Nutzenbewertung des IQWiG bei schwerer Tabakabhängigkeit

Erstattet die gesetzliche Krankenversicherung bald Vareniclin und Nikotin?

Stuttgart - 09.01.2024, 14:58 Uhr

Wer schwer tabakabhängig ist, wird von der gesetzlichen Krankenversicherung bald finanziell unterstützt. (Foto: Shisu_ka / AdobeStock)

Wer schwer tabakabhängig ist, wird von der gesetzlichen Krankenversicherung bald finanziell unterstützt. (Foto: Shisu_ka / AdobeStock)


Künftig sollen die Kosten für Arzneimittel bei schwerer Tabakabhängigkeit von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Welche Arzneimittel das sein werden, muss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) noch entscheiden. Richtet er sich nach der von ihm beauftragten und jetzt erschienenen Nutzenbewertung des IQWiG, sind Vareniclin und Nikotin in der Apotheke bald auch auf Kassenrezept erhältlich. Wissenswertes zu Champix, Nicorette und Co. lesen Sie hier.

Welche Arzneimittel zur Tabakentwöhnung können unter welchen Voraussetzungen auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden? Bislang noch keine, das wurde ursprünglich im Sozialgesetzbuch so festgelegt (§ 34 Abs. 1 Satz 7 SGB V). Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung hat der Gesetzgeber am 11. Juni 2021 allerdings den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) damit beauftragt, zu evaluieren, welche Arzneimittel künftig bei schwerer Tabakabhängigkeit einmalig von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden sollen – im Rahmen von evidenzbasierten Programmen zur Tabakentwöhnung [1,2]. In der Folge hat wiederum der G-BA am 18. März 2022 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) „mit der Nutzenbewertung von Bupropion, Cytisin, Nicotin und Vareniclin zur Tabakentwöhnung bei schwerer Tabakabhängigkeit beauftragt“. 

Der entsprechende Abschlussbericht wurde nun am 8. Januar 2024 veröffentlicht. Eine begleitende Pressemitteilung macht deutlich, dass die Bewertung nicht leicht war. 

So wurde die Eingrenzung auf die „schwere Tabakabhängigkeit“ mehrfach als zu eng kritisiert. „Beispielsweise unterscheide man aus Sicht einzelner Stellungnehmender bei anderen Suchterkrankungen wie z. B. der Alkoholabhängigkeit nicht nach leichter, mittlerer oder schwerer Abhängigkeit. Vielmehr gelte hier das Entweder-oder-Prinzip ohne Graduierung“, heißt es. Andererseits werde auch in der wissenschaftlichen Literatur die schwere Tabakabhängigkeit von weniger schweren Formen abgegrenzt. Deshalb müsse der G-BA nun auch Kriterien festlegen, ab wann jemand als schwer tabakabhängig gilt, wenn er abschließend darüber entscheidet, welche Wirkstoffe künftig durch die gesetzliche Krankenversicherung erstattet werden können [3].

IQWiG empfiehlt Vareniclin und Nikotin

Die Nutzenbewertung des IQWiG bietet für die G-BA-Entscheidung die Grundlage. Darin hat das IQWiG Bupropion, Cytisin, Nicotin und Vareniclin im Vergleich zu keiner medikamentösen Therapie bewertet, also nicht die Wirkstoffe direkt miteinander verglichen. Das IQWiG kommt zu dem Schluss, dass es jeweils nur für Nicotin und Vareniclin einen Beleg für einen höheren Nutzen gegenüber der nicht medikamentösen Vergleichsintervention gibt. Zu Bupropion, Cytisin oder verschiedenen Kombinationen aus Bupropion, Cytisin, Vareniclin und Nicotin sei hingegen keine Aussage möglich – auch weil Hersteller die Daten, die für eine Bewertung nötig gewesen wären, nicht übermittelten, heißt es [3,4]. 

Damit ist es wohl am wahrscheinlichsten, dass Vareniclin und Nikotin künftig von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden. Nikotin wäre dann schon ab einem Alter von 12 Jahren (nicht alle Applikationsformen!) und auch in der Schwangerschaft anwendbar. Vareniclin hingegen erst ab 18 Jahren.

Vareniclin und seine Nebenwirkungen

Für Vareniclin wurden vom IQWiG 20 Studien ausgewertet. Daraus gehe hervor, dass sowohl nach sechs und nach zwölf Monaten Behandlung Raucher:innen häufiger rauchfrei waren als Betroffene ohne medikamentöse Therapie. Allerdings muss unter Vareniclin mit 

  • neuropsychiatrischen Nebenwirkungen (z. B. Schlafstörungen, abnorme Träume, Reizbarkeit),
  • Fatigue und
  • Übelkeit sowie
  • Mundtrockenheit und
  • Kopfschmerzen

gerechnet werden. Das kann das Risiko für einen Therapieabbruch erhöhen. Die möglichen Nebenwirkungen stellen den Nutzen der Vareniclin-Therapie laut IQWiG aber nicht infrage. Das sind gute Nachrichten für alle Raucher:innen, also auch nicht „schwer“ Abhängige, welche Vareniclin künftig wohl nicht erstattet bekommen werden. Denn wie das IQWiG erklärt, hatte die Schwere der Tabakabhängigkeit „keinen erkennbaren Einfluss auf die Studienergebnisse zur Wirkung von Vareniclin“ [3,4].

