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Schwarze Kassen und fingierte Erlöse
Wer führte AvP in die Pleite?
Seit Anfang September beschäftigt die Insolvenz des Apothekenrechenzentrums AvP die Branche, die Politik und nicht zuletzt auch die Ermittlungsbehörden. Immer wieder rückt dabei die Frage in den Fokus, wie es zu der folgenschweren Pleite kommen konnte. Im Gutachten von Insolvenzverwalter Dr. Jan-Philipp Hoos findet man dazu einen detaillierten Ermittlungsbericht, doch einer runden Geschichte gleicht dieser keinesfalls. Bei den „Forderungen aus Rabattverfall“ soll es einerseits um Luftbuchungen gehen – andererseits drohen ausgerechnet diese Beträge mit Blick auf eine mögliche Insolvenzmasse am Ende auch noch zu einer Luftnummer zu werden.
Mehr als 70 Jahre lang genoss das Rechenzentrum AvP das Vertrauen der Apotheker und anderer Leistungserbringer. Doch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in die das Unternehmen geriet und die zur jetzigen Situation führten, resultieren offenbar aus vorsätzlichen bis kriminellen Handlungen. Das geht aus dem Gutachten von Insolvenzverwalter Dr. Jan-Philipp Hoos hervor, das der Redaktion vorliegt. Aus Gesprächen mit Verfahrensbeteiligten, Beratern und Branchenkennern hat sich für Hoos ein Bild ergeben, welches er detailliert beschreibt.
Abrechnungsdienstleister
AvP-Insolvenz
Demnach hatte es innerhalb der AvP-Unternehmensgruppe seit „geraumer Zeit“ finanzielle Unregelmäßigkeiten gegeben. Nach außen getreten waren diese im Jahr 2018, als es zu strafrechtlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Düsseldorf gegen einen Geschäftsführer bei AvP kam. Diesen vorausgegangen waren auffällige Überweisungen von Konten der AvP Deutschland GmbH auf ein bei der Stadtsparkasse Düsseldorf geführtes Konto der Dialog im Gesundheitswesen GmbH. Der Geschäftsführer leitete zeitweise auch diese Schwestergesellschaft innerhalb der AvP-Gruppe. Das Konto fand wiederum in keinen Büchern Erwähnung und die Gelder wurden für keines der Unternehmen in der AvP-Gruppe betriebsbezogen verwendet.
Vielmehr nutzte der Geschäftsführer das Konto für private Zwecke – also gewissermaßen als „schwarze Kasse“. Dies ergaben eigene Ermittlungen der Stadtsparkasse Düsseldorf, woraufhin man am 19. August 2018 Geldwäscheanzeige erstattete. Die staatsanwaltlichen Ermittlungen wurden erst mehr als ein halbes Jahr später öffentlich, als am 11. April 2019 Geschäftsräume der AvP Deutschland GmbH und der Dialog im Gesundheitswesen GmbH durchsucht wurden. Die Ermittler brachte zutage, dass zwischen 2009 und 2018 rund 1,8 Millionen Euro von den Abrechnungskonten in die „schwarze Kasse“ abgezweigt wurden. Der Geschäftsführer soll sich ab 2010 bis zur Auflösung des Kontos im Jahr 2018 an rund 1,6 Millionen Euro bedient haben. Nachträglich abgeschlossene Darlehensverträge dienten der Vertuschung.
Fragwürdige Bilanzierungspraxis
Doch die Vorgeschichte zur AvP-Pleite endet nicht an dieser Stelle, denn der Fehlbetrag, um den es aktuell geht, ist weitaus größer. Das Gutachten von Insolvenzverwalter Hoos führt weiter durch die unrühmliche Chronik: Ende 2019 kam es zu einem Wechsel der bei der AvP Deutschland GmbH tätigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Der langjährige Abschlussprüfer Dr. Ralf Landwehrmann aus Bensheim an der Bergstraße legte sein Mandat nieder und wurde durch die Greis & Brosent GmbH aus Düsseldorf ersetzt. Die neue Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hinterfragte die Bilanzierungspraxis bei AvP und holte ein Gutachten ein. Dieses bestätigte den Verdacht, dass die Jahresabschlüsse 2018 und 2019 nichtig und neu zu erstellen waren. Kernkritik: Sowohl die Forderungen gegen Krankenkassen als auch die Guthaben der Abrechnungskonten sowie die Verbindlichkeiten aus einem Konsortialkredit, der für die Abschlagszahlungen genutzt wurde, wurden nicht bilanziert. Hinzu kam eine nicht ordnungsgemäße Debitoren- und Kreditorenbuchhaltung im Hinblick auf die Abrechnungskonten. Infolgedessen konnten die Einzahlungen der Krankenkassen nicht mit den Rezeptforderungen abgeglichen werden.
Forderungen aus Rabattverfall – von der Luftbuchung zur Luftnummer?
