Geschichte

Absinth – die grüne Fee

Von Peter Schmersahl | Das Modegetränk der Künstler von Montmartre1 – Die unscheinbar gelblich blühende Heilpflanze Wermut (Artemisia absinthium) gehört nicht zu den Pflanzen, die aufgrund ihrer Schönheit von den Malern bevorzugt abgebildet worden sind, wie z. B. die Lilie oder der Mohn. Es war nicht die Pflanze selbst, sondern das mit ihrem ätherischen Öl zubereitete alkoholische Getränk, der Absinth, der etwa ein halbes Jahrhundert lang von vielen Künstlern¹ besonders geschätzt wurde auch die liebevolle Bezeichnung "grüne Fee" deutet darauf hin. Die Künstler haben jedoch auch die krank und süchtig machende Wirkung des Absinths an sich und ihren Mitmenschen wahrgenommen und in ihren Werken verarbeitet. In Romanen und Bildern haben sie die Vereinsamung, Isolation und den gesellschaftlichen Abstieg des Absinthtrinkers und noch häufiger der Absinthtrinkerin dargestellt.  


Die Absinth-Ära

Von jeher haben Künstler gehofft, durch gewisse Mittel ihre Eingebungskraft steigern und ihr Bewusstsein erweitern zu können. Viele haben deshalb Erfahrungen mit Haschisch, Opium oder Alkohol gesammelt; als neue viel versprechende Droge kam im 19. Jahrhundert der Absinth hinzu. Es war ein Krieg, der die Absinth-Ära in Gang setzte, und ein Krieg war es auch, der sie beendete.

Im Algerienkrieg (1830–1847) haben die Franzosen Absinth als vermeintlich desinfizierendes und fiebersenkendes Mittel zur Prophylaxe gegen Ruhr und Malaria² breit eingesetzt. Die siegreichen Truppen brachten den Absinth dann nach Frankreich, wo er als Aperitif bzw. Likör schnell zum Kultgetränk avancierte. Im Laufe der Jahre nahm der Konsum beängstigende Formen an. Weite Kreise befürchteten wegen seines hohen Alkoholgehalts (50–70%) und seiner spezifischen giftigen und süchtig machenden Inhaltsstoffe eine Zersetzung von Gesundheit und Moral der bisher Wein trinkenden französischen Bevölkerung.

Im Jahr 1872 wurde in Frankreich die Société de temperance, eine Vereinigung gegen den Alkoholmissbrauch, gegründet [23]. Sie war lediglich auf das Verbot von Absinth fixiert und kämpfte dafür Seite an Seite mit den Weinbauern und Weinhändlern, denn Wein galt in Frankreich als sakrosankt, und auch sein übermäßiger Genuss stand nicht zur Debatte. Es dauerte dann allerdings noch Jahrzehnte, bis Absinth 1915, im 1. Weltkrieg, auf Betreiben der französischen Generalität verboten wurde. Einer der Gründe für das lange Zögern der Regierung war der mit dem Verbot einhergehende enorme Steuerausfall [37]. Der Firma Pernod erwuchsen aus dem Verbot keine Schwierigkeiten, weil sie an Stelle von Absinth den noch heute bekannten Pastis (auch einfach als Pernod bezeichnet) mit vorherrschendem Anisgeschmack auf den Markt brachte.

Deutschland, wo der Absinthkonsum immer unbedeutend gewesen war, folgte 1923 mit einem Verbot; die meisten europäischen Länder hatten die Herstellung und den Absinthkonsum damals bereits untersagt oder folgten wenige Zeit später. In Spanien, Portugal, England und der Tschechoslowakei hingegen wurde nie ein Absinthverbot ausgesprochen. Aktualität erhält das Thema dadurch, dass das Absinthverbot in der gesamten EU 1998 aufgehoben wurde. Seither wird Absinth, insbesondere über das Internet, intensiv angeboten und beworben; auch wenden sich seit kurzem wieder Künstler dem Thema Absinth zu. Es bleibt abzuwarten, ob die "grüne Fee" noch einmal zum Kultgetränk avanciert.

ABB. 1: LEONHART FUCHS: Wermut, kolorierter Holzschnitt im Kräuterbuch des Leonhart Fuchs, 1543 [17].

 

Eine alte Heilpflanze

Wermut (Artemisia absinthium), der schon im Altertum als Heilpflanze bekannt war, gehört zur Familie der Korbblütler (Asteraceae). Eine seiner ältesten Abbildungen findet sich in dem berühmten Kräuterbuch des Leonhart Fuchs (Abb. 1; [17]). Den deutschen Namen erklärte Fuchs damit, dass Wermut wegen seiner Bitterkeit freud und mut weret und vertreibt. Auch die griechische Bezeichnung "absinthion" soll mit dem bitteren Geschmack zusammenhängen; sie wird als "der Süße beraubt" (auch: untrinkbar) gedeutet.

Einen Hinweis auf den mythologischen Ursprung des Gattungsnamen Artemisia gibt der Herbarius des Pseudo-Apuleius Platonicus (4. Jh. n. Chr.). Demnach hat Artemisia als Göttin der Jagd und – hier bedeutender – als Schutzgöttin für die Geburt und die werdenden Mütter die guten Eigenschaften dieses Krautes als Arznei entdeckt und dem Zentauren Chiron zur Weitergabe an die Menschen übermittelt. Nach der griechischen Mythologie verfügte Chiron über besondere Kenntnisse in der Jagd und in der Heilkunde (Abb. 2).

Es gibt eine Reihe von Synonyma für Wermut, z. B. "bitterer Beifuß" zur Abgrenzung von dem botanisch eng verwandten, aber geschmacklich neutralen Beifuß (Artemisia vulgaris) oder Bezeichnungen, die auf die Anwendung als Stomachikum und als Wurmmittel hinweisen: Heilbitter, Magenkraut, Wurmkraut – im Englischen heißt Wermut übrigens "wormwood".

Wermut kommt besonders im Mittelmeerraum vor und zählt – obgleich fast einen Meter hoch – wegen seiner winzigen, wenig auffallenden kugeligen gelblichen Blütenköpfchen nicht zu den besonders attraktiv aussehenden Pflanzen; hinzu kommt, dass Stängel und Blätter von einer Vielzahl kleiner Haare überzogen sind, wodurch die ganze Pflanze einen Grauschimmer erhält. Was dem Wermut an Schönheit fehlt, wird durch eine Vielzahl von medizinisch interessanten Inhaltsstoffen wettgemacht, sodass er zu Recht von jeher als wichtige Heilpflanze angesehen wurde.

