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Mythos Deregulierung

Dr. Christian Rotta

Hatten Sie auch Lust auf Lernen? Über dreitausendvierhundert Apothekerinnen und Apotheker, PTAs und PKAs konnte der Deutsche Apotheker Verlag am letzten Wochenende auf seiner diesjährigen Interpharm, dem größten pharmazeutischen Fortbildungskongress in Deutschland, begrüßen. Stuttgart war eine Reise wert. Geboten wurde – kompakt an drei Tagen – Fortbildung der Spitzen-Klasse. Wer nicht mit dabei war, hat etwas verpasst!

In dieser DAZ berichten wir ausführlich über die wirtschaftlichen und politischen Themen der Interpharm. Die Veranstaltungen waren naturgemäß von den aktuellen Debatten zum apothekenrechtlichen Fremd- und Mehrbesitz geprägt. Wie ein Damoklesschwert schwebte der Richterspruch des Europäischen Gerichtshofs, der Anfang/Mitte 2009 erwartet wird, über den Vorträgen, Seminaren und Diskussionsrunden. Dabei zeigte sich einmal mehr: Die Interpharm hat sich inzwischen auch zu einem quirligen berufspolitischen Forum entwickelt. Mit Fritz Oesterle (Celesio) und Ralf Däinghaus (DocMorris) fanden dieses Jahr gleich zwei erklärte Freunde des Fremdbesitzes den Weg zur Interpharm – "ins pharmazeutische Feindesland", wie der Celesio-Chef anmerkte. Dass die beiden mit ihren Ausführungen beim Auditorium nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen würden, war zu erwarten. Nichtsdestotrotz ist es nützlich, miteinander zu reden und im (Streit-)Gespräch zu bleiben. Denn was Oesterle/Däinghaus in Stuttgart zu sagen hatten, war durchaus bemerkenswert: Zum Beispiel, dass Celesio/Gehe in Sachen Fremd- und Mehrbesitzverbot schon lange nicht mehr "vom europäischen Recht getrieben werden", sondern ihrerseits aktiv für eine "Liberalisierung" der Apothekenmärkte in Europa mobilisieren. Niemand wisse schließlich, wie der Europäische Gerichtshof in Sachen Fremd- und Mehrbesitzverbot in Deutschland entscheide! Hoppla. Das klang schon einmal anders!

Deutlich wurde in Stuttgart auch, wie tief bei Oesterle der Stachel sitzt, dass er von der obersten Standespolitik weiterhin als persona non grata behandelt wird. Wolf und Linz meiden nach wie vor jeden Kontakt zu ihm. Ist das der Grund, warum sich der Celesio-Lenker inzwischen auf andere Gesprächspartner konzentriert: auf die schwarz-gelb-grüne Jens Spahn/Jorgo Chatzimarkakis/Biggi Bender-Ketten-Connection, die EU-Kommission und eine Schar – insbesondere christlich-demokratischer – Europaabgeordneter, die das deutsche Apothekenrecht aufmischen wollen? Sie alle eint, dass sie ihr gesundheitspolitisches Heil in einer weitreichenden "Liberalisierung" und "Deregulierung" des Gesundheitsbereichs und der Heilberufe sehen. Dabei soll der Fall des Fremd- und Mehrbesitzverbotes nur eine Zwischenetappe auf dem Weg zu einer noch bedenkenloseren Kommerzialisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens insgesamt sein. Das Ziel scheint klar: vertikal integrierte Arzneimittelkonzerne von der Arzneimittelherstellung in konzerneigenen Pharmaunternehmen bis zur Arzneimittelabgabe in konzerneigenen Kettenapotheken. Unabhängige und heilberuflich orientierte Apotheken, bei denen die pharmazeutisch-wirtschaftliche Verantwortung in einer Hand liegt, sind dabei nur störend.

Schade, dass weder Oesterle noch Däinghaus den Interpharm-Festvortrag von Heribert Prantl hören konnten. Prantl, Ressortleiter Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung und – ebenso wie Oesterle – promovierter Jurist, gelang es auf beeindruckende Art und Weise, die aktuellen Deregulierungsdebatten in einen politisch-ethischen Kontext zu stellen. Die Botschaft Prantls: Gesundheit ist kein marktkompatibles Gut und die dortige Entfesselung eines ungehemmten (Preis-)Wettbewerbs geht meist einher mit einer Geringschätzung und Diskreditierung des Sozialstaates, ja des Sozialen insgesamt. So gesehen führt die heilberuflich orientierte Pharmazie aktuell eine Auseinandersetzung pars pro toto. Und noch etwas wurde bei den Ausführungen Prantls deutlich: Der Kampf um Konzepte und Inhalte ist immer auch ein Kampf um Worte und Begriffe. Und da müssen wir uns an die eigene Nase fassen: Wie knöchern kommt unsere Rede vom "Apothekenmonopol" oder vom apothekenrechtlichen "Fremd- und Mehrbesitzverbot" daher – und wie harmlos klingen die Schalmaienklänge einer "Liberalisierung" und "Deregulierung" des Gesundheitswesens …

Immerhin: Inzwischen scheint der "Liberalisierungs"-Hype in der politischen Debatte (samt veröffentlichter Meinung) seinen Höhepunkt überschritten zu haben. Der Mythos Deregulierung bröckelt. Aber ob das Umdenken die Köpfe unserer europäischen Richter noch rechtzeitig erreicht? Es sollte niemand so naiv sein zu glauben, dass der merkantile Kältestrom anonymer Kapital- und Shareholder-Value-Interessen ohne Auswirkungen auf eine humane und soziale Gesundheitspolitik bleiben kann. Weiter kämpfen lohnt sich also. Noch sind die Würfel nicht gefallen. Wer das Gegenteil behauptet, sagt die Unwahrheit.


Dr. Christian Rotta

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