Sozialgericht bestätigt Nullretax

Fast 10.000 Euro Retax wegen 11 Euro Schaden

Berlin - 10.07.2023, 15:30 Uhr

(Foto: AdobeStock / Sebastian Duda)

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Das sind die Fälle, die Apotheken verzweifeln lassen – und mit denen glücklicherweise bald Schluss sein wird: Jahrelang lang stritt ein Apotheker mit einer Krankenkasse um die Bezahlung einer Rechnung über rund 10.000 Euro. Nun hat das Sozialgericht Lübeck entschieden, dass die Kasse zu Recht auf Null retaxiert hat, weil kein Rabattarzneimittel abgegeben wurde. Dabei lag der tatsächliche Schaden offenbar nur bei 11 Euro.

Seit ziemlich exakt zehn Jahren sind die Vorgaben der Rechtsprechung klar: Krankenkassen dürfen Apotheken, die ohne erkennbaren Grund und trotz eines bestehenden Rabattvertrags nicht das Rabattarzneimittel, sondern ein anderes Präparat abgeben, auf Null retaxieren. Dies entschied im Juli 2013 das Bundessozialgericht in zwei Musterprozessen. Was im bürgerlichen Recht, dem Vertragsrecht, nicht denkbar wäre, hielten die Sozialrichter im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung für zulässig. Hier stehe der Kasse ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zu – und zwar ohne jeden Abzug, weil der Apotheke im Fall der Missachtung des Substitutionsgebots kein Vergütungsanspruch entstanden sei.

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Das Urteil erschütterte die Apothekerschaft – und machte für die Krankenkassen den Weg für Nullretaxationen im großen Stil frei. Trotzdem versuchten Apotheken immer wieder, die aufrechnenden Kassen auf dem Klagewege zu stoppen. Besonders fuchste sie, dass in der Regel im Dunkeln blieb, was den Kassen durch nicht beachtete Rabattverträge wirklich entging – die mit den Herstellern ausgehandelten Nachlässe sind schließlich nicht öffentlich.

Hamburger Apotheker wehrte sich gegen Humira-Nullretax

Auch ein Apotheker aus Hamburg wollte nicht akzeptieren, dass die Hanseatische Krankenkasse ihn auf fast 10.000 Euro hat sitzen lassen. Im Juli 2018 – vor fünf Jahren – hatte er ein Rezept über 2x Humira 40 mg 6 Fertigspritzen N3 (PZN 12399059) erhalten. Hierbei handelt es sich um ein Produkt, für das ein Rabattvertrag der beklagten Kasse mit dem Hersteller existierte – daneben gab es acht weitere Verträge über wirkstoffgleiche Produkte anderer Hersteller. Die Apotheke gab jedoch ein wirkstoffgleiches Produkt ab, für das kein Rabattvertrag existierte.

Zunächst zahlte die HEK die Rechnung abzüglich Apothekenrabatt. Doch im Februar 2019 teilte sie dem Apotheker mit, dass sie die Abrechnung beanstande und daher 9.790,66 Euro mit künftigen Forderungen verrechnen werde (Differenz zwischen dem Verkaufspreis und dem Apothekenrabatt). Der Apotheker erhob in der Folge Einspruch und Widerspruch. Er reichte Bestätigungen des Großhandels nach, dass das verordnete Arzneimittel nicht lieferbar gewesen sei. Ein Großhändler erklärte dies auch für eines der Rabattarzneimittel, ein anderer für vier, ein weiterer für acht der insgesamt neun rabattierten Produkte. Das reichte der Kasse alles nicht. Sie rechnete auf und so erhob der Pharmazeut im Juni 2020 Klage. Er berief sich dabei auf verschiedene Gründe, unter anderem verstrichene Fristen des Arzneiversorgungsvertrags (AVV) und den Umstand, dass der Kasse kein relevanter Schaden entstanden sei. 