ABB. 2: PSEUDO-APULEIUS: Artemis reicht dem Zentauren Chiron die Heilpflanze Artemisia. „Herbarius“ des Pseudo-Apuleius Platonicus (4. Jh. n. Chr., auch Apuleius Barbaros genannt, nicht zu verwechseln mit Lucius Apuleius aus dem 2. Jh. n. Chr.). Die abgebildete Handschrift stammt aus dem 11. Jh. und gehörte dem englischen Astrologen, Alchemisten und Botaniker Elias Ashmole (1617–1692) [38].

Absinth und Wermutwein

Von der Bezeichnung "Wermut" für die Pflanze muss "Absinth" als ein hauptsächlich aus dem ätherischen Öl der Pflanze gewonnenes alkoholisches Getränk unterschieden werden. Dabei kommt es häufig deswegen zur Verwirrung der Begriffe, weil im Französischen die Pflanze und das Getränk gleichlautend "absinthe" heißen (ebenso im Italienischen: assenzio; im Spanischen: ajenjo). Der aus Extrakten der Pflanze – nicht aus dem ätherischen Öl – gewonnene Wermutwein (im italienischen und französischen gleichlautend mit Vermouth bezeichnet) wird oft inkorrekt einfach als Wermut bezeichnet, was zu einer weiteren Verwirrung beiträgt.

Wermut bei den Klassikern der Kräuterkunde

Wenn man alte Kräuterbücher – wie z. B. die von Leonhart Fuchs [17], Hieronymus Bock [5] und Otto Brunsfeld [7] – aufschlägt, findet man bei fast allen Heilpflanzen eine schier unglaubliche Anzahl von Krankheiten, bei denen die Heilkräuter wirksam sein sollen. Dies gilt auch für den Wermut, von dem Bock [5] schreibt: der Weronmut ist ein bewert unnd berhümt gewächs / byenahe zu allen Presten des innwendigen und Eusserlichen Leibs.

Auch Hildegard von Bingen (1098–1179) sieht im Wermut ein Allheilmittel und empfiehlt ihn in ihrer Physica (I, 109) als den wichtigsten Meister gegen alle Erschöpfungen; sie erwähnt Wermut aber auch bereits als spezifisches Mittel gegen Magen-Darm-Beschwerden. Aus heutiger Sicht sind aus der Vielfalt der damaligen Heilanzeigen besonders diejenigen interessant, die unter modernen wissenschaftlichen Gesichtspunkten [26] anerkannt werden, nämlich

  • Magen-, Darm- und Gallenbeschwerden,
  • Appetitlosigkeit.

So lesen wir in diesem Zusammenhang im Kräuterbuch des Leonhart Fuchs aus dem Jahre 1543: Der Wermutwein bekompt treffentlich wol dem magen / dan er stercket sein dewung (Verdauung) / macht auch lust zu essen. ... Ist gut den lebersüchtigen und geelsüchtigen / auch den so würm haben.

Bei Hieronymus Bock heißt es in der Ausgabe von 1577: Wermut kraut oder blümen in Speiß oder Tranck genützet / bekompt wol de Magen / macht dawen / erwörmet den leib / stillet schmertzen / treibet aus allerhand gifft unnd Gallen / so im leib sich ein zeit lang gesamlet haben. Hinsichtlich der Wirkung auf die Galle behauptet Hieronymus Bock sogar, dass Vihe welches von Veronmut geweidet oder gespeiset / sey ohne Galle.

Tabernaemontanus [43] schließlich schreibt, dass Wermut ein wirksames und kostengünstiges Mittel gegen zornige und böse gallsüchtige Weiber sei die jhren leib mit stätigem zörnen und überlaufener Galle kräncken / und mancherley Krankheyt und gefahr bringen / welche Mängel dann ohn sonderlichen kosten leichlich kömdten gewendet / und hinweggenommen werden [11].

Eine der ältesten Erwähnungen von Wermut als Heilpflanze finden wir in dem berühmten Werk De Materia Medica des Griechen Dioskurides (1. Jh. n. Chr. [14]); auch hier wird bereits auf die Anwendung bei Magen- und Bauchschmerzen und bei Blähungen hingewiesen.

Inhaltsstoffe des Wermuts

Von den Inhaltsstoffen des Wermuts sind an erster Stelle die Bitterstoffe zu nennen. Sie vor allem kennzeichnen die Pflanze, und schon früh wurde der Wermut als Symbol für die Bitterkeit auch im übertragenden Sinne verwendet. Der wichtigste Stoff ist das Sesquiterpenlacton Absinthin. Es besitzt einen Bitterwert von 12,7 Millionen, d. h., dass die Substanz noch in einer Verdünnung von 1:12,7 Millionen deutlich bitter schmeckt. Dieser Bitterwert wird im Pflanzenreich nur noch von dem Amarogentin des Enzians übertroffen (1 : 20 Mio. [41]). Es erscheint nicht verwunderlich, dass eher der Wermut und nicht der Enzian im Bewusstsein des Volkes als bitter galt und symbolische Verwendung gefunden hat; beim Wermut finden sich die Bitterstoffe nämlich im gesamten Kraut – vornehmlich sogar in den Blatthaaren [6] – während beim Enzian hauptsächlich die Wurzel bitter schmeckt.

Ein weiterer wichtiger Inhaltsstoff des Wermuts – von besonderer Bedeutung für das alkoholische Getränk Absinth – ist das im ätherischen Öl enthaltene Monoterpen Thujon. Es gilt als das eigentlich giftige Prinzip des Wermuts [40] und liegt in zwei stereoisomeren Formen vor, von denen das α-Isomer zehnmal toxischer ist als das β-Isomer [29]. Dekokte des Wermuts enthalten das in Wasser nicht lösliche Thujon nur in Spuren. Erst durch die Anwendung der Wasserdampfdestillation, die seit dem 16. Jahrhundert bekannt war, erhielt man thujonreiche Extrakte.

Der Name Thujon ist vom Lebensbaum (Thuja occidentalis) abgeleitet, wo man es erstmalig gefunden hat. Es ist auch in den mit dem Wermut nah verwandten Arten Beifuß (s. o.) und Rainfarn (Tanacetum vulgare ) enthalten sowie im Salbei (Salvia officinalis).

