Glucagon-like-Peptide-1-Rezeptor-Agonisten

GLP-1-Rezeptor-Agonisten sollten vor Operationen abgesetzt werden!

Stuttgart - 17.06.2024, 10:45 Uhr

Unter GLP-1-Rezeptor-Agonisten entleert ich der Mageninhalt langsamer - das kann bei Operationen gefährlich werden. (Foto: Romaset/AdobeStock)

Unter GLP-1-Rezeptor-Agonisten entleert ich der Mageninhalt langsamer - das kann bei Operationen gefährlich werden. (Foto: Romaset/AdobeStock)


Zur Wirkung von Glucagon-like-Peptide-1(GLP-1)-Agonisten gehört auch, dass sie die Entleerung des Magens verlangsamen. Anästhesisten bereitet das allerdings Kopfzerbrechen. Denn Fallberichte und erste Studien schildern, dass trotz Nüchternheit Mageninhalt während Operationen wieder aufstoßen kann. Jetzt haben die zuständigen deutschen Fachgesellschaften reagiert und empfehlen eine Medikamentenpause vor elektiven Eingriffen.

Jede Operation birgt Risiken – einerseits durch den Eingriff selbst und andererseits durch die gesundheitliche Verfassung des Patienten. Deshalb muss vor jedem elektiven Eingriff eine eingehende Anamnese und körperliche Untersuchung durchgeführt werden. Dabei wird beispielsweise besonders auf das Alter, Herzerkrankungen, die Lungenfunktion und das Schlaganfall- sowie Delirrisiko geachtet. 

Ein Blick in die Medikation der Patienten gibt ebenfalls Aufschluss über das perioperative Risiko. Kürzlich sind hier die GLP-1-Agonisten in den Fokus geraten.

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Die Antidiabetika entfalten ihre Wirkung als Analoga am Rezeptor des Glucagon-like-Peptide 1, das im Gastrointestinaltrakt gebildet wird. Dadurch wird mehr Insulin und weniger Glucagon freigesetzt und der Appetit reduziert, was zu einer besseren Kontrolle des Blutzuckerspiegels und zur Gewichtsabnahme führt. Auch der Magen entleert sich langsamer, besonders zu Therapiebeginn. Zentrale Effekte der GLP-1-Agonisten und eine erhöhte Vagusaktivität scheinen dafür verantwortlich zu sein [1]. Dies trägt ebenfalls zur antidiabetischen Wirkung bei, da Glucose so nur langsamer resorbiert werden kann.

Die verzögerte Magenentleerung besorgt allerdings auch die Anästhesisten weltweit. In letzter Zeit tauchten immer wieder Fallberichte auf, die ein Zurückfließen von Mageninhalt (Regurgitation) während operativer Eingriffe unter GLP-1-Agonisten schilderten. Zum Beispiel der Fall einer 48-jährigen Patientin in Kanada [2]: Obwohl sie 20 Stunden vor der Operation nichts mehr gegessen und 8 Stunden davor nichts mehr getrunken hatte, stieß sie während des Eingriffs „ein großes Volumen an Mageninhalt” wieder auf. Die Frau war eigentlich keine Risikopatientin. Der einzige Anhaltspunkt für das Vorkommnis war die Therapie mit Semaglutid, das sie sich wöchentlich spritzte.

Was die Fallberichte andeuteten, zeigte kürzlich auch eine Querschnittstudie, die im Fachjournal JAMA Surgery veröffentlicht wurde [3]. An einem amerikanischen Universitätskrankenhaus befolgten 124 Patienten die dort übliche Nahrungskarenz vor einem operativen Eingriff (acht Stunden keine Mahlzeit, zwei Stunden keine Getränke). Die Hälfte von ihnen injizierte sich wöchentlich einmal einen GLP-1-Rezeptor-Agonisten. Das Mittel wurde nicht abgesetzt. Bei mehr als der Hälfte (56%) der mit den Antidiabetika behandelten Patienten wurden im Ultraschall vermehrte Nahrungsrückstände im Magen festgestellt, dagegen nur bei 19% der Kontrollen. 

Nach dem Ausschluss von Einflussgrößen wie Alter oder Body-Mass-­Index erhöhten die GLP-1-Agonisten die Prävalenz von erhöhten Nah­rungs­­mittelresten immer noch um 30%.

Problem während der OP: Aspirationsgefahr

Der aufsteigende Mageninhalt kann während einer Operation in die Lunge gelangen und im schlimmsten Fall zu einer Aspirationspneumonie führen. Eine im März veröffentlichte retrospektive Studie errechnete in den Daten von knapp einer Million Patienten ein um ein Drittel erhöhtes Risiko für eine solche Lungenentzündung durch die GLP-1-Agonisten [4]. Besonders gefährdet sind womöglich Diabetiker, da eine verzögerte Magenentleerung auch unabhängig von einer Therapie mit GLP-1-Agonisten als Langzeitkomplikation der Erkrankung auftritt und durch die Wirkstoffe verstärkt werden kann [1].

