- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 45/1998
- Bringen Retinoide den ...
Arzneimittel und Therapie
Bringen Retinoide den Durchbruch?
Zwischen Vitamin-A-Mangel und einer erhöhten Krebsinzidenz besteht ein direkter Zusammenhang. Dies haben Tierversuche, aber auch epidemiologische Studien in den letzten Jahrzehnten eindeutig gezeigt. So haben Personen, die zu wenig Vitamin A aufnehmen, ein erhöhtes Krebsrisiko. Die Folgerungen aus diesen Beobachtungen: Physiologische Vitamin-A-Spiegel können den Körper vor prämalignen oder malignen Läsionen schützen. Und: Vitamin-A-Säure-Derivate müßten für die Prävention und Behandlung von Tumoren geeignet sein.
Ganz so einfach liegt der Fall zwar nicht, aber erste klinische Untersuchungen zeigen auf bestimmten Gebieten, daß Retinoide ein erfolgversprechender Ansatz sein können. Dies gilt vor allem für die Wirkung auf bestimmte prämaligne Läsionen.
Weniger prämaligne Läsionen
- {te}Aktinische Keratosen, also Hautveränderungen, die durch Strahlen hervorgerufen werden, gelten als prämaligne. Sie entstehen oft bei älteren Menschen, die häufig der Sonne ausgesetzt waren. Durch eine topische Therapie mit all-trans-Retinsäure (ATRA) läßt sich die Zahl dieser Läsionen im Vergleich zu Plazebo deutlich senken. So wurde in einer Studie eine Reduktion um 84 Prozent (Plazebo: 5 Prozent) erreicht.
- Prämaligne Läsionen können auch in der Mundhöhle auftreten. Aus diesen Leukoplakien oder Erythroplakien entwickeln sich in 6 bis 20 Prozent der Fälle maligne Läsionen. Auch hier sprechen die gefährlichen Vorstufen eines Karzinoms auf eine Therapie mit Retinoiden an. Untersucht wurde unter anderem der Effekt von cis-Retinsäure. Die Responderrate lag bei etwa 50 Prozent. Der Haken: Nach Beendigung der Therapie traten die Läsionen bei der Hälfte der Patienten wieder auf. Wurde aber nach einer initialen Hochdosis-Therapie cis-Retinsäure in einer niedrigen Dosis kontinuierlich weitergegeben, ließ sich ein Rezidiv verhindern.
- Auch dem Zervixkarzinom gehen prämaligne Veränderungen in verschiedenen Stadien voraus. Sie werden als zervikale intraepitheliale Neoplasien bezeichnet. Durch lokale Behandlung mit all-trans-Retinsäure konnte bei 43 Prozent von insgesamt 300 Patientinnen mit einer moderaten Neoplasie (Stadium II) eine Regression erreicht werden. Von Plazebo profitierten nur 27 Prozent. Auf schwere Dysplasien hatte die Therapie keinen Einfluß.
Prävention zweiter Primärtumoren
Etwas weniger erfolgversprechend ist der Einsatz von Retinoiden bei der Prävention eines zweiten Primärtumors. So brachte die Behandlung des rezidivierenden Basalzellkarzinoms mit cis-Retinsäure in niedriger Dosierung keinen Erfolg. Etwas effektiver scheint dieses Retinoid dagegen bei Tumoren am Hals und am Kopf zu sein. Bei Patienten, bei denen ein Primärtumor operativ oder durch Bestrahlung entfernt worden war, trat unter Therapie mit cis-Retinsäure innerhalb von 32 Monaten nur bei 4 Prozent ein zweiter Primärtumor auf, unter Plazebobehandlung waren es 24 Prozent. Allerdings hatte die Behandlung keinen Einfluß auf die Rezidivierung des ersten Primärtumors und die Metastasierung. Beim nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom wurde Vitamin A bei etwa 300 Patienten untersucht, die sich in einem Stadium I der Erkrankung einer Resektion unterzogen hatten. Nach einem mittleren Beobachtungszeitraum von 46 Monaten entwickelten sich in der Kontrollgruppe 25 sekundäre Primärtumoren, in der Vitamin-A-Gruppe waren es lediglich 13.