Symbolische Bedeutung des Wermuts

Der bittere Geschmack von Wermut war so sehr im Bewusstsein des Volkes verwurzelt, dass die Pflanze schon im Altertum und im Mittelalter ein Symbol für die Bitterkeit des Lebens war. Oft wird bei den Gleichnissen als Gegensatz der Bitterkeit die Süße genannt, mit dem Hinweis, dass schon in den Freuden des Lebens ein bitterer Keim angelegt ist.

Im Alten Testament wird Wermut mehrmals als Symbol erwähnt. Ein typisches Beispiel (Sprüche 5,4) ist die Aufforderung, nur eine Frau aus dem eigenen Stamm zu heiraten und nicht etwa eine Fremde: Denn von Honigseim triefen die Lippen der Fremden und glätter als Öl ist ihr Gaumen. Aber zuletzt ist sie bitter wie Wermut, scharf wie ein zweischneidiges Schwert. 

Hierzu passt der sarkastische Ausspruch von Voltaire: Der erste Monat nach der Heirat ist der Honigmond, der zweite ist der Absinthmond.

Im Neuen Testament wird in der Offenbarung des Johannes (8,10–11) auf die Tod bringende Bitterkeit des Wermut symbolisch Bezug genommen (Stern Absinth, s. Abb. 3). Auch Francesco Petrarca (Trionfi, II, 45) bringt den Tod in die Nähe von Wermut: la morte amara più ch'assenzio (der Tod bitterer als Wermut).

Ein weiteres Beispiel, in dem Wermut als Symbol für die Bitterkeit (amaritudo) – verwoben mit der Süße – steht, findet sich in der "Iconologia" von Ripa [39]: Eine Frau hält in ihrem Schoß eine große runde Honigwabe, aus der ein Wermut wächst. Das italienische Sprichwort Speranza è un certo mel misto d'assenzio (Hoffnung ist eine Art Honig, versetzt mit Wermut) hat gleiche symbolische Bedeutung [31].

Nach Plinius d. Ä. (23–79 n. Chr.) erhielt der siegreiche Wagenlenker als Trophäe einen mit Wein gefüllten Pokal; dieser (früher immer süße) Wein war zuvor durch Zugabe von Wermutblättern bitter gemacht worden, um den Sieger daran zu erinnern, dass bei jedem Sieg auch ein bitterer Aspekt vorhanden ist. Noch heute sagen wir ein Wermutstropfen im Becher Wein, wenn wir etwas Wehmütiges oder Unangenehmes im Augenblick der Freude andeuten. Eine besondere Wertschätzung erfährt der Wermut im Buddhismus; er gehört zu den acht höchsten Kostbarkeiten. In China erhalten die buddhistischen Novizen bei Inaugurationsriten mit glimmenden Artemisia-Blättern sieben Brandmale auf den Hinterkopf als Zeichen ihrer Einweihung [3, 4].
 

ABB. 3: NICOLAS BATAILLE: Apokalypse – der Stern Absinth. Wandteppich, 1375–80. Château d’Angers.

Herstellung von Absinth

Durch Wasserdampfdestillation wird aus den getrockneten Blüten und Zweigspitzen der Wermutpflanze das dunkelgrüne, extrem bitter schmeckende Wermutöl gewonnen. Üblicherweise werden ihm Extrakte weiterer Kräuter wie Fenchel, Ysop, Melisse und insbesondere Anis zugesetzt [1]. Anschließend wird das Extraktgemisch in hochprozentigem Alkohol (50–70%) gelöst. Die grüne Farbe resultiert aus dem im Extrakt vorhandenen Chlorophyll; früher wurden zur Verstärkung der grünen Farbe gesundheitlich nicht unbedenkliche Zusätze wie Kupfersulfat, Anilingrün oder Indigo verwendet sowie Antimonsalze zur Beschleunigung der beim Verdünnen mit Wasser auftretenden gewünschten Trübung hinzugefügt [11].

Die wichtigste Fabrik zur Herstellung von Absinth war die anfangs in der Schweiz und später in Pontarlier im französischen Jura nahe der Schweizer Grenze gelegene Firma Pernod Fils; auf dem Höhepunkt des Absinthkonsums Anfang des 20. Jahrhunderts produzierte Pernod Fils 100.000 Liter Absinth pro Tag. Heute ist die Fa. Pernod nach Fusion mit der Fa. Ricard der zweitgrößte Spirituosenkonzern der Welt. Wegen unterschiedlicher Herstellungsarten kann man den Thujongehalt des klassischen Absinths retrospektiv nur vage abschätzen: etwa 100 mg oder 200 mg Thujon pro kg Absinth [11, 45].

Zeremonie des Trinkens

Ein Erfolgsfaktor für die Verbreitung des Absinthtrinkens war sicherlich die damit einhergehende Zeremonie mit dem speziellen Zubehör: In ein Absinthglas goss man etwa 2 cl Absinth, dann legte man auf einen mit Löchern versehenen Absinthlöffel ein oder zwei Stück Würfelzucker, hielt ihn über das Glas und übergoss ihn vorsichtig mit kaltem Wasser, das mit dem aufgelösten Zucker in das Glas träufelte. Der Würfelzucker kann aber auch mit Absinth getränkt und anschließend angezündet werden, bis er karamellisiert und ins Glas tropft.

Schließlich gießt man bei beiden Ritualen eisgekühltes Wasser bis zur individuell gewünschten Verdünnung hinzu – in einigen Restaurants gab es dafür besondere Wassergefäße mit einem Wasserhahn (fontaines à absinthe). Nach der Zugabe von Wasser werden die darin nicht löslichen Inhaltstoffe des Absinth ausgefällt, sodass eine weißlich-gelbe opaleszierende Trübung entsteht; gleichzeitig entwickelt sich dabei ein umfangreiches Duftbukett, das man angeblich zur l'heure verte in den Boulevards von Paris riechen konnte. Der Absinth wirkte auch deswegen so stark, weil er als Aperitif auf nüchternen Magen getrunken wurde.

Manche Absinthtrinker verdünnten den Absinth nicht mit Wasser, sondern mischten ihn mit weiteren Alkoholika (s. u. bei Toulouse-Lautrec). Hemingway nannte seinen bevorzugten Cocktail – Absinth plus Champagner auf Eis – nach seiner eigenen Erzählung Death in the afternoon.

