DAZ aktuell

Evidenz-basierte Medizin: Ein neuer Weg zu rationalen Entscheidungen im Gesundhe

HAMBURG (tmb). Die Informationsfülle in der Medizin und den modernen Naturwissenschaften macht es zunehmend schwieriger, die wirklich gesuchte Information zu finden und zu erkennen. Gefordert sind sowohl neue theoretische Konzepte für die Bewertung der relevanten Informationen als auch praktische Hilfsmittel, um diese in der knappen Zeit der Alltagsarbeit zu finden. Die Evidenz-basierte Medizin (evidence-based medicine, EBM) verspricht Lösungen für beide Probleme.

Untersuchungen über die Informationsbeschaffung bei Medizinern in Praxis und Krankenhaus zeigen, daß die zur Lektüre von Originalarbeiten aufgewendete Zeit bei weitem nicht ausreicht, um fachlich auf dem neuesten Stand zu bleiben. Ob die jeweils als zeitgemäß geltenden Verfahren angewendet werden, hängt erheblich davon ab, vor wievielen Jahren der Arzt sein Studium abgeschlossen hat. Denn die knappe Zeit der Lektüre reicht nicht aus, um sich ausreichend über neue Verfahren zu informieren. Außerdem vermittelt die klassische Fortbildungsmethode mit Frontalunterricht meist nur neues Wissen, ohne damit die praktische Arbeit der Ärzte zu beeinflussen. Bei der gezielten Suche nach konkreten Antworten bieten Datenbanken mit ausgefeilten Suchstrategien wertvolle technische Hilfe, aber sie lösen die grundsätzlichen Probleme der Informationsflut und der Bewertung der Informationen nicht.

Evidenz - ja, aber welche? Hier setzt das theoretische Konzept der evidenz-basierten Medizin an. Gemeint ist jedoch weder ein theoretisches Erkennen und Verstehen von vermeintlichen oder tatsächlichen Zusammenhängen noch eine Evidenz, die sich auf die einfache Wahrnehmung unmittelbar einleuchtender Tatsachen stützt. Gefragt ist weder ein übermäßiger Hang zur Theorie noch die spontane Intuition. Im Gegensatz zu diesen Evidenzbegriffen des deutschen Sprach- und Kulturraumes ist hier der angelsächsische Evidenzbegriff* gemeint, d.h. eine diskursive Evidenz. Dabei ergibt sich die Erkenntnis aus einer Vielzahl von Fakten und Begleitumständen und muß durch den gegenseitigen Austausch konkretisiert werden, wie dies etwa bei der Ermittlung von Tatbeständen bei einem Zivilprozeß geschieht. Ausgehend von der klinischen Epidemiologie will die evidenz-basierte Medizin mit modernen Methoden der Qualitätsorientierung zu rationalen Therapieentscheidungen kommen, bei denen die Zweckmäßigkeit in der konkreten Situation das zentrale Entscheidungskriterium darstellt. Während die meisten klinischen Studien unter Idealbedingungen prüfen, ob eine Therapie prinzipiell wirksam ist ("efficacy"), interessiert hier viel mehr, ob sie unter Realbedingungen tatsächlich wirkt ("effectiveness"). Zur praktischen Anwendung der evidenz-basierten Medizin gehören die umfassende klinische Analyse der Situation des individuellen Patienten und die Suche nach den besten verfügbaren, zu dieser speziellen Situation passenden klinischen Daten. Dies setzt voraus, eine konkrete Fragestellung zu formulieren, die eine zielgerichtete Recherche ermöglicht. Nur so kann die relevante Literatur erkannt und bewertet werden. Anschließend ist das Ergebnis der Recherche auf den individuellen Fall zu übertragen.

Mehrfach gefilterte Literaturauswahl Die Anwendung der evidenz-basierten Medizin erfordert, die vorhandenen Informationen zu ordnen und kritisch unter einheitlichen Qualitätskriterien zu würdigen, um die relevanten Informationen erkennbar zu machen. Dieser Arbeit hat sich insbesondere die mittlerweile schon traditionsreiche Cochrane-Collaboration verschrieben. Sie wertet Original- und Übersichtsartikel systematisch aus. Inzwischen ist auch eine neue Art wissenschaftlicher Zeitschriften entstanden, in denen Zusammenfassungen wichtiger Originalartikel erscheinen, die nach Kriterien der Qualität und Zweckmäßigkeit ausgewählt werden. Aus der Fülle der Primärliteratur wählen Statistiker die korrekt durchgeführten Studien mit aussagekräftigen Ergebnissen aus. Anschließend filtern Mediziner hieraus die in der Praxis tatsächlich umsetzbaren Veröffentlichungen aus, die dann zusammengefaßt und kommentiert in den neuartigen Sekundärquellen erscheinen.