Zum Weiterlesen

Kein anderes Arzneimittel sorgte im Jahr 2023 für mehr Furore als der GLP-1-Agonist Semaglutid. Die Hintergründe, die diese immense Aufmerksamkeit verursacht haben, beschreibt Prof. Dr. Gerd Bendas in seinem Artikel „Vom Anti­diabetikum zum Lifestyle-Arzneimittel. Wie sich die Sicht auf Semaglutid verändert“ in DAZ 2024, Nr. 15, S. 48.

Fachgesellschaften reagieren

Auch wenn die Datenlage zu dem Phänomen derzeit immer noch eingeschränkt ist, hat die American Society of Anesthesiologists letztes Jahr Empfehlungen zum Pausieren der GLP-1-Agonisten vor operativen Eingriffen gegeben, die auch die Deutschen Fachgesellschaften jetzt übernommen haben [5]. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie und die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin haben ihre Empfehlungen zur „präoperativen Evaluation erwachsener Patientinnen und Patienten vor elektiven, nicht herz-thorax-chirurgischen Eingriffen“ überarbeitet und raten jetzt zu folgender Medikamentenpause [6]:

  • Täglich eingenommene GLP-1-Agonisten (z. B. Semaglutid p. o., Rybelsus®) sollen am Tag der OP nicht angewendet werden.
  • Einmal wöchentlich angewendete GLP-1-Agonisten (z. B. Semaglutid s. c., Ozempic®) sollen spätestens eine Woche vor der Operation das letzte Mal injiziert werden.

Nach dem Absetzen ist eine engmaschige Kontrolle des Blutzuckerspiegels erforderlich. Diese Empfehlungen gelten unabhängig davon, ob das Mittel aufgrund eines Typ-2-Diabetes eingesetzt wird oder zur Gewichtsreduktion. Wurde das Medikament nicht abgesetzt oder berichten die Patienten von gastrointestinalen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen oder abdominellen Schmerzen, seien sie den Empfehlungen zufolge als nicht nüchtern anzusehen. In diesem Fall müsse das Risiko individuell beurteilt und der elektive Eingriff gegebenenfalls verschoben werden.

Differenziertes Vorgehen

Prof. Dr. Christian Zöllner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und des Zentrums für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, der federführend an den Empfehlungen mitgearbeitet hat, betont in einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin [7]: „Um die höchste Patientensicherheit zu gewährleisten, erfordert die zunehmende Verbreitung von GLP-1-Agonisten ein differenziertes Vorgehen bei der präoperativen Risikoevaluation und der Narkosedurchführung.“ Dabei stelle für GLP-1-Agonisten, die nur einmal pro Woche appliziert werden, die Absprache mit der Patientin oder dem Patienten sowie der betreuenden Hausärztin beziehungsweise dem Hausarzt in der praktischen Anwendung eine Herausforderung dar. „In der Vorbereitung einer Operation wird diese Abstimmung weiter an Bedeutung zunehmen“, erklärt Zöllner. |

Literatur

[1] Gariani K, Putzu A. Glucagon-like peptide-1 receptor agonists in the perioperative period: Implications for the anaesthesiologist. Eur J Anaesthesiol 2024;41(3):245-246, doi: 10.1097/EJA.0000000000001914

[2] Gulak MA, Murphy P. Regurgitation under anesthesia in a fasted patient prescribed semaglutide for weight loss: a case report. Can J Anaesth. 2023;70(8):1397-1400, doi: 10.1007/s12630-023-02521-3

[3] Sen S et al. Glucagon-Like Peptide-1 Receptor Agonist Use and Residual Gastric Content Before Anesthesia. JAMA Surg 2024:e240111, doi: 10.1001/jamasurg.2024.0111

[4] Yeo YH et al. Increased Risk of Aspiration Pneumonia Associated With Endoscopic Procedures Among Patients With Glucagon-like Peptide 1 Receptor Agonist Use. Gastroenterology 2024:S0016-5085(24)00298-1, doi: 10.1053/j.gastro.2024.03.015

[5] Joshi GP et al. American Society of Anes­thesiologists Consensus-Based Guidance on Preoperative Management of Patients (Adults and Children) on Glucagon-Like Peptide-1 (GLP-1) Receptor Agonists. Pressemitteilung der American Society of Anesthesiologists, 29. Juni 2023, www.asahq.org/about-asa/newsroom/news-releases/2023/06/american-society-of-anesthesiologists-consensus-based-guidance-on-preoperative#/

[6] Zöllner C. Präoperative Evaluation erwachsener Patientinnen und Patienten vor elektiven, nicht herz-thoraxchirurgischen Eingriffen: Eine gemeinsame Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. Anaesthesiologie 2024;73(5):294-323, doi: 10.1007/s00101-024-01408-2

[7] Operationsrisiken bei GLP-1-Agonisten: DGAI veröffentlicht Empfehlungen zum präoperativen Umgang. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. 10. Mai 2024. www.dgai.de/aktuelles-patientinnen-projekte/pressemitteilungen/


Dr. Tony Daubitz, Apotheker
redaktion@daz.online


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Erst Augencheck, dann Semaglutid

1 Kommentar

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von keOpjQysDrFaZRB am 19.06.2024 um 20:49 Uhr

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