Absinth als soziales Problem

Nachdem ab 1880 die Weinpreise wegen des Befalls der Weinreben mit Mehltau stark angestiegen waren und gleichzeitig der Preis für Absinth durch die Massenproduktion und durch die Verwendung billigerer Industriealkohole (z. B. aus Zuckerrohr oder Getreide) gesunken waren, fand der Absinth auch in den Armenvierteln von Paris Anklang. Er wurde nicht nur in den Cafés und Restaurants getrunken, sondern auch in den neu entstehenden Brasserien, in denen, im Gegensatz zum Café, Bier ausgeschenkt wurde und das Rauchen erlaubt war.

Gegen 1860 wurden in den Brasserien erstmals Frauen als Bedienung angestellt, die die männlichen Kunden zu möglichst großem Konsum anhalten sollten; es dauerte nicht lange, bis diese schlecht bezahlten Frauen selbst anfingen Absinth zu trinken und schließlich z. T. abhängig wurden. Auch der Weg zur heimlichen Prostitution war nicht weit [19]. Viele Maler haben das Elend dieser dem Absinth verfallenen Frauen in ihren Gemälden festgehalten.

Zu jener Zeit wurde von einer Frau erwartet, dass sie niemals zu viel trank oder gar in der Öffentlichkeit als betrunken wahrgenommen wurde. Falls doch, so war das ein Zeichen für den Verlust jeglicher Selbstachtung und absoluter Verkommenheit. Genauso schockierend war es, eine solche Situation in einem Gemälde festzuhalten und öffentlich auszustellen. Das erste Bild zu diesem Thema von Degas mit dem Titel L'Absinthe, wo das Absinthglas eindeutig einer Frau zugeordnet wird, löste bei einer Ausstellung in London 1893 sogar einen Skandal aus (s. Abb. 5).

In England galt Paris damals als das Sündenbabel Europas, nicht zuletzt wegen des Absinthtrinkens. Die damalige englische Erfolgsautorin Marie Corelli brandmarkte in dem Roman Wormwood (Wermut) die Absinthtrinker von Paris als Schande für ihr Vaterland [10]. Übrigens zählte Paris mit einer Bevölkerung von etwa 2,6 Millionen zu jener Zeit etwa 33.000 Bars, während London nur ein Zehntel davon bezogen auf die Bevölkerung aufweisen konnte [9].

Absinthismus

Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde erstmals das Syndrom Absinthismus in Abgrenzung vom Alkoholismus beschrieben. Bei chronischer Aufnahme von Absinth machten sich epileptische Anfälle, Übererregbarkeit, visuelle und auditorische Halluzinationen sowie Suizidneigung bemerkbar; ferner traten gastrointestinale Probleme und Hirnschäden auf. Einer der herausragenden Gegner des Absinths war Dr. Valentin Magnan (1835–1916), Arzt am Hospital Sainte-Anne in Paris.

Er zeigte mit Tierversuchen an Meerschweinchen und Hunden, dass Absinth epileptische Krämpfe hervorruft, die nach Gabe von Alkohol allein nicht auftreten [32]; auch in klinischen Beobachtungen an 250 Alkoholkranken konstatierte er bei den Absinthtrinkern Krämpfe, die er épilepsie d'absinthe nannte, während die Alkoholiker das typische Delirium tremens ohne solche Krämpfe erlitten [33]. Später wurde in einem Bulletin der Medizinischen Akademie in Paris darauf hingewiesen, dass Frauen ganz besonders dazu neigen, Absinth regelmäßig und in zu großen Mengen zu trinken, und nach etwa 8 bis 12 Monaten Zeichen eines Absinthismus entwickeln [28].

Selbstverständlich erfüllten die tierexperimentellen Studien und klinischen Beobachtungen von Magnan nicht die Anforderungen, die heute an solche Studien gestellt werden, und auch seine Interpretationen waren zu sehr vereinfachend [37]. Eine scharfe Abgrenzung des Absinthismus vom Alkoholismus erscheint aus heutiger Sicht schwierig; dennoch besteht allgemein Übereinstimmung, dass der giftige Inhaltsstoff Thujon eine qualitative Unterscheidung des Absinths von anderen alkoholischen Getränken notwendig macht [21]. Zudem wird nicht bezweifelt, dass die damals immer wieder beschriebenen schweren Symptome von Absinthtrinkern, wie Halluzinationen und epileptiforme Anfälle, den Tatsachen entsprachen.

Absinth und die Künstler

Die französischen Soldaten des Algerienkrieges tranken den Absinth, weil ihre Vorgesetzten der Meinung waren, sie so besser vor der Malaria schützen zu können; die armen Leute in Paris tranken ihn, weil sie sich zeitweilig mit Absinth billiger betrinken konnten als mit Wein; die Künstler hingegen haben den Absinth zu etwas Besonderem hochstilisiert, zur grünen Fee. Von ihr erhofften sie sich eine Bewusstseinserweiterung in bisher nicht gekannte geistige Sphären. Viele Künstler sammelten gezielt eigene Erfahrungen mit Haschisch, Opium oder Alkohol; als neue viel versprechende Droge kam nun der Absinth hinzu.

Heute ist man der Meinung, dass die angebliche Bewusstseinserweiterung unter Drogen von den jeweiligen Künstlern zwar subjektiv wahrgenommen wurde, dass sich aber eine qualitative oder quantitative Steigerung der künstlerischen Schaffenskraft nicht objektivieren lässt.

Dichter

Charles Baudelaire (1821–1867) trug mit Werken wie Les fleurs du mal oder Les paradis artificiels zur Diskussion bei, ob man durch die Einnahme von Drogen mit seinem Geist in neue künstliche Paradiese vorstoßen könne. Von Baudelaire – nicht nur Dichter, sondern auch Kunstkritiker und zeit seines Lebens mit dem Maler Manet eng befreundet – stammt der Ausspruch Absinth gibt dem Leben eine feierliche Färbung und hellt seine dunklen Tiefen auf. Er war opium- und absinthsüchtig.

Emile Zola (1840–1902) beschrieb in seinen Romanen L'Assomoir (der Totschläger) und Nana die damalige Halbwelt von Paris mit Alkoholismus und Absinthismus. Sein literarisches Werk hatte großen Einfluss auf die Maler jener Zeit und ist mehr als einmal, z. B. bei Manet oder Degas, Vorlage für berühmte Gemälde gewesen.