Sozialgericht Lübeck weist Klage ab

Nach jahrelangem Hin und Her hat das Sozialgericht Lübeck die Klage jetzt abgewiesen – und sich dabei vor allem auf die eingangs genannte grundlegende Entscheidung des Bundessozialgerichts berufen. Die Apotheke sei danach verpflichtet, „bei jeder Verordnung selbständig zu prüfen, ob Arzneimittel existieren, für die eine Rabattvereinbarung besteht, und diese vorrangig abzugeben“. Ein nicht rabattiertes, gleichartiges Produkt dürfe sie nur dann abgeben, wenn kein rabattiertes Arzneimittel verfügbar sei. Und die Nichtverfügbarkeit müsse gemäß § 4 Abs. 8 AVV auf der Abrechnung vermerkt sein – und sei auf Nachfrage nachzuweisen. Der Vermerk fehlte, die Nachweise reichten auch dem Gericht nicht. Die Begründung ist somit letztlich nicht wirklich verwunderlich, aber weiterhin sehr schwer bis gar nicht verständlich.

Im Zuge der Gerichtsverhandlung wurde sogar bekannt, wie hoch der Schaden für die Kasse war – im Urteil ist von einem „niedrigen zweistelligen“ Betrag die Rede. De facto sollen es 11 Euro gewesen sein. Doch das Gericht betont ausdrücklich, dass der tatsächliche Schaden nicht von Relevanz sei. Dazu führt es aus:


„Zunächst ist ein solcher Schaden regelmäßig aufgrund der Struktur der Rabattverträge nicht für den einzelnen Versorgungsfall zu beziffern. Denn der Rabatt beschränkt sich nicht auf den – hier nur sehr geringfügig niedrigeren – Abgabepreis für das einzelne Arzneimittel. Vielmehr sehen die Rabattverträge auch gestufte Rabatte für insgesamt aufgrund des Vertrages abgegebene Produkte vor. Diese fallen bei bestimmten Abgabemengen an und können nicht unmittelbar der einzelnen Arzneimittelversorgung zugeordnet werden. Die Pflicht zur Abgabe rabattierter Arzneimittel dient damit nicht nur der Einsparung bei individuellem Abgabepreis, sondern auch dazu, insgesamt durch die Abgabe einer größeren Anzahl Medikamente des gleichen Herstellers weitere Rabatte für die Versichertengemeinschaft zu erzielen. Die gesetzliche Regelung dient also dem Schutz des Rabattsystems als solchem“.

Aus dem Urteil des Sozialgerichts Lübeck, Az.: S 51 KR 281/20    


Künftig wird es solche Urteile hoffentlich nicht mehr geben. Denn in den kommenden Tagen soll das Arzneimittellieferengpass- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) in Kraft treten. Und dieses sieht in einem neuen Absatz des § 129 SGB V eine Reihe von Retaxausschlüssen beziehungsweise -einschränkungen vor. Das betrifft auch den Fall, dass eine Apotheke trotz existierendem Rabattvertrag kein Rabattvertragsarzneimittel abgegeben hat. Dann ist „eine Retaxation des abgegebenen Arzneimittels ausgeschlossen“, heißt es künftig in Absatz 4d. In diesen Fällen besteht dann lediglich kein Anspruch auf die Vergütung nach der Arzneimittelpreisverordnung (Fixzuschlag von 8,35  Euro plus 3 Prozent). Rückwirkend soll die Regelung allerdings nicht gelten.

Sozialgericht Lübeck, Az.: S 51 KR 281/20    



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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11 Kommentare

Verdienst der Krankenkassen

von Dorf-Apothekerin am 12.07.2023 um 18:22 Uhr

Dass Krankenkassen bei der Abgabe bestimmter Firmen verdienen wäre nicht der erste Fall. Es ist schon einige Zeit her, dass mir das an anderer Stelle auffiel. Wer weiß, was die KK verdienen, wenn die Mitarbeiter für Migranten Busenvergrößerungen genehmigen müssen!!! Wir haben doch gar keine kriminelle Fantasie um uns die Möglichkeiten auszudenken, die im Hintergrund laufen um Geldquellen sprudeln zu lassen.

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Austauschbarkeit Biosimilar?

von HCA am 12.07.2023 um 8:19 Uhr

Patentablauf für Humira war in Dtl. im Oktober 2018, was gab es denn im Juli 2018 schon für wirkstoffgleiche Produkte? Davon abgesehen dürfen Biosimilars in der Apotheke nicht ausgetauscht werden. Was hab ich verpasst?

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Austauschbarkeit Biosimilar

von DAZ-Redaktion am 12.07.2023 um 10:57 Uhr

Es gab Rabattverträge über Importe auch schon vor dem Patentablauf. Zwischen Import und Original ist auch der Austausch kein Problem, weil sie als identisch gelten.