All-trans-Retinsäure: komplette Remission bei akuter promyeloischer Leukämie
Den Durchbruch in der Therapie maligner Erkrankungen schafften die Retinoide, genauer gesagt all-trans-Retinsäure, durch die herausragende Wirksamkeit bei der akuten promyeloischen Leukämie (APL). In einer Studie konnte durch die Gabe von 30 bis 100 mg all-trans-Retinsäure/m2 täglich bei 23 von 24 Patienten eine komplette Remission erreicht werden. Inzwischen liegen weltweit Daten von über 2000 Patienten vor. Sie bestätigen mit einer durchschnittlichen kompletten Remission von 84 Prozent innerhalb der ersten drei Monate annähernd das Ergebnis der ersten Untersuchung. Es wird vermutet, daß all-trans-Retinsäure die Differenzierung unreifer neoplastischer Zellen zu reifen Granulozyten vorantreibt. Die FDA hat auf diese Ergebnisse reagiert. Sie hat all-trans-Retinsäure inzwischen zur Behandlung der akuten promyeloischen Leukämie zugelassen, falls eine herkömmliche Chemotherapie keinen Erfolg zeigt.
Bis jetzt wenig ermutigende Ergebnisse bei anderen Krebsformen
So beeindruckend diese Ergebnisse allerdings sind, muß dennoch berücksichtigt werden, daß die akute promyeloische Leukämie eine äußerst seltene Blutkrebserkrankung ist. Motiviert durch diese Ergebnisse wurde all-trans-Retinsäure deshalb bei einer Vielzahl anderer maligner hämatologischer Krankheitsbilder, wie dem myeloplastischen Syndrom, dem multiplen Myelom oder der juvenilen chronischen myelogenen Leukämie eingesetzt - allerdings ohne Erfolg.
Der Effekt von Retinoiden bei soliden Tumoren wird derzeit in zahlreichen Phase-II-Studien untersucht. Sie werden als Monotherapeutika, meist aber in Kombination mit anderen Substanzen, beispielsweise Interferon alfa, untersucht. Cis-Retinsäure und all-trans-Retinsäure haben lokal oder systemisch appliziert zu einem partiellen Ansprechen bei einigen Hauttumoren geführt. Insgesamt sind die Ergebnisse allerdings wenig ermutigend.
Weniger Toxizität durch höhere Selektivität
Ein Handicap der Retinoid-Therapie für die Behandlung maligner Erkrankungen, aber auch Hauterkrankungen, war und ist die Toxizität der Wirkstoffe und das erhebliche Risiko an Nebenwirkungen. Das Augenmerk liegt deshalb verstärkt auf selektiven Retinoidrezeptor-Agonisten. Ausgangspunkt für diese Entwicklung war die Entdeckung, daß zwei nukleäre Retinoidrezeptoren, der Retinsäurerezeptor (RAR) und der Retinoid-X-Rezeptor (RXR) die entscheidenden Mediatoren der Retinoidwirkung auf die Genexpression sind. Von Retinoiden, die selektiv an diesen Rezeptoren angreifen, verspricht man sich neben einer verbesserten Wirksamkeit auch eine geringere Toxizität. Das erste RXR-selektive Retinoid LGD 1069 (Targretin(r)) wird bereits in klinischen Studien untersucht.
Retinoidrezeptor-Antagonisten könnten möglicherweise bei gleichzeitiger Gabe mit Retinoid-Agonisten das Nebenwirkungsrisiko senken. Noch ist dies allerdings Zukunftsmusik. Doch die künftigen Forschungen werden sich auf zweierlei konzentrieren: die Therapie mit neuen Retinoiden sowie auf die Kombination von Retinoiden mit anderen therapeutischen Regimes, wie der Gabe von Vitamin D3 und Zytostatika, oder einer Radiotherapie.
Literatur
Sun, S.-Y., R. Lotan: Retinoids as chemopreventive and therapeutic agents. Drugs of the Future 23 (6) 621-634 (1998).
Dr. Beate Fessler, München
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.