Die Dichter Paul Verlaine (1844–1896) und Arthur Rimbaud (1854–1891), deren intime Freundschaft von Hassliebe geprägt war, waren in hohem Maße absinthabhängig. Verlaine: In Paris, wo das Bier fürchterlich ist, stürzte ich mich auf Absinth, Absinth am Tage und in der Nacht. Rimbaud war der festen Meinung, ohne übermäßiges Trinken von Absinth nicht schreiben zu können. Als er nach einigen Jahren die Freundschaft mit Verlaine beenden wollte, wurde er von diesem niedergeschossen und verletzt. Verlaine wurde anschließend zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Danach war für Rimbaud das Kapitel Absinth, Verlaine und Dichter beendet; er ging in die Kolonien, wo er in Sklaven- und Waffengeschäfte verwickelt gewesen sein soll. Verlaine hingegen hat später wieder mit dem Absinthtrinken angefangen und bis zu seinem Tode fortgesetzt.

Der Schriftsteller Alfred de Musset (1810–1857) wurde schon in jungen Jahren als Mitglied in die Académie franćaise gewählt. Mit der Zeit blieb er wegen seines erheblichen Absinthkonsums nicht nur ihren obligatorischen Sitzungen fern, sondern vernachlässigte auch die gesamte künstlerische Tätigkeit.

Edgar Allan Poe (1809–1849) war opium- und absinthsüchtig. Ein Literaturhistoriker schrieb: Absinth erklärt besser als Opium seine Erregbarkeit, seine Halluzinationen und Delirien [18]. Oscar Wilde (1854–1900) führte als junger Literat und Liebling der englischen High Society einen außergewöhnlichen Lebensstil ("Dandy"), der auch Drogenkonsum einschloss.

Von Ernest Dowson (1876–1900), der in Frankreich aufgewachsen war, stammt der Ausspruch: Whisky und Bier sind für Idioten; Absinth besitzt die Kraft der Magier; Absinth kann die Vergangenheit auslöschen oder erneuern und die Zukunft annullieren oder vorhersagen. In seinem Gedicht mit dem Titel Absinthia Taetra (Der böse Absinth) heißt es: Der Mann ließ das Wasser sanft in sein Glas tropfen, und als das Grün sich trübte, fiel ein Nebel von seinem Geist ab [30]. Dowson gehörte zu den Künstlern, die Absinth in der Hoffnung getrunken haben, dadurch ihre geistigen Fähigkeiten erweitern zu können.

Bildende Künstler

Ein giftiger Stern fällt auf die Erde

Nicolas Bataille in Paris, der berühmteste Teppichwirker seiner Zeit, schuf um 1375 den Wandteppich Apokalypse – der Stern Absinth für Louis I. von Anjou nach Entwürfen von Jan Bondel aus Brüssel (Abb. 3 [35]). Das Bild nimmt Bezug auf die Offenbarung des Johannes (Apokalypse) im Neuen Testament. Dort wird der Weltuntergang mit allen seinen Schrecken beschrieben, u. a. die Vergiftung des Wassers durch Herabfallen des Sterns Absinth (8,10–11): Der dritte Engel blies: da fiel ein riesiger Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel. Er fiel auf ein Drittel der Ströme und auf die Wasserbrunnen. Der Stern heißt Wermut. Ein Drittel der Wasser wurde zu Wermut, und viele Menschen starben an dem bitteren Wasser.

Auch Dürer hat sich dieses Themas in einem von 15 Holzschnitten zur Apokalypse angenommen [42], und in unserer Zeit wurde es von Helene D'Andlau L'Etoile Absinthe (Apocalypse), 1954 (Fine Arts Museum, San Francisco) erneut aufgegriffen.

 

ABB. 4: EDOUARD MANET: The Absinthe Drinker, 1859. Ny Carlsberg Glyptotek, 
Kopenhagen.

Ein skandalöses Bild

Das Gemälde Der Absinthtrinker von Manet (1832–1883) war das erste bedeutende Bild zum Thema Absinth (Abb. 4, 1859). Es rief bei den etablierten Malern einen Sturm der Entrüstung hervor und wurde vom auswählenden Komitee für eine Ausstellung im Salon in Paris zurückgewiesen. Selbst bei Manets Lehrer Thomas Couture stieß das Bild auf völliges Unverständnis.

Manet hatte als Modell für dieses fast lebensgroße Gemälde (180 x 105 cm) einen Mann namens Collardet gewählt, der in der Umgebung des Louvre als exzentrischer Alkoholiker und Lumpensammler bekannt war und somit der untersten Klasse der Gesellschaft angehörte. Doch Manet hat ihn als selbstbewussten Dandy in stolzer Haltung und mit Zylinder, einem Attribut der feinen Gesellschaft, dargestellt. Neben ihm steht, deutlich sichtbar, ein Glas mit grünem Absinth, vor ihm liegt eine umgefallene leere Flasche. Beim Betrachten des Gemäldes hat man den Eindruck von einer gewissen Grandezza, die eher auf einen Aristokraten als auf einen trunksüchtigen Lumpensammler schließen lässt.

Man ist sicher, dass Charles Baudelaire zumindest bei der ideellen Konzeption dieses Bildes Pate gestanden hat. Baudelaire hat frühzeitig gefordert, dass die Maler das tatsächliche Leben malen sollten einschließlich der "Schönheiten" der Pariser Unterwelt mit ihren Verbrechern, Prostituierten, ihrem Absinth und anderen Drogen. Manet war als einer der ersten dazu bereit und hat sich dazu entsprechend geäußert: Wir müssen in unserer Zeit sein und malen, was wir sehen. Manet hat die Figur seines Absinthtrinkers etwas später nahezu identisch als Hintergrundfigur in seinem Bild Alter Musikant, 1862 (National Gallery, Washington) verwendet.

ABB. 5: EDGAR DEGAS: L’Absinthe, 1875/76. Musée d’Orsay, Paris.

Im Café

Schauplatz des Gemäldes L'Absinthe (1875/76) von Edgar Degas (1834–1917), das er ursprünglich Au Café genannt hatte, ist das Café de la Nouvelle Athènes am Place Pigalle auf dem Montmartre in Paris (Abb. 5). Es war Treffpunkt eines Künstlerkreises aus Literaten, Malern, Bildhauern und Kunstkritikern, die bei diesen Treffen selbstverständlich auch dem Absinth zusprachen.

