wird ebenso bei Kindern mit geistiger Behinderung gefunden. Darüber hinaus reagiert das Immunsystem einiger autistischer Kinder auf diesen körpereigenen Stoff mit einer Abwehrreaktion. Auch bezüglich der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin weisen manche Betroffene Auffälligkeiten auf.


Autismus-Formen


Der Autismus zeigt mehrere Unterformen. Je nach Unterform lassen sich charakteristische Symptome erkennen.

Psychogener Autismus

Bei dieser Form kommt es vorwiegend zu Störungen der Kommunikationsfähigkeit mit Anzeichen von emotionaler Gleichgültigkeit und fehlender Initiative.

Somatogener Autismus

Ursache des somatogenen Autismus ist eine schwere Schädigung des Gehirns. Vor der Erfindung von Antibiotika trat diese Erkrankung häufig infolge von Gehirnentzündungen auf. Besonderes Merkmal ist die mangelnde Kontaktfähigkeit; durch eine selbst auferlegte Isolierung von der Umwelt wird diese noch weiter verstärkt.

Kanner-Syndrom (frühkindlicher Autismus)

Bereits in den ersten Lebensmonaten treten Symptome auf. Schon im Säuglingsalter vermeiden die Kranken den Blick- und Körperkontakt. Während beim Asperger-Syndrom (s. u.) die Mitmenschen als störend empfunden werden, scheinen Kinder mit dem Kanner-Syndrom ihre Mitmenschen in ihrer Existenz überhaupt nicht zu erfassen. Je älter die Kinder werden, um so geringer werden die sozialen Beeinträchtigungen. Jedoch bleibt es bei der Kontaktvermeidung, einzig wenige Bezugspersonen werden "anerkannt". Bereits in jungen Jahren werden Kommunikationsschwierigkeiten deutlich. Betroffene Kinder schreien anhaltend und auf immer gleiche Weise. 50 Prozent der Kinder können nie richtig sprechen, die andere Hälfte benötigt sehr lange für die Sprachentwicklung. Diese ist zudem stark beeinträchtigt. Die Intelligenzentwicklung reicht von einer starken Unterentwicklung bis zur geistigen Behinderung. Insbesondere bei diesen Kindern fällt ein starker Hang zu sich wiederholenden Bewegungen auf, auch verletzen die Kinder sich häufig selbst, indem sie sich beißen oder den Kopf anschlagen.

Asperger-Syndrom

Die ersten Symptome treten bereits ab dem zweiten bis dritten Lebensjahr auf. Hervorstechend ist eine reduzierte Kontaktfähigkeit, die erst ab dem Vorschulalter einsetzt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind meist nicht so tief greifend gestört wie beim früher auftretenden Kanner-Syndrom. Die Sprachentwicklung ist verzögert, aber meist ungestört. Die betroffenen Kinder führen Selbstgespräche, die Sprachmelodie ist auffällig und passt sich dem Zuhörer wenig an. Dadurch ist die Kommunikation meist gestört. Lernschwierigkeiten bestehen, die Intelligenz ist meist durchschnittlich oder überdurchschnittlich. Anforderungen oder Einschränkungen führen häufig zu Wutausbrüchen; meistens sind die Kinder humorlos und setzen rücksichtslos ihren Willen durch.

Die Unterscheidung von Kanner- und Asperger-Syndrom ist umstritten.

Unterentwickelte Hirnregionen

Bildgebende Verfahren konnten zeigen, dass bei einem Teil der Autisten bestimmte Hirngebiete unterentwickelt sind, welche im Zusammenhang mit der Sprachentwicklung und dem Sozialverhalten stehen. Das Ausmaß der Hirnveränderungen scheint mit der Schwere der Symptomatik zu korrelieren. Erkrankt eine Schwangere an Röteln, erhöht sich das Risiko, dass das Kind autistische Symptome entwickelt, etwa um das Zehnfache gegenüber einem normalen Schwangerschaftsverlauf.

Eine Vielzahl von Einzelsymptomen

Die Symptome bei Autismus sind je nach Unterform unterschiedlich stark ausgeprägt. Man spricht von autistischen Störungen beziehungsweise Syndromen, weil diese eine Vielzahl von Einzelsymptomen beinhalten. Während diese Syndrome früher zu den Psychosen gerechnet wurden, zählt man sie heute zu den tief greifenden Entwicklungsstörungen. Die Störung beginnt gewöhnlich vor Vollendung des dritten Lebensjahres. Neben frühem Beginn sind als wesentliche Kennzeichen der Erkrankung zu nennen: Qualitative Beeinträchtigungen der zwischenmenschlichen Beziehungen, Beeinträchtigungen der Kommunikation und Phantasie (etwa 50 Prozent lernen niemals sprechen), deutlich eingeschränkte Aktivitäten und Interessen. Weitere Auffälligkeiten sind Probleme mit der Nahrungsaufnahme (beispielsweise Bevorzugen bestimmter Speisen), Schlaf- und Reinlichkeitsprobleme, Aggressivität, selbstverletzendes Verhalten und fehlende Angst vor realen Gefahren. Zusätzlich besteht oft eine Intelligenzminderung. Außerdem kommen häufig neurologische Auffälligkeiten wie beispielsweise Epilepsien vor. Etwa ein Drittel der Erkrankten hat in der Kindheit oder im Jugendalter epileptische Anfälle.

