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Information und Beratung
Sulpirid
1. Handelspräparate
(Auswahl ohne Wertung der pharmazeutischen Qualität) Arminol, Dogmatil, Meresa, Neogama
2. Einordnung
Sulpirid ist ein Benzamidderivat aus der Gruppe der atypischen Neuroleptika. Es hat zusätzlich eine antidepressive Wirkung.
3. Indikationen
Für die folgenden Indikationen ist die therapeutische Wirksamkeit von Sulpirid gut belegt:
- Akute und chronische Schizophrenie sowie andere akute und chronische Psychosen
- Depressive Syndrome wie z.B. endogene und reaktive Depressionen
- Schwindelzustände, insbesondere Morbus Meniére
Nicht gleichermaßen gut belegt sind die Indikationen:
- Psychosomatische Erkrankungen
- Stimmungslabilität mit Leistungs- und Antriebsschwäche
- Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen, Autismus, Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
- Neurotische Störungen wie z.B. Phobien und Zwangskrankheiten
Bei Tinnitus und Migräne konnte ebenfalls eine therapeutische Wirksamkeit von Sulpirid gezeigt werden. Die Anwendung von Sulpirid in der Gastroenterologie kann als obsolet betrachtet werden.
4. Pharmakologie
4.1 Wirkungsmechanismus Sulpirid ist ein substituiertes Benzamid aus der Gruppe der atypischen Neuroleptika. Es hat eine schwache bis mittelstarke neuroleptische Potenz und wirkt in niedrigen Dosierungen bis 600 mg/Tag auch antidepressiv. Sulpirid liegt als Razemat vor. Das R-(-)-Enantiomer hat sich als die wirksamere Substanz erwiesen. Wie die klassischen Neuroleptika hat Sulpirid eine kompetitive, antagonistische Wirkung an Dopaminrezeptoren vom D2-Typ. Im Gegensatz zu den klassischen Neuroleptika hat es jedoch eine sehr viel höhere Rezeptorselektivität und -spezifität und zeigt keine Affinität zu Dopamin D1-, Serotonin-, Histamin-, Noradrenalin- oder Muscarinrezeptoren. Eine Überreaktivität dopaminerger Neuronensysteme, insbesondere im mesolimbischen/mesokortikalen Bereich, wird als ein entscheidender Faktor bei der Pathogenese der Schizophrenie betrachtet. Da zu Behandlungsbeginn sowohl postsynaptische D2-Rezeptoren als auch präsynaptische, die Dopaminfreisetzung hemmende D2-Autorezeptoren blockiert werden, tritt die Wirkung der Neuroleptika erst im Verlauf von Tagen bis wenigen Wochen auf, wenn die gesteigerte Dopaminfreisetzung aufgrund regulatorischer Veränderungen wieder abnimmt und die antagonistische Wirkung der Neuroleptika an der postsynaptischen Membran zum Tragen kommt. Die antidepressive Wirkung von Sulpirid wird darauf zurückgeführt, dass bei niedriger Dosierung die durch präsynaptische D2-Rezeptorblockade gesteigerte Neurotransmitterfreisetzung die postsynaptische Rezeptorblockade funktionell überwiegt. Mit der neuroleptischen Wirkung gehen die ebenfalls durch D2-Rezeptorblockade verursachten unerwünschten Wirkungen der D2-Rezeptorantagonisten einher. Dies sind zum einen Galaktorrhö und Gynäkomastie durch D2-Rezeptorblockade im tubero-infundibulären und zum anderen extrapyramidal-motorische Störungen durch D2-Rezptorblockade im nigrostriatären System. Mit Sulpirid wurden im Vergleich zu ähnlich potenten klassischen Neuroleptika weniger ausgeprägte extrapyramidal-motorische Symptome beobachtet, was auf eine geringere Anreicherung im nigro-striatären Bereich zurückgeführt wird. Ebenfalls auf D2-Rezeptorblockade (in der area postrema) ist die antiemetische Wirkung von Sulpirid zurückzuführen (vgl. Metoclopramid). Die für klassische Neuroleptika typischen vegetativen (durch Blockade von Muscarin- und a1-Rezeptoren) und sedierenden (durch Blockade von H1-Rezeptoren) Wirkungen sind unter einer Sulpirid-Therapie weniger ausgeprägt, da Sulpirid zu diesen Rezeptoren kaum Affinität aufweist. Wegen der geringen psychomotorisch dämpfenden Wirkung ist Sulpirid insbesondere zur Behandlung von Psychosen mit so genannter Negativsymptomatik geeignet. Von Sulpirid liegen zum Teil nur unzureichende vergleichende klinisch-therapeutische Erfahrungen mit anderen Neuroleptika vor.