Die abgebildeten Personen sind die Schauspielerin Ellen Andrée, die vielen Malern Modell gestanden hat, z. B. auch Manet für das Bild La Parisienne, 1874 (Hamburger Kunsthalle), und der Kupferstecher Marcellin Desboutin, ein langjähriger Freund von Degas, der ebenfalls öfter Modell gestanden hat, wie z. B. Manet für das Bild L'Artiste, 1875 (Museum of Art, Sao Paulo). Degas hat beide Personen in einer Stimmung von Trägheit und geistiger Leere dargestellt.

Tatsächlich hat sich die in Wirklichkeit charmante und geistig rege Ellen Andrée viel später entsprechend wenig schmeichelhaft über ihr Konterfei geäußert: Ich habe Degas öfter für Kaffeehausszenen Modell gestanden, hier jedoch sitze ich vor einem Absinth und Desboutin vor einem unverfänglichen Getränk (Kaffee), verdrehte Welt! Und beide haben wir einen stumpfsinnigen Ausdruck [23]. Für Degas aber war das Bild weniger ein Porträt zweier Freunde, sondern ein typisches Bild seiner Zeit mit der l'heure verte (grüne Stunde), der Stunde vor dem Abendessen, in der praktisch in jedem Café des Montmartre der grüne Absinth – gerade auch von Frauen – getrunken wurde.

Bei einer Ausstellung dieses Bildes 1893 in London – frühere Ausstellungen in Paris und sogar in England waren ohne Aufruhr geblieben – kam es zu einem Skandal. Absinth wurde als französisches Gift bezeichnet und in einem Atemzug mit der französischen Krankheit (Syphilis) genannt. Ellen Andrée wurde von den Kritikern als Schlampe oder Schlimmeres beschimpft.

ABB. 6: HENRI DE TOULOUSE-LAUTREC: 
Portrait of van Gogh with a glass of absinthe, 
1887. Van Gogh Museum, Amsterdam.

Porträt eines süchtigen Kollegen

Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901) stammte im Gegensatz zu vielen seiner Künstlerkollegen aus einer sehr wohlhabenden Familie, aus einem der ältesten französischen Adelsgeschlechter. Er wohnte seit 1886 auf dem Montmartre, und es war fast selbstverständlich, dass er dort intensiv mit dem Alkohol und speziell mit dem Absinth in Berührung kam und schließlich süchtig wurde. Er war ein so großer Anhänger von Absinth, dass er in seinem ausgehöhlten Krückstock³ immer etwas von der grünen Fee bei sich hatte, wenn er seine Lieblingskabaretts und seine Lieblingsbordelle besuchte. Sein exzentrisches Verhalten ging so weit, dass er bei einem Ferienaufenthalt in Arcachon an der Atlantikküste einen abgerichteten Kormoran auf der Straße hinter sich herlaufen und aus seinem Glas Absinth trinken ließ [16]. Toulouse-Lautrec mischte Absinthe mit anderen Alkoholika; seine bevorzugte Mixtur war Absinth mit Cognac, die von ihm den bezeichnenden Namen tremblement de terre (Erdbeben) erhielt.

Toulouse-Lautrec malte van Gogh in dessen eigner Malweise und Farbgebung, mit Pastell und Schraffierung (Abb. 6). Das Bild wird als Hommage an van Gogh als Maler und als Freund interpretiert [36]. Man sieht van Gogh auf diesem Porträt in sich gekehrt und von der Welt abgewandt vor einem, nur skizzenhaft angedeuteten Absinthglas sitzen. Das Absinthglas steht sicherlich nicht zufällig vor van Gogh, denn dieser hat auch jahrelang ausschweifend Absinth getrunken. Wahrscheinlich entstand das Bild im Pariser Künstlercafé Tambourin, wo beide Künstler verkehrten und einmal auch eine gemeinsame Ausstellung hatten.

 

ABB. 7: ALBERT MAIGNAN: La Muse verte, 1895. Musée de Picardie, Amiens.

Die grüne Fee

Albert Maignan (1845–1908) kam mit 19 Jahren nach Paris, um Jura zu studieren; nebenbei nahm er Unterricht bei dem Maler Jules Noel. Nach seinem Jura-Examen arbeitete er als anerkannter Maler, Zeichner und Illustrator im Studio von Evariste Luminais. Er hatte eine Vorliebe für allegorische Darstellungen, wozu auch das Ölgemälde La Muse verte gehört (Abb. 7). In diesem Bild bringt die verführerisch heranschwebende Muse Absinth dem Künstler kein Glück, im Gegenteil: Er ist dabei, seine Schriften zu verbrennen, mit der linken Hand scheint er sich im Unterbewusstsein krampfhaft gegen die umgefallene, am Boden liegende und ihn bedrohende Flasche zu wehren, und insgesamt erscheint er der Wirklichkeit entrückt.

ABB. 8: ALFONS MUCHA: Absinthe 1897. 
Tschechische Nationalgalerie, Prag.

Abschaum der Gesellschaft

Alfons Mucha (1860–1939), in der Nähe von Brünn geboren und zeit seines Lebens glühender tschechischer Patriot, kam mit knapp 30 Jahren nach Paris. Durch seine im Jugendstil entworfenen Plakate für die damals umjubelte französische Schauspielerin Sarah Bernhardt verschaffte er sich schon nach kurzer Zeit schlagartig internationale Anerkennung [34]. Weniger bekannt sind eine Reihe von Pastellen und Kohlezeichnungen zum Thema La lie de la société (Vom Abschaum der Gesellschaft), darunter das Bild Absinthe (Abb. 8). Selten ist die Abhängigkeit und zerstörende Wirkung des Absinthtrinkens eindringlicher festgehalten worden [23].

ABB. 9: PABLO PICASSO: The Absinthe Drinker (female), 1901. Melville Hall Collection, New York.

Sucht und Elend der Halbwelt

Pablo Picasso (1881–1973) kam mit knapp zwanzig Jahren erstmals nach Paris und fand schnell Kontakt zur Künstlergemeinschaft auf dem Montmartre. Einen besonderen Einfluss übte auf ihn der Schriftsteller Alfred Jarry aus, der von der bewusstseinserweiternden Wirkung des Absinths – er nannte ihn sacré herbe und genoss ihn unverdünnt – überzeugt war und wegen seiner Begeisterung für dieses Getränk zeitweise seine Haare und Hände grün anmalte.