Nikotin hilft unabhängig vom Schweregrad der Tabakabhängigkeit

Für Nikotin wertete das IQWiG 43 Studien aus. Darin wurden Schwangere und Jugendliche nicht speziell berücksichtigt. Das IQWiG geht jedoch auf Basis „hochwertiger systematischer Übersichten“ davon aus, dass die Ergebnisse der Nutzenbewertung auch auf diese Subpopulationen übertragbar sind. Während bei Vareniclin der höhere Nutzen sowohl nach sechs als auch nach zwölf Monaten als belegt gilt, beschreibt das IQWiG bei Nikotin nur nach sechs Monaten einen höheren Nutzen der medikamentösen Therapie gegenüber der nicht-medikamentösen. Nach zwölf Monaten gibt es aber auch einen „Anhaltspunkt für einen höheren Nutzen“. Wie bei Vareniclin können unter Nikotin-Therapie höhere Abbruchraten und Nebenwirkungen berichtet werden. Zu den Nebenwirkungen zählen 

  • Kopfschmerzen,
  • Übelkeit,
  • Reizungen im Mund- und Rachenraum sowie
  • Juckreiz.

Doch auch beim Nikotin betont das IQWiG, dass der Nutzen die Risiken einer Nikotin-Therapie überwiegt – unabhängig vom Schweregrad der Tabakabhängigkeit [3,4]. 

Wissenswertes für die Beratung in der Apotheke

Vareniclin ist in Deutschland laut Lauer-Taxe in dem Handelspräparat Champix® enthalten und war in den vergangenen Jahren aufgrund der Nitrosamin-Krise von Lieferengpässen betroffen. 

Update vom 15. Januar 2024

Aktuell ist Champix® nicht verfügbar. Auf Anfrage teilte der Hersteller Pfizer der DAZ mit, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Prognose zur Verfügbarkeit von Champix® in Deutschland getroffen werden könne. Man arbeite eng mit Sicherheitsbehörden zusammen, um das Präparat zur Verfügung zu stellen.

Vareniclin bindet wie Nikotin an neuronale α4β2-nikotinerge Acetylcholinrezeptoren – allerdings als partieller Agonist. Das heißt, Vareniclin wirkt einerseits schwächer als Nikotin agonistisch, in Gegenwart von Nikotin aber auch antagonistisch. So kann Vareniclin verhindern, dass der weitere Nikotin-Konsum zu einer Aktivierung des Dopaminsystems führt. Das Belohnungsgefühl einer Zigarette bleibt in der Folge aus, bei Verzicht auf Zigaretten wird ein Entzugsgefühl dennoch gelindert [5].

Nikotin wird laut Lauer-Taxe in Präparaten wie beispielsweise Nicorette®, Nicotinell® und Niquitin® in verschiedenen Stärken und Darreichungsformen angeboten: als 

  • Kaugummi,
  • Spray,
  • Lutschtabletten

mit verschiedenen Geschmacksrichtungen sowie als 

  • Inhalationssysteme und
  • Pflaster.

Während Nikotin unabhängig von der künftigen Erstattung auch jetzt schon in der Apotheke in Form von apothekenpflichtigen Präparaten zur Raucherentwöhnung empfohlen werden kann, muss Vareniclin von Ärzt:innen verordnet werden.

Literatur 

[1] Mitteilung des G-BA. Arzneimittel zur Tabakentwöhnung: G-BA nimmt Beratungen auf. 18. März 2022, www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1034/

[2] Müller C. Arzneimittel zur Tabakentwöhnung bald auf Kassenkosten? DAZ.online 22.03.2022, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/03/22/arzneimittel-zur-tabakentwoehnung-bald-auf-kassenkosten

[3] Mitteilung des IQWiG. Tabakentwöhnung bei schwerer Tabakabhängigkeit: Nutzen für zwei von vier Wirkstoffen belegt. 08.01.2024, www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_109120.html

[4] Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Nutzenbewertung von Bupropion, Cytisin, Nicotin und Vareniclin zur Tabakentwöhnung bei schwerer Tabakabhängigkeit; Abschlussbericht, Stand 07.12.2023, https://dx.doi.org/10.60584/A22-34

[5] Fachinformation von Champix® 0,5 mg / 1 mg Filmtabletten, Stand November 2020, www.fachinfo.de/


Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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