4.2 Pharmakokinetik
- Resorption: Sulpirid wird nur langsam und unvollständig aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert.
- Zeit bis zum Erreichen der maximalen Plasmakonzentration: Nach oraler Gabe werden abhängig von der galenischen Zubereitung maximale Plasmaspiegel nach 2 bis 8 Stunden, nach intramuskulärer Gabe nach 10 bis 30 min erreicht.
- Plasmaproteinbindung: Sulpirid zeigt eine Plasmaproteinbindung von < 40%.
- Verteilung: Das Verteilungsvolumen liegt bei 1 bis 2,7 l/kg. Die Hirngängigkeit von Sulpirid ist relativ gering. Es sind nur 12% der gemessenen Plasmakonzentration im Liquor nachweisbar.
- Metabolismus: Sulpirid wird so gut wie nicht metabolisiert. Beim Menschen wurden bislang keine Metabolite bestimmt.
- Ausscheidung: 70 bis 90% einer i.v. Dosis werden unverändert im Urin ausgeschieden.
- Eliminationshalbwertszeit: Die Eliminationshalbwertszeit von Sulpirid beträgt 6 bis 8 Stunden und ist bei Niereninsuffizienz verlängert (20 bis 26 Stunden). Bei eingeschränkter Nierenfunktion ist daher eine Dosisanpassung erforderlich.
- Therapeutischer Plasmaspiegel: In Studien mit chronisch schizophrenen Patienten konnte keine Korrelation zwischen Plasmaspiegel und klinischem Effekt gezeigt werden.
- Absolute Bioverfügbarkeit: Die Bioverfügbarkeit beträgt nach oraler Gabe nur ca. 20 bis 30% und wird durch gleichzeitige Nahrungsaufnahme beeinträchtigt. Aufgrund der geringen hepatischen Clearance tritt kein First-pass-Effekt auf.
5. Vorsichtsmaßnahmen
5.1 Schwangerschaft Sulpirid ist aufgrund seines geringes Molekulargewichtes plazentagängig. Tierexperimentell konnte keine teratogene Wirkung von Sulpirid festgestellt werden. Auch aus der klinischen Anwendung sind bisher keine Fälle teratogener Wirkung bekannt. Wegen mangelnder Erfahrung sollte jedoch von einer Anwendung während der Schwangerschaft abgesehen werden, bzw. Sulpirid sollte nur nach sorgfältiger Abwägung in niedriger Dosis angewendet werden.
5.2 Stillzeit Es konnten nur geringe Sulpiridkonzentrationen in der Muttermilch nachgewiesen werden. Wegen unzureichender Erfahrung sollte Sulpirid dennoch nicht in der Stillzeit eingenommen werden. Sulpirid kann durch seine prolaktinsteigernde Wirkung die Laktation stillender Mütter fördern, was einem evtl. gewünschten Abstillen entgegenwirkt.
5.3 Kinder Sulpirid kann bei Kindern zur Behandlung von Psychosen, Depressionen und Verhaltensstörungen eingesetzt werden. Die orale Dosis beträgt dabei, abhängig von der Indikation, 5 bis 15 mg/kg Körpergewicht pro Tag. Als Injektionslösung soll Sulpirid bei Kindern unter 6 Jahren nicht und bei Jugendlichen nur nach strenger, fachärztlicher Nutzen-Risiko-Abwägung angewendet werden.
5.4 Nierenfunktionsstörungen In Abhängigkeit von der Kreatinin-Clearance kann eine Dosisreduktion auf 20 bis 50% der normalen Tagesdosis nötig werden. Bei starker Einschränkung der Nierenfunktion sollte die Injektionslösung abgesetzt werden.
5.5 Ältere Patienten Bei älteren Patienten bestehen häufiger Begleiterkrankungen, die eine vorsichtige Dosierung erforderlich machen, wie z.B. eine eingeschränkte Nierenfunktion oder eine Herzinsuffizienz.