Da Picassos ganze Leidenschaft der Malerei und den Frauen gehörte, hat er Drogen immer nur in Maßen genossen und dadurch nie seine Gesundheit gefährdet. Die aus dem Drogenkonsum entstehenden Probleme hat er bei den Künstlern und der Halbwelt von Paris hautnah miterlebt und auf die Leinwand gebannt. Insgesamt hat er sieben Bilder – meist Frauenbildnisse – dem Thema Absinth gewidmet, und zwar im Zeitraum von 1901 bis 1903. Haltung und Blick aller dargestellten Frauen machen deutlich, dass sie den Käfig von Sucht, Elend und Armut nicht durchbrechen konnten.

Besonders deutlich empfindet man die Auswirkungen der Sucht bei dem Porträt The Absinthe Drinker (female), einer Frau in flammendem Rot mit langen Armen und dürren, verknöcherten Händen (Abb. 9). Mit ihrem spitzen Gesicht scheint der Rest ihres Lebenswillen starr auf das grün leuchtende Absinthglas fixiert. Eine Umwelt, wie sie Picasso im Hintergrund durch ein erleuchtetes Fenster andeutet, scheint für die Frau nicht mehr zu existieren.

Später, in seiner kubistischen Periode, hat Picasso das Thema Absinth erneut aufgegriffen, allerdings ohne sozialkritischen Bezug (Bild von 1911 und Skulptur von 1914 mit dem identischen Titel Le verre d'absinthe).

ABB. 10: PHILIPPE ZACHARIE: L’Alcool rend fou ou L’Absinthe, 1909. Musée des Beaux-Arts, Rouen.

Abschreckendes Exempel

Philippe Zacharie (1849–1915) war ein herausragender Maler, der in Rouen an der Kunstakademie lehrte. Im Auftrag der Ligue Antialcoolique hat er 1909 ein abschreckendes und aufrüttelndes Bild zum Thema L'Alcool rend fou (Der Alkohol macht wahnsinnig) gemalt, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ (Abb. 10). Man sieht den Absinthtrinker, wie er in der linken Hand die Absinthflasche hält – sogar das mit einem Schweizer Kreuz versehene Etikett ist deutlich erkennbar – und in seiner rechten Hand den Revolver, mit dem er gerade Frau und Kind erschossen hat. Diese Szene nimmt Bezug auf einige publizistisch groß aufgemachte Familiendramen, die tatsächlich so abgelaufen sind. Das auffällige Rot in der Mitte hält jeder Betrachter erst einmal für Blut; in Wirklichkeit handelt es sich aber um den roten Schal der jungen Frau [12]. Das Bild erlangte einen großen Bekanntheitsgrad, weil die Ligue Antialcoolique es als Postkarte herausgab. Sicher trug es dazu bei, dass Absinth 1915 in Frankreich verboten wurde [23].

ABB. 11: ERNST LUDWIG KIRCHNER: 
Selbstbildnis als Trinker (Der Absinthtrinker), 
1915. Germanisches Museum, Nürnberg.

Selbstbildnis mit Absinthglas

Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) musste wegen seiner Drogensucht – neben Alkohol und speziell Absinth konsumierte er zeitweise auch Barbital (Veronal) und Morphin – wiederholt Sanatorien aufsuchen. Sein Selbstbildnis als Trinker trug bei einer Ausstellung in Jena 1917 den Titel Der Absinthtrinker; später hat Kirchner es auf der Rückseite signiert und den Titel Der Trinker hinzugefügt (Abb. 11). Das Gemälde trägt autobiographische Züge [24]. Das übergroße grüne Absinthglas weist auf seinen übermäßigen Absinthkonsum hin; nach Aussagen seiner Lebensgefährtin Erna Schilling trank Kirchner ab 1913 in wachsendem Maße Rum, im Winter 1914/15 trat Absinth an dessen Stelle, und der Konsum stieg zeitweilig auf bis zu einem Liter täglich [27]. Der schlaff herunterhängende, untätige rechte Arm deutet auf die von Kirchner öfters beklagte Lähmung und Gefühllosigkeit in den Gliedmaßen hin, eine sensomotorische Polyneuropathie infolge Alkoholmissbrauchs [13].

ABB. 12: LORNE DOTY: Absinthe Fairy, 2001. San Diego.

Tödliche grüne Fee

Nach dem Verbot von Absinth in Frankreich und anderen Ländern waren praktisch keine Bilder mehr zu diesem Thema gemalt worden. Heute, nach Aufhebung des Verbots, greifen einige Künstler dieses Thema erneut auf, so der Amerikaner Lorne Doty, der seine Bilder im Internet präsentiert (www.absolutearts.com). Die Figur in dem Bild Absinthe Fairy vereint die Leichtigkeit einer Fee – fast an eine Libelle oder an einen Schmetterling erinnernd – mit dem Tod, einem der ältesten Symbole für den Wermut bzw. den Absinth (Abb. 12).

Absinth heute

Heute sind in Deutschland Herstellung und Vertrieb von Absinth mit einem Gehalt bis 10 mg/kg Thujon für alkoholische Getränke mit über 25% Alkohol und bis 35 mg/kg Thujon für Bitterspirituosen wieder erlaubt [2, 8]. Das damit verbundene Gefährdungspotenzial ist gering, denn der hohe Alkoholgehalt des Absinths provoziert eher einen Rausch als eine Thujonvergiftung: Bei einer Blutalkoholkonzentration von 2,5 Promille liegt die Konzentration von Thujon zwei Zehnerpotenzen unterhalb der erlaubten Belastung [25], und bei 0,7 Promille Alkohol im Blut ergibt sich eine Belastung mit Thujon von nur einem Hundertstel der höchsten Dosis, bei der noch keine schädliche Wirkung erkennbar ist (NOEL, no observed effect level; [29]). Einschränkend sei darauf hingewiesen, dass wegen der Vielzahl der im Absinth enthaltenen Stoffe eine abschließende Bewertung für eine Langzeitanwendung von Absinth noch nicht gegeben werden kann [21].


Danksagung: Ich danke Frau Dr. Gabriele Himmelmann, Kunsthistorikerin und freie Mitarbeiterin u. a. an der Hamburger Kunsthalle, für wertvolle Hinweise.

