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Die Sicherheit von Titandioxid wird bereits seit dem Jahr 2010 diskutiert, aber erst in den vergangenen Jahren hat die Diskussion auch zu regulatorischen Konsequenzen geführt. Ein Teil davon wurde von der Chemie-Industrie jetzt erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) angefochten. Doch die Unbedenklichkeit von Titandioxid wurde damit nicht bewiesen.
Seit dem 7. August dürfen in der EU keine Lebensmittel mehr neu in den Handel gebracht werden, die Titandioxid enthalten. Das ist für die Pharmazie nicht nur interessant, weil davon auch Nahrungsergänzungsmittel betroffen sind – sondern auch, weil die europäische Arzneimittelbehörde EMA bis April 2024 eine weitere Bewertung von Titandioxid durchführen will: Wenn bis dahin Titandioxid nicht auch in Arzneimitteln ersetzt wird, sollen nur noch „objektive, nachprüfbare Gründe für die Undurchführbarkeit seiner Ersetzung berücksichtigt werden“.
Die Pharmaindustrie hat bereits begonnen, sich auf dieses Szenario vorzubereiten.
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Als die DAZ im September 2019 erstmals über die Titandioxid-Problematik berichtete, ging es zunächst tatsächlich gar nicht um Titandioxid in Lebensmitteln oder gar Arzneimitteln. Damals bewegte das Thema noch vor allem die Chemie-Industrie, denn EU-weit sollte der Stoff in Pulverform künftig einen Warnhinweis tragen, dass er krebserregend ist. Und zwar, wenn er eingeatmet wird – von einem Verbot war also (noch) nicht die Rede.
Vertreter:innen der Chemie-Industrie fürchteten jedoch, dass der neue Warnhinweis ähnliche Konsequenzen wie ein Verbot haben könnte. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) zweifelte gar an der wissenschaftlichen Grundlage für die Entscheidung der EU-Kommission. Und nach Auffassung des VCI handelt es sich nicht um eine stoffspezifische Wirkung des Weißpigments, sondern um eine allgemeine Wirkung von Stäuben auf die Lunge. Entsprechend sei es sinnvoller, europaeinheitliche Arbeitplatzgrenzwerte für schwer lösliche Stäube festzulegen, hieß es.
Chemie-Industrie ging 2020 juristisch gegen Warnhinweis vor
Im Jahr 2020 wurde dann deutlich, dass die Chemie-Industrie sogar juristisch gegen den neuen Warnhinweis vorgeht. Der Verband für Dämmsysteme, Putz und Mörtel meldete, dass mehrere Unternehmen der Farbindustrie Klage beim Europäischen Gerichtshof erhoben haben – und zwar „gegen die Einstufung als ‚möglicherweise krebserregend beim Einatmen‘“. Das Pulverlackunternehmen CWS-Powder Coatings sowie die Baufarbenhersteller DAW SE und Brillux wurden genannt. Der Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie hat sogar eine Internetseite (Forum Titandioxid) eingerichtet, auf der er aus seiner Sicht über Titandioxid informiert. Und so wird dort, genauso wie seit dem vergangenen Montag auch auf der Webseite der CWS-Powder Coatings, darüber berichtet, dass die EuGH-Klage gegen die Einstufung von Titandioxid erfolgreich war. Damit könne das Weißpigment Titandioxid „also weiterhin sicher eingesetzt und verwendet werden“, heißt es.
EuGH erkennt „offensichtlichen Fehler“ der EU-Kommission
In einer Presseinformation des EuGH ist zu lesen, dass die EU-Kommission „einen offensichtlichen Fehler“ bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit und der Anerkennung der grundlegenden Studie für den Warnhinweis begangen habe. Konkret sei in der betroffenen Studie nicht berücksichtigt worden, dass Titandioxid-Partikel dazu neigen, Agglomerate zu bilden. „Seine Schlussfolgerung, dass die Lungenüberlastung bei dieser Studie annehmbar gewesen sei, ist daher nicht plausibel“, heißt es.
Außerdem stellte das Gericht fest, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung gegen das Kriterium verstoßen habe, „wonach sich die Einstufung eines Stoffes als karzinogen nur auf einen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, beziehen darf“. Denn die Gefahr der Karzinogenität bestehe nur in Verbindung mit bestimmten lungengängigen Titandioxidpartikeln, wenn sie in einem bestimmten Aggregatzustand, einer bestimmten Form, einer bestimmten Größe und einer bestimmten Menge vorhanden sind – „sie zeigt sich nur bei einer Lungenüberlastung und entspricht einer Partikeltoxizität“, heißt es.