Wie kommt man zur Diagnose "Autismus"?

Wichtig ist die Befragung der Eltern nach entsprechenden Verhaltensauffälligkeiten des Kindes und zur Entwicklung der Symptomatik. Standardisierte Fragebögen sowie Beobachtung des Kindes führen weiter zur entsprechenden Diagnose. Um mögliche organische Veränderungen auszuschließen, ist eine körperliche und neurologisch-psychiatrische Untersuchung notwendig. Weitere Untersuchungen dienen dem Erfassen der Motorik, der Sprache und Intelligenz sowie der Wahrnehmung (Sehen, Hören). Hieraus ergeben sich genauere Informationen über die jeweiligen Defizite und Kompetenzen des Kindes.

Behandlung nach ganzheitlichem Konzept

Die Behandlung beinhaltet sowohl medikamentöse, psychologische, pädagogische als auch soziale Maßnahmen und ist als ganzheitliches Konzept anzusehen. Versucht wird eine Integration und die Ermöglichung eines weitgehend selbstständigen Lebens. Eine völlige Aufhebung der kognitiven und emotionalen Auffälligkeiten ist derzeit nicht möglich, Fortschritte sind aber in allen Entwicklungsbereichen zu verzeichnen. Die Behandlungsdauer der schwerwiegendsten Erkrankungsform betragen nicht Monate, sondern Jahre.

Die Darstellung sämtlicher psychologischer Behandlungsmöglichkeiten würde diesen Artikel sprengen. Sie können im Internet ausführlich nachgelesen werden, zum Beispiel unter www.autismus.de.

Etwas intensiver wird die psychopharmakologische Behandlung dargestellt. Diese kann andere therapeutische Maßnahmen nicht ersetzen. Allerdings zeigte sich, dass eine unterstützende Medikation bei manchen Störungen unverzichtbar ist. Besonders zu nennen sind Angst-, Aggressions- oder Selbstverletzungsstörungen. Benzodiazepine sind als kurzzeitige Krisenintervention bei Anspannung, Erregung, Angst und Aggressionen geeignet. Eine langfristige Anwendung ist aufgrund des Abhängigkeitspotenzials jedoch sorgfältig abzuwägen. Antikonvulsiva (Carbamazepin, Valproat) sind gut geeignet bei krankhaft ausgeprägten Stimmungsschwankungen und bei Störungen der Impulskontrolle, vor allem aggressiven Verhaltensweisen.

Depressive Störungen werden mit Antidepressiva behandelt. Zur Verfügung stehen tri- und tetrazyklische Antidepressiva, welche auf den Noradrenalin- und Serotoninstoffwechsel des Gehirns einwirken. Zusätzlich stehen direkt auf die Serotoninaufnahme zielende Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmstoffe (SSRI) zur Verfügung. Neuroleptika sind wohl die am häufigsten eingesetzten Psychopharmaka bei Menschen mit geistiger Behinderung. Neuere Neuroleptika (z. B. Risperidon, Olanzapin, Quetiapin) haben ein geringeres Nebenwirkungsrisiko bezüglich extrapyramidaler Nebenwirkungen.

Verhaltenstraining mit Belohnung

Insbesondere das Sozialverhalten des Kindes soll verbessert werden. Bei der psychologischen Behandlung autistischer Kinder wird jedes erwünschte Verhalten mit Belohnungen wie Lob, (Lieblings-)schokolade oder -spielsachen gearbeitet. Eltern werden mit einbezogen, da dadurch die Beziehung zu den Eltern verbessert werden kann. Es wird darauf geachtet, dass das Lernen in kleinen Schritten erfolgt. Auch kleinste Fortschritte können dadurch belohnt werden. Bei autoaggressivem Verhalten werden Strafen wie beispielsweise Wegnehmen des geliebten Spielzeugs eingesetzt. Bestrafungen sollten jedoch nur die Ausnahme sein, da sonst die Versuche, zwischenmenschliches Vertrauen aufzubauen, wenig vielversprechend sind. Musik- oder Kunsttherapien oder Therapien mit Tieren (Delfinen, Pferden) sind fallweise hilfreich, sollten aber nur ein Teil des Behandlungsplans sein.

Der Autismus erreicht in der Kindheit seinen Höhepunkt und nimmt danach meist ab. Es handelt sich aber um eine chronische Störung; eine vollständige Normalisierung ist sehr selten. Patienten mit Asperger-Syndrom können aufgrund ihrer guten geistigen Fähigkeiten meist ein relativ normales und selbstständiges Leben führen, bleiben meistens jedoch stark isoliert und erfordern von ihren Angehörigen große Toleranz. Andere Autisten benötigen meist eine starke Unterstützung bei der Lebensführung, die Aussichten hier sind weniger günstig.


Internet-Tipps


www.autismus.de Website des Vereins Autismus Deutschland e.V. mit hochkarätigen Informationen

http://behinderung.org/autismus.htm Früherkennung und Frühförderung von kindlichem Autismus

Literatur beim Verfasser


Anschrift des Verfassers
Dr. Ingo Blank
Burgenstraße 33
71116 Gärtringen

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