Unveränderlich?

von Karl Friedrich Müller am 11.07.2023 um 11:24 Uhr

Es muss doch möglich sein, den Vertrag zu kündigen? Wenn hier der DAV einen Fehler gemacht hat, kann man das doch nicht auf sich beruhen lassen?

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Exempel

von Dr. House am 11.07.2023 um 10:37 Uhr

Spannend, das im Hinblick auf den Zusammenbruch der Lieferketten immer noch die Erhaltung des Rabattsystems höchste Priorität hat und hier die harten Exempel statuiert werden. Was anderes ist es doch nicht.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Nullretax

von Peter Füssel am 11.07.2023 um 10:21 Uhr

Es gibt nur 3 Kassen, die solche Sauereien machen : HEK,KKH und DAK. Bei mir werden die Patienten dann eben abgewiesen, wenn kein Dj draufsteht oder kein Rabattartikel lieferbar ist.. Beliefern auf Risiko einer existenzbedrohenden Retaxierung kann man von uns nicht verlangen.
Bei AOK, Techniker und einigen anderen gibt es diese Schikanen nicht.
Dem Patienten hilft nur der Wechsel der KK.

Peter Füssel
Schlehen-Apotheke
51766 Engelskirchen

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Viele ungeklärte Fragen

von Daniela Hänel am 10.07.2023 um 21:37 Uhr

Mir ist das zu knapp recherchiert.

Ein Rabatt von 11 Euro, aufgrund eines ausgehandelten Rabattvertrages, passt nicht zum Zwangsrabatt der pharm. Hersteller, der bis Ende letzten Jahres bei 7 Prozent auf dem Herstellerabgabepreis lag.
Das bedeutet, dass die Krankenkasse eigentlich mit dem Rabattvertragserlös von 11 Euro weniger spart, als wenn der Zwangsrabatt vom Nichtrabatt-AM genutzt worden wäre.

Weiterhin frage ich mich, ob die Krankenkasse die Zuzahlung, den Apotheken- und Herstellerzwangsrabatt einbehalten oder dem Apotheker, der das Arzneimittel für den Patienten bezahlt hat, wenigstens erstattet bekommt.
Sonst würde die Krankenkasse ja Geld verdienen ohne eine Leistung zu erbringen und die Kosten auf den Leistungserbringer abwälzen… eigentlich ein Skandal.
Deshalb wäre eine genaue Klarstellung so unheimlich wichtig!

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Null-Retax

von Dorf-Apothekerin am 10.07.2023 um 21:06 Uhr

In der Montagszeitung der DAZ vom 25.05.2020 gibt es einen Artikel: Kulanz versus Null-Retax
Gericht verurteilt Krankenkasse zu ermessensfehlerfreier Entscheidung
Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 25.Februar 2020, AZ.: S 6 KR 251/18
Mit Hilfe dieses Urteils konnte ich mindestens eine höhere Nullretaxation abwenden. Ein Versuch ist es wert.
Die DAZ wird den kompletten Artikel sicher zur Verfügung stellen können. Ich bin nicht so technisch versiert ihn einzuscannen.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Null-Retax

von Kirsten Sucker am 11.07.2023 um 16:52 Uhr

Ist auf jeden Fall ein Ansatz. Reicht vielleicht auch der Online-Link? https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/05/19/null-retax-apotheke-hat-anspruch-auf-ermessensfehlerfreie-kassen-entscheidung-nbsp

Hat alten Namen

von ratatosk am 10.07.2023 um 18:52 Uhr

Vae victis - Die Kassen haben sich hier Staat und Justus gefügig gemacht. Wird natürlich anders bezeichnet, damit es nicht so erbärmlich rüberkommt.
Wenn aber praktisch niemand mehr solche Dinge mitträgt, kommt die Winkeladvokaite an ihr Ende, leider aber auch die nötige Bereitschaft der Bevölkerung das Recht aus eignen Antrieb im Grunde zu unterstützen. Dies ist ein immenser Preis dafür, es ein paar GKV Apparatschiks abzusahnen.
Denn nur mit Strafe kann kein Rechtssystem auf Dauer überleben.

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?????

von Dr. Radman am 10.07.2023 um 16:27 Uhr

Es trifft der Kasse ode das Gericht gar keine Schuld . Verträge sind Verträge. Die eigentlichen Verbrecher sind diejenigen, die solche Verträge unterschrieben haben. Wann entschuldigen sie sich dafür?

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