Literatur

[1] Arnold, Wilfred Niels: Vincent van Gogh: chemicals, crisis, and creativity. Boston 1992.
[2] Aromenverordnung v. 22. Dezember 1981.
[3] Beuchert, Marianne: Symbolik der Pflanzen. Insel Verlag, Frankfurt 1996.
[4] Beuchert, Marianne: Die Gärten Chinas. Diederichs Verlag, Köln 1983.
[5] Bock, Hieronymus: Kreütterbuch 1577, Cap. CX, S. 120. Reprint, München 1964.
[6] Bode, H. R.: Planta 30, 567–589 (1940).
[7] Brunsfeld, Otto: Kräuterbuch. 1530.
[8] Bundesratsbeschluss v. 29. Oktober 1991.
[9] Conrad, Barnaby: Absinthe – History in a Bottle. San Francisco 1988.
[10] Corelli, Marie: Wormwood – A Drama of Paris. Edition Tauchnitz, Leipzig 1891.
[11] Czajka, Stephanie: Die grünen Feen schwärmen wieder. www.pharmazeutische-zeitung.de/pza/2001–45/pharm3.htm.
[12] Delahaye, Marie-Claude, u. Benoit Noel: Absinthe – Muse des peintres. Les éditiones de l'Amateur, Paris 1999.
[13] Dieckhöfer, Klemens: Psychiatrische Aspekte der Drogenabhängigkeit von Künstlern in spätwilhelminischer Zeit, in: Dialog der Künste (Festschrift E. Koppen). Frankfurt 1989.
[14] Dioscurides, Pedanius: De Materia Medica. Reprint Akad. Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1998, Blatt 22v.
[15] Fonsmark, Anne-Brigitte: Chefs-d'oevre de la Ny Carlsberg Glyptotek de Copenhague. Paris 1996.
[16] Frey, Julia: Toulouse-Lautrec – a life. London 1995.
[17] Fuchs, Leonhart: New Kreütterbuch 1543, Cap. I. Reprint Taschen, Köln 2001.
[18] Goodwin, Donald W.: Alcohol and the writer. Ed. Epoca, Zürich 1995.
[19] Gronberg, Theresa Ann: Femmes de Brasserie. Art History 7, 329–344 (1984).
[20] Hagers Handbuch der Pharmazeutischen Praxis, 5. Aufl., Bd. 4. Springer, Berlin 1998.
[21] Hein, Jakob, Lars Lobbedy u. Klaus-Jürgen Neumärker: Absinth – Neue Mode, alte Probleme. Dtsch. Ärztebl. 98, C 2166–2177 (2001).
[22] Hildegard von Bingen: Physica I, 109.
[23] Hirdt, Willi: Absinth oder Zwischen Impressionismus und Naturalismus, in: Dialog der Künste (Festschrift E. Koppen). Frankfurt 1989.
[24] Hofstede, Justus Müller: Zu Ernst Ludwig Kirchners Selbstbildnis "Der Trinker" in: Dialog der Künste (Festschrift E. Koppen). Frankfurt 1989.
[25] Huckenbeck, Wolfgang: Absinth – ein neues Spielzeug der Spaßgesellschaft? SeroNews IV, Institut für Rechtsmedizin, Univ. Düsseldorf 2001.
[26] Kommission E des BGA: BAnz. Nr. 228 v. 5.12.1984.
[27] Kornfeld, Eberhard W.: Ernst Ludwig Kirchner – Nachzeichnungen seines Lebens. Bern 1979, S. 103–104.
[28] Laborde, J.-V.: Rapport au nom de la commission de alcoolisme sur les boissons spiritueuses, apéritifs et leur essences et produits composantes plus dangereux. Bull. Acad. Méd. 48, 685–712 (1902).
[29] Lang, M., C. Fauhl u. R. Wittkowski: Belastungssituation von Absinth mit Thujon. BgVV-Heft 08/2002.
[30] Lanier, Doris: Absinthe – the cocaine of the nineteenth century. Jefferson, North Carolina 1995.
[31] Levi D'Ancona, Mirella: The Garden of Renaissance – Botanical Symbolism in Italian Paintings. Florenz 1977.
[32] Magnan, Valentin: Absinthe. The Lancet 1869.
[33] Magnan, Valentin: De l'Alcoolisme, des divers formes du délire alcoolique et leur traitement. Adrien Delahaye, Paris 1874.
[34] Katalog Alfons Mucha 1860–1939. Mathildenhöhe, Darmstadt 1980.
[35] Meer, Frits van der: Apokalypse – die Visionen des Johannes in der europäischen Kunst. Freiburg 1978.
[36] Penrose, Roland: Toulouse-Lautrec – His life and work. Berkeley 1981.
[37] Prestwich, Patricia E.: Temperence in France: The curious case of absinthe. Historical Reflections Vol. 6, No. 2. Waterloo, Ontario 1979.
[38] Pseudo-Apuleius Platonicus: Herbarius. MS Ashmole 1462, Bodleian Library, Oxford, Blatt 17v–18r.
[39] Ripa, Cesare: Iconologia – Baroque and Rococo Pictorial Imagery, Hertel Edition 1758–60. Reprint Dover Publications, New York 1971.
[40] Roth, Lutz, Max Daunderer u. Kurt Kormann: Giftpflanzen – Pflanzengifte. ecomed, Landsberg 1994.
[41] Schneider, G., u. K. Hiller: Arzneidrogen. Spektrum Akad. Verlag, Heidelberg 1999.
[42] Schoch, Rainer: Albrecht Dürer – das druckgraphische Werk, Bd. 2. München 2002.
[43] Tabernaemontanus, Jacobus Theodorus: New vollkommen Kräuterbuch, 1664. Reprint, Hamburg 1985.
[44] Warncke, Carsten-Peter: Pablo Picasso 1881–1973. Taschen, Köln 1991.
[45] www.wissen.de 2004.

 

1Unter der Thematik Heilpflanzen im Spiegel der bildenden Kunst veröffentlichte der Autor bereits zwei Beiträge zu den Heilpflanzen Maiglöckchen und Mohn in dieser Zeitschrift: Dtsch. Apoth. Ztg. 140, 2056 (2000) und 143, 451 (2003).

² Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Chinesen schon vor 2000 Jahren die dem Wermut verwandte Pflanze Artemisia annua (chin. qinghao) zur Bekämpfung der Malaria eingesetzt haben und dass die Wirksamkeit nach Auffindung des wirksamen Prinzips Artemisinin (qinghaosu) mit modernen Methoden bestätigt werden konnte [20].

³ Im Toulouse-Lautrec Museum in Albi, der Geburtsstadt von Toulouse-Lautrec, werden der im Krückstock versteckte kleine Flakon und das Trinkgläschen aufbewahrt.

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