5.6 Weitere Zustände/Erkrankungen, bei denen Sulpirid nur unter besonderer Vorsicht angewendet werden darf Kardiovaskuläre Erkrankungen, Hyperthyreoidismus, Lungenerkrankungen, Überempfindlichkeit gegenüber anderen Benzamidderivaten, Zyklusstörungen bei jüngeren Frauen, Thromboseneigung, Harnverhalten, schwere Leberschäden, Psychosen mit Erregungs- und Agressivitätssymptomen, malignes neuroleptisches Syndrom, Glaukom, Pylorusstenose, Prostatahypertrophie.
5.7 Kontraindikationen
- Hyperprolaktinämie, Prolaktin-abhängige Tumoren, nicht abgeklärte Mammatumoren
- Epilepsie, Krampfanfälle
- maniforme Psychosen, hirnorganische Erkrankungen, die mit Erregungszuständen einhergehen
- Phäochromozytom
- Parkinson-Syndrom
- Akute Intoxikationen mit Alkohol, Schlafmitteln, Opiaten, Psychopharmaka
5.8 Wechselwirkungen
- Sulpirid kann mit anderen Neuroleptika und Antidepressiva kombiniert werden, wobei es zu einer beidseitigen Wirkungsverstärkung kommen kann. Hierbei ist auf mögliche synergistische Wirkungen hinsichtlich extrapyramidal-motorischer Symptome zu achten.
- Die Resorption von Sulpirid wird durch Antazida und Sucralfat beeinträchtigt.
- Bei gleichzeitiger Anwendung von Metoclopramid oder calciumantagonistisch wirkenden Substanzen ist an das erhöhte Risiko des Auftretens extrapyramidal-motorischer Wirkungen zu denken.
- Sulpirid kann die sedierende Wirkung von zentral dämpfenden Arzneimitteln verstärken.
- In Kombination mit zentral stimulierenden Arzneimitteln (z.B. Appetitzüglern, Theophyllin) kann es zu verstärkter Unruhe, Angst und Erregung kommen. Wegen nicht voraussehbarer Reaktionen ist der gleichzeitige Alkoholgenuss unter Sulpiridtherapie zu vermeiden.
- Die Wirkung von Sulpirid kann durch Anticholinergika (z.B. Biperiden) und Levodopa abgeschwächt werden.
- Bei gleichzeitiger Gabe blutdrucksenkender Mittel ist mit einem erhöhten Risiko hypotoner Zustände zu rechnen.
- Wegen erhöhter Anfallsgefahr (Ursache unbekannt) sollte die Kombination von Sulpirid mit Tramadol oder Zotepin vermieden werden.
5.9 Sonstige Vorsichtsmaßnahmen Sulpirid kann auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch das Reaktionsvermögen so weit verändern, dass die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am Straßenverkehr oder zum Bedienen von Maschinen beeinträchtigt wird. Dies gilt im verstärkten Maße im Zusammenwirken mit Alkohol.
6. Unerwünschte Wirkungen
6.1 Zentralnervöse Nebenwirkungen
Extrapyramidal-motorische Symptome Extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen wie Frühdyskinesien, Akathisie und Parkinsonismen sind dosisabhängig und treten unter Sulpiridtherapie, insbesondere bei niedrigen Dosen bis 600 mg/Tag, sehr viel seltener auf als unter der Gabe von z.B. Chlorpromazin oder Haloperidol. Bei längerer, meist hochdosierter Therapie kann es bei der Behandlung mit Neuroleptika in Einzelfällen zu irreversiblen Spätdyskinesien und in sehr seltenen Fällen zu einem malignen neuroleptischen Syndrom kommen. Ein Bericht über das Auftreten dieses Syndroms unter Sulpiridtherapie liegt in der Literatur vor. Die Patienten sollen daher auf Symptome wie hohes Fieber, Muskelsteifigkeit und Bewusstseinsstörungen achten und bei ihrem Auftreten sofort den Arzt aufsuchen.
Hormonelle Störungen Durch die Blockade tuberoinfundibulärer D2-Rezeptoren kommt es, wie bei allen dopaminantagonistisch wirkenden Neuroleptika, zur Enthemmung der Prolaktinsekretion, was zu Galaktorrhö und Mastopathie, Libido- und Potenzverlust, bei Männern zu Gynäkomastie und bei Frauen zu Zyklusstörungen führen kann. Ein im Tierversuch festgestellter Zusammenhang zwischen Sulpiridgabe und dem Auftreten von Mammatumoren wurde beim Menschen nicht gefunden. Unter Sulpiridbehandlung ist die prolaktinerhöhende Wirkung ausgeprägter als bei einer Therapie mit anderen Neuroleptika.