Konzentration auf das Machbare Kritiker werfen der evidenz-basierten Medizin vor, die strenge Orientierung an dem jeweiligen Forschungsstand führe zu starren Therapieregeln im Sinne einer "Kochbuch-Medizin". Doch führt die Erhebung der ganz persönlichen Bedürfnisse und Präferenzen des Patienten gerade zu einer individuellen Therapieentscheidung. Qualitätsstandards und allgemeine Handlungsregelungen sind nicht als starre Vorschriften, sondern eher als Checklisten zu verstehen. Durch sie wird nicht die Entscheidung für eine bestimmte Therapie vorherbestimmt, sondern nur sichergestellt, daß bei der Entscheidung kein relevanter Aspekt vergessen wird. Dies ist ein entscheidender Beitrag zur Qualitätssicherung der Therapie. Möglicherweise wird die evidenz-basierte Medizin mehr zur Rationalisierung von Zulassungsverfahren als zur Entscheidung über die Therapie einzelner Patienten beitragen. Andere Stimmen werfen dem dargestellten Konzept vor, eine "Medizin des gehobenen Durchschnitts" zu fördern und die Hoffnung von Patienten und Ärzten auf unwahrscheinliche Erfolge zu zerstören. Außerdem konzentriert sich die evidenz-basierte Medizin auf das kurzfristig Machbare, so daß visionäre Forschungen möglicherweise unbeachtet bleiben und ungewöhnliche Spitzenleistungen ausbleiben. Die Orientierung an erprobten therapeutischen Standards wird teilweise auch als Ansatz zur Kostendämpfung interpretiert, da hier Argumente gegen teure Verfahren mit ungesicherten Ergebnissen geliefert werden. Doch zeigen epidemiologische Untersuchungen zu verbreiteten chronischen Krankheiten, daß viele Patienten nicht die zeitgemäße Behandlung und Arzneitherapie erhalten. Die zusätzlichen Kosten für diese unterversorgten Patienten dürften die Einsparungen bei fragwürdigen Verfahren daher deutlich übersteigen. Die konsequente Anwendung der evidenz-basierten Medizin dürfte die Gesundheitsausgaben daher zunächst eher erhöhen, wenn auch langfristig durch Vermeidung von Folgeerkrankungen volkswirtschaftliche Vorteile denkbar sind.

Unaufhaltsame internationale Entwicklung Die evidenz-basierte Medizin entwickelt sich derzeit zur zeitgemäßen Interpretation des anerkannten Standes der Medizin. Hierzu gehören auch die wachsende Bedeutung der Qualitätssicherung und die Integration sozialer, ökonomischer und ethischer Aspekte in medizinische Entscheidungen. Da die geistigen Wurzeln des Konzepts - insbesondere die Orientierung an der Zweckmäßigkeit als Kulturbewegung - in den angelsächsischen Ländern liegen, folgt Deutschland der dortigen Entwicklung langsam nach. Während sich bereits verschiedene Tagungen und Workshops mit der Thematik befassen, fehlt noch ein organisiertes Netzwerk in Kliniken und Praxen, aus dem einheitliche Bewertungsmaßstäbe für die Therapie entstehen können. Aufgrund der Tradition der medizinischen Ausbildung mangelt es zudem an Epidemiologen, die auch in Klinik oder Praxis tätig sind. In Großbritannien wird dagegen bereits heute daran gearbeitet, evidenz-basierte Medizin unmittelbar am Krankenbett zu praktizieren. Dies reicht bis zur Ausrüstung der Krankenhausärzte mit mobilen Computern, die ihnen ohne überflüssige Wege direkt beim Patienten die Recherche in Datenbanken ermöglichen. l Quelle: Prof. Dr. David L. Sackett, Oxford, und Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe, Lübeck, Vorträge anläßlich der 8.Hamburger Forschungsgespräche der Glaxo Wellcome GmbH & Co., "Evidence-Based-Medicine" - nur ein Trend oder Chance zu mehr Rationalität im Gesundheitswesen, 20. Januar 1998.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.