Pflegewissenschaft

Komplexe Medikamentenregime

Eine Herausforderung für alle Beteiligten
Von Lisa Wessels und Udo Puteanus

Wie beurteilen Pflegewissenschaftler den Erfolg von Beratung durch Ärzte und Apotheker bei Patienten, die viele verschiedene Arzneimittel einnehmen müssen und pflegebedürftig sind? Was sollten die Pflegekräfte leisten? Mit diesen Fragen befasst sich eine Arbeitsgruppe des Institutes für Pflegewissenschaften an der Universität Bielefeld (IPW). Im Rahmen des Forschungsprojektes "Bewältigung komplexer Medikamentenregime bei chronischen Erkrankungen" wurden Angehörige der unterschiedlichen Berufsgruppen sowie Patienten interviewt. Eines der Ergebnisse: die Kommunikation unter den beteiligten Berufsgruppen sowie mit den Patienten muss verbessert werden.

 

Oftmals werden Patienten abrupt mit der Diagnose ihrer Erkrankung konfrontiert. Dies bedeutet einen tiefen Einschnitt in ihr Leben und die Lebensplanung. Das Thema Medikation berührt sie zu diesem Zeitpunkt zunächst nur am Rande, gedanklich setzen sie sich eher mit der für sie neuen Situation auseinander. Nach Erkenntnissen der Pflegewissenschaftler bei der Analyse einzelner Phasen der Krankheitsbewältigung durch chronisch Kranke begeben sich verunsicherte Patienten meist in eine passive Rolle, in der Hoffnung auf eine wirksame Therapie durch den behandelnden Arzt. Durch anfängliche Überforderung sind viele nicht in der Lage, ärztliche Informationen aufzunehmen. Auch mit der korrekten Arzneimitteleinnahme sind viele Patienten zunächst überfordert.

In der Phase der Restabilisierung, die durch eine Besserung der Erkrankung gekennzeichnet sein kann oder in der sich die Patienten vielleicht schon in die neue Situation eingerichtet haben, zeigt sich oftmals eine verstärkte Motivation, die Therapie des Arztes anzunehmen (verbessertes Adhärenzverhalten*).

* Da "compliance" Elemente der Fügsam- und Unterwürfigkeit beinhaltet, die mit der Selbstbestimmung des Patienten in Konflikt treten, wird "compliance" im angelsächsischen Sprachraum zunehmend durch die Begriffe "adherence" (Adhärenz: an der Verordnung festhalten) und/oder "concordance" (Konkordanz: Übereinstimmung) ersetzt.

Manche Patienten setzen sich dabei mit hohen Anforderungen an sich selbst massiv unter Druck, um schnell zur Normalität zurück zu gelangen. Dies gilt vor allem für jüngere Patienten, die man nach den Erkenntnissen der Untersuchung eher in der Gruppe der an AIDS erkrankten Patienten als bei an einer koronaren Herzkrankheit Erkrankten (KHK-Erkrankten) antrifft.

Nach ersten Therapieerfolgen, möglicherweise nach Herabsetzung der Dosis, hoffen Patienten oftmals auf eine vorübergehende Medikation, die Chronizität der Erkrankung ist ihnen nicht immer bewusst. Patienten bemühen sich, mit der zurückliegenden Krise im Hinterkopf ihren Lebensstil den Umständen anzupassen und setzen sich teilweise intensiv mit ihrer Erkrankung auseinander.

Das angeeignete Selbstmanagement vieler Patienten erfährt oft eine Irritation, wenn es zu einem Medikationswechsel kommt, sei es bei aut-idem-Fällen, sei es bei Umstellung der Medikation oder bei Komplexitätssteigerung der Therapie durch einen instabilen Krankheitsverlauf. Eine sehr konfliktlastige Situation kann entstehen, wenn Patienten mittlerweile durch ihre Erfahrungen und durch ihr angeeignetes Wissen eine aktivere Rolle einnehmen, der Arzt und auch der Apotheker sie jedoch weiterhin in ihrer passiven Rolle sehen und in teils lebensfremde Therapieentscheidungen nicht mit einbeziehen. Dies ruft zusätzlich zur Frustration über geringe Medikationserfolge eine Art Widerwillen und Erschöpfung hervor. Aus den Interviews erfuhren die Wissenschaftler, dass Patienten zum Teil eigenmächtig in ihrer Medikation variieren und somit Risiken eingehen, um eine Anpassung an ihre Lebenswirklichkeit und Kontrolle über den Verlauf ihrer Krankheit zu erlangen.