Andere zentralnervöse Nebenwirkungen
- Erregungszustände, Einschlafstörungen
- Sexuelle Stimulation
- Übelkeit
- Schwindel
- Kopfschmerzen
- Müdigkeit
- Verlangsamung
- Appetitsteigerung mit Gewichtszunahme
6.2 Periphere Nebenwirkungen
Vegetative Nebenwirkungen
- Mundtrockenheit oder übermäßige Speichelsekretion
- vermehrte Schweißbildung
- Obstipation
- Tachykardie
- gastrointestinale Störungen
- Sehstörungen
- Miktionsstörungen
- Blutdruckabfall oder -steigerung
Sonstige Nebenwirkungen
- Austrocknung der Nasenschleimhaut
- allergische Reaktionen, die auch durch die in der Saftform enthaltenen Parabene ausgelöst werden können
- Nach intravenöser Injektion kam es vereinzelt zu anaphylaktischen Reaktionen und Herz-Kreislaufstörungen.
7. Hinweise zur Anwendung
Wegen der zentral erregenden Wirkung wird empfohlen, Sulpirid nicht nach 16.00 Uhr zu verabreichen. Sulpirid-Injektionslösung sollte nur zur Initialtherapie verwendet werden. Die oralen Applikationsformen werden am besten nach der Mahlzeit mit etwas Flüssigkeit eingenommen.
8. Dosierung und Applikationsformen
1 Kapsel 50 mg 1 ml Saft 5 mg 1 Tablette (forte) 200 mg 1 Ampulle 100 mg Zur Behandlung von Depressionen, psychosomatischen Erkrankungen, Verhaltensstörungen oder Schwindelzuständen werden je nach Verträglichkeit Erhaltungsdosen bis 300 mg pro Tag angestrebt, wobei in der Regel mit 50 bis 100 mg/Tag begonnen wird. Zur Behandlung psychotischer Störungen können Initialdosen bis 800 mg/Tag und Erhaltungsdosen bis 1600 mg/Tag erforderlich sein.
9. Aufbewahrung
Kein besonderer Hinweis erforderlich
10. Überdosierung
Der bisher bekannte toxische Dosisbereich von Sulpirid liegt bei 1 bis 16 g. Über einen Todesfall nach Einnahme von mehr als 16 g in einer Gabe wurde berichtet.
10.1 Symptome der Intoxikation
- Einzeldosis von 1 bis 3 g: Unruhe, Bewusstseinstrübungen, extrapyramidale Störungen (vergleiche Nebenwirkungen)
- Einzeldosis von 3 bis 7 g: Verstärkung der Nebenwirkungen
- Einzeldosen über 7 g: eventuell Koma, Blutdruckabfall
10.2 Therapie von Intoxikationen Im akuten Fall einer oralen Überdosierung wird eine Magenspülung empfohlen. Emetika sollten nicht angewendet werden. Durch die vornehmlich renale Ausscheidung von Sulpirid kann eine forcierte Diurese mit alkalisierenden Infusionslösungen sinnvoll sein. Bei ausgeprägten extrapyramidal-motorischen Störungen in Form eines hyper- oder dyskinetischen Syndroms können anticholinerg wirkende Antiparkinsonmittel wie Biperiden eingesetzt werden. Spezielle Antidota sind nicht bekannt. Intensivpflege und -überwachung des Patienten sind erforderlich. An das mögliche Vorliegen einer Mehrfachintoxikation ist zu denken.
Literatur Ammon, H. P. T. (Hrsg.): Arzneimittelneben- und -wechselwirkungen, 3. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 1991 Dose, M.: Blickpunkt Benzamide (Blaue Reihe). Aesopus Verlag GmbH, Basel 1994 Forth, W., D. Henschler, W. Rummel, K. Starke (Hrsg.): Pharmakologie und Toxikologie, 7. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996 Gelman, C. R., B. H. Rumack, A. J. Hess (Hrsg.): DRUGDEX System, Micromedex Inc., Englewood, Colorado 1996 Mutschler, E.: Arzneimittelwirkungen, 7. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 1995
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