In Lebensmitteln verboten, in Arzneimitteln erlaubt
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Wie gefährlich ist orales Titandioxid?
Auf das Verbot von Titandioxid in Lebensmitteln (und potenziell zukünftig in Arzneimitteln) hat das Urteil jetzt also keine Auswirkung. Allerdings ist Titandioxid auch in manchen Sonnenschutzprodukten zum Aufsprühen enthalten, die somit eingeatmet werden könnten. Sind solche Produkte also unbedenklich?
Wie das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bereits in einem Dokument vom Mai 2021 erklärt, wird Titandioxid über die Haut nicht aufgenommen. Titandioxid in Nanoform wurde jedoch „in Anwendungen, die durch Inhalation zur Exposition der Lunge des Endverbrauchers führen können, in der EU-Kosmetikverordnung verboten“.
Weiterhin zahlreiche wissenschaftliche Unsicherheiten
Je nach Einsatzgebiet von Titandioxid gelten verschiedene gesetzliche Regelungen. Deshalb muss die Diskussion und das Urteil zur inhalativen Aufnahme auch von der Diskussion rund um Lebensmittel, Arzneimittel und die orale Aufnahme abgegrenzt werden. Denn erst am 6. Mai 2021 hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) ihre Bewertung zu möglichen gesundheitliche Risiken von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff veröffentlicht. Wie es hieß, wurden dabei fast 12.000 Publikationen berücksichtigt, dennoch konnte der Verdacht auf Genotoxizität bei oraler Aufnahme nicht entkräftet werden.
Allerdings basierten die Daten auf Tierexperimenten und mechanistischen Studien. Humanstudien und epidemiologische Untersuchungen lagen bis dahin nicht vor. Dabei ergaben sich zwar keine konkreten Hinweise, dass Titandioxid gefährlich sein könnte, jedoch besitze Titandioxid das Potenzial, sich in Geweben anzureichern, und es sei unklar, welche Einfluss Größe und Beschaffenheit der (Nano-)Partikel haben. Die Expertinnen und Experten der EFSA kamen also vor allem aufgrund „zahlreicher wissenschaftlicher Unsicherheiten“ zu dem Schluss, dass die Verwendung von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff nicht mehr länger als sicher angesehen werden kann.
Kein gezielt hergestelltes Nanomaterial zum Einsatz in Lebensmitteln zugelassen
Hinsichtlich Nanomaterialien bestehen grundsätzlich noch viele Unsicherheiten – nicht nur in Bezug auf Titandioxid. Das BfR hat seine Fragen und Antworten zu Nanomaterialien zuletzt im Oktober 2021 aktualisiert. Darin heißt es beispielsweise, dass Lebensmittel, die aus technisch hergestellten Nanomaterialien bestehen oder solche enthalten, in der EU – vorbehaltlich speziellerer Regelungen wie der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 über Lebensmittelzusatzstoffe – als neuartige Lebensmittel gelten. Sie brauchen daher eine Zulassung entsprechend der Verordnung über neuartige Lebensmittel (EU) 2015/2283. Allerdings wurde bisher in der EU kein gezielt hergestelltes Nanomaterial zum Einsatz in Lebensmitteln zugelassen. Jedoch haben verschiedene zugelassene Lebensmittelzusatzstoffe eine sehr breite Partikelgrößenverteilung, auch im Nanobereich – dazu zählt Titandioxid.
Aufnahme über die Atemwege muss bei Nanomaterialien kritisch betrachtet werden
Bislang ist dem BfR kein Fall bekannt, in dem Gesundheitsschäden nachweislich durch Nanomaterialien, welche in einem Verbraucherprodukt enthalten waren, ausgelöst wurden. Allerdings erklärt das BfR auch, dass gerade die Aufnahme über die Atemwege bei Nanomaterialien kritisch betrachtet werden müsse. „Denn dabei kann es zu entzündlichen Vorgängen in der Lunge kommen, die im chronischen Fall zu Organschädigungen und auch zur Tumorentstehung führen können“, heißt es. Ein kleiner Anteil könne zudem in weitere Organe gelangen, das gilt auch für die orale Aufnahme.
Damit lässt sich wohl schlussfolgern, dass Titandioxid keine brandgefährliche Substanz ist, eine Entwarnung gibt es aber auch nicht. Stattdessen bestehen weiterhin sehr viele Unsicherheiten in der Risikobewertung einer Substanz, die sehr breit in verschiedenen Industriezweigen zum Einsatz kommt.
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