Kommunikationsdefizite bei allen Professionen

Deutlich wurde, wie wichtig es ist, die Lebensumstände und Lebenslagen des einzelnen Patienten zu kennen und die Signale zu verstehen, die die Patienten mehr oder weniger bewusst aussenden. Ängste und Befürchtungen, die durch nutzerunfreundliche Beipackzettel und abschreckende Nebenwirkungen geschürt werden, verbindet der Patient oftmals mit persönlichen Lebenserfahrungen. Diese Verbindungen gilt es zu erkennen, soll der Patient in die Lage versetzt werden, seine Medikation aktiv selbst in die Hand zu nehmen. Hier konnten Defizite bei allen Berufsgruppen festgestellt werden.

Ärzte konzentrieren sich aufgrund des Zeitdrucks häufig auf medizinische Aspekte. Ihnen fällt es nicht immer leicht, eine gemeinsame Sprache zu finden und die richtige Vermittlungsstrategie zu ergreifen, sodass Probleme im Patientenalltag weitab von Klinik oder Arztpraxis nicht ausreichend thematisiert werden. Ärzte scheinen nach Erkenntnissen der Pflegewissenschaftler folglich allein keine geeignete Instanz zur Integration von Medikamentenregime in das Patientenleben zu sein. Nach Meinung der Pflegewissenschaftler könnten gerade Apotheker eine wichtige Schnittstelle sein, da Verordnungen verschiedener Ärzte hier zusammenlaufen. Außerdem erfahren sie oftmals als erste, wenn der Patient die gewohnte Medikation in Frage stellt und sich z. B. nach alternativen Heilungswegen erkundigt.

Doch in der Apotheke werden die Signale des Patienten ebenfalls häufig nicht richtig verstanden. Denn auch das Apothekenpersonal hat meist nur eine geringe Vorstellung von den Lebensumständen und Lebenslagen, in die die Medikation eingebunden werden muss. Hinzu kommt, dass die Apotheke eher als öffentlicher Verkaufsraum wahrgenommen wird, dem es an Diskretion fehlt.

Die Forscher konnten durch die Interviews feststellen, dass Apotheker aus den Alltagsschilderungen ihrer Patienten oft keine Fragestellungen zur Medikation herausfiltern konnten. Sie hören zwar den Patienten an, hören ihm aber nicht aktiv zu. Dazu bedarf es einer Verbesserung der kommunikativen Kompetenz und einer differenzierteren Problemwahrnehmung.

Vergleichbare Probleme konnten die Pflegewissenschaftler im Rahmen ihrer Forschung auch bei den Pflegekräften feststellen. Durch unmittelbare Arbeit mit dem Patienten in seinem häuslichen Umfeld haben Pflegekräfte zwar den intimsten Zugang zum Lebensraum des Patienten, doch konzentrieren sie sich durch finanzielle und zeitliche Rahmenbedingungen auf die pflegerische Grundversorgung. Außerdem sind sie in Arzneimittelfragen und im Bereich kommunikativer Kompetenz nicht genügend ausgebildet.

Professionelle Zusammenarbeit ist notwendig

Wichtig ist ein kontinuierlicher Informationsaustausch zwischen dem Patienten und den einzelnen betreuenden Berufsgruppen. Notwendig ist aber nach Erkenntnissen der Pflegewissenschaftler auch die vertrauensvolle Kommunikation unter den beteiligten Berufsgruppen im Sinne eines professionsübergreifenden Betreuungsnetzes, um zu gewährleisten, dass das jeweilige spezifische Fachwissen optimal genutzt wird. Hier verzeichnen sie derzeit noch große Defizite.

In einem zweiten Teil des bis 2010 angelegten Forschungsprojektes werden Pflegekräfte speziell in edukativen und kommunikativen Techniken geschult, um Patienten mit komplexen Medikamentenregimen in die Lage zu versetzen, ihre Medikation mehr und mehr selbst in die Hand zu nehmen. Denn der erlernte aktive Umgang des Patienten mit seiner Erkrankung und seiner Therapie führt am ehesten zu einem Therapieerfolg – so die These der Pflegewissenschaftler. Die Kompetenzerweiterung der Pflegekräfte soll hierbei ein wichtiger Schritt zur Erhöhung der Versorgungsqualität sein. Dies sei auch notwendig, um mit den anderen beteiligten Berufsgruppen, wie mit Ärzten und Apothekern, auf gleicher Augenhöhe zum Nutzen des Patienten zusammenarbeiten zu können.

 

Quellen:

Autoren:

Lisa Wessels, 
Von-Stauffenberg-Str. 47, 
48151 Münster

 

Dr. Udo Puteanus, Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit NRW, Von-Stauffenberg-Straße 36, 48151 Münster, Tel. (02 51) 77 93-2 18, E-Mail Udo.Puteanus@liga.nrw.de

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