Nachdem die Jahresabschlüsse für 2018 und 2019 korrigiert bzw. neu aufgestellt wurden, kristallisierte sich heraus, dass bei AvP über Jahre hinweg Forderungen aus sogenannten Rabattverfallen (Verfall des Kassenabschlags bzw. des Apothekenrabatts) gebucht wurden, ohne dass diese von den Krankenkassen tatsächlich gezahlt wurden (DAZ 2020, Nr. 47, S. 21). Für den Zeitraum zwischen 2013 und 2019 beläuft sich die Summe laut Hoos‘ Gutachten auf 50 Millionen Euro – also ziemlich genau die Differenz zwischen Verbindlichkeiten und Vermögenswerten, die rein rechnerisch und unter Vorbehalt auf eine Insolvenzquote von bis zu 90 Prozent hinweisen können (DAZ 2020, Nr. 46, S. 9). Weshalb AvP die Ansprüche gegenüber den Kassen nicht geltend gemacht hat, bleibt auch im Gutachten unklar. Möglicherweise war es der chaotischen Buchhaltung schlicht nicht möglich, dies sauber aufzuarbeiten. Doch Branchenvertreter äußern sich auf Nachfrage der Redaktion skeptisch: Rabattverfalle aufgrund unpünktlicher Krankenkassenzahlungen kommen praktisch nicht vor. Daraus ist zu schließen, dass man bei AvP dieses eher seltene Ereignis offenbar systematisch ausnutzte, um etwas anderes zu verheimlichen.
Ob Insolvenzverwalter Hoos also im laufenden Verfahren überhaupt noch Gelder aus diesem (vermeintlichen) Rabattverfall erfolgreich einfordern kann, muss man vor diesem Hintergrund noch weitaus skeptischer sehen. Denn in seinem Gutachten beziffert er die offenen Forderungen aus Rabattverfall auf bis zu 137 Millionen Euro. Falls sich diese Forderungen als ganz oder teilweise uneinbringlich herausstellen, hätte dies erhebliche Folgen für die Insolvenzquote.
Neben den kriminellen Machenschaften eines Geschäftsführers bei AvP sowie den offenen Rabattverfallansprüchen gibt es weitere Faktoren, die das Unternehmen ins Wanken brachten und zur Pleite führten. Dazu gehört, dass die erwirtschafteten Gebühren aus dem Abrechnungsgeschäft über Jahre hinweg nicht ausreichten, anfallende Kosten zu decken. Um dieses Defizit zu vertuschen, fingierte man die Rechnungen aus dem Rabattverfall. So konnte man Verluste vor Steuern in Höhe von rund vier Millionen Euro pro Jahr zwischen 2017 und 2019 schönrechnen.
Konsortialkredit als Liquiditätspolster
Warum diese zwielichtige Geschäftspraxis und die damit einhergehende drohende Insolvenz über eine so lange Zeit öffentlich unbemerkt blieb, ist laut Hoos‘ Ermittlungsergebnissen dem Konsortialkredit geschuldet. Dieser stellte für die AvP Deutschland GmbH ein immenses Liquiditätspolster dar und war wie schon beschrieben nicht Bestandteil der Bilanzen. Fälschlicherweise, denn im DAZ-Interview äußerte sich Insolvenzverwalter Hoos auf die Frage, warum diese Summen nicht in den Büchern auftauchen, folgendermaßen: „Nach meiner derzeitigen Einschätzung hätten die Abrechnungskonten der AvP wohl bilanziert werden müssen.“ (DAZ 2020, Nr. 46, S. 18)
Ermittlungen gegen Geschäftsführer ausgeweitet
Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen den Geschäftsführer wurden ausgeweitet und am 4. März 2020 fand seine Abberufung statt. Infolgedessen wurde vonseiten der Unternehmensführung, also der AvP Service AG, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistung (BaFin) informiert. Aus einem geheimen Dokument des Bundesfinanzministeriums ist zu lesen, dass die BaFin erst dann hellhörig wurde, als am 27. März der Geschäftsführer das Unternehmen verließ – aufgrund „kaufmännischer Empfehlungen“. Das erfuhr die Redaktion aus Kreisen, die Einblicke in das separate Dokument hat, das sich bei der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestags (GSS) befindet.
Juli 2020: AvP gelobt Besserung
Doch zurück zum Gutachten des Insolvenzverwalters: Am 24. Juli fand dann ein Treffen zwischen Vertretern von AvP, der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Greis & Brosent sowie der Konsortialbanken statt. Dabei wurden die unzulässigen Entnahmen des Geschäftsführers offengelegt sowie die – angeblich auch von ihm – fingierten Erlöse aus Rabattverfall beziffert. Die AvP-Unternehmensführung stellte den Banken eine Neuorganisation des Geschäftskonzepts in Aussicht und bat die Geldgeber – trotz der Missstände – die Kreditlinie nicht zu kündigen.
Ein vom Bankenkonsortium eingesetzte Beratungsgesellschaft, die Andersch AG aus Frankfurt am Main, teilte jedoch in einer Telefonkonferenz Anfang September mit, dass die strukturellen Defizite in der AvP-Unternehmensgruppe so erheblich seien, dass durch Kosteneinsparungen keine kurzfristige Verbesserung erzielt werden könnte. Zuvor gab es jede Woche einen informellen Austausch über Arbeitsfortschritt und -ergebnisse. Durch Restrukturierungsmaßnahmen und ein Liquiditätsmanagement hatten sich alle Beteiligten erhofft, die AvP-Gruppe doch noch retten zu können.
Banken kündigen Kredit – der Anfang vom Ende
Als feststand, dass dies aussichtslos war, kündigten die Banken am 4. September den Konsortialkredit – zu einem Zeitpunkt, zu dem die Kreditlinie auf den Abrechnungskonten vollständig durch eingegangene Vorschusszahlungen der Krankenkassen zurückgeführt war. Daraufhin war es der AvP Deutschland GmbH nicht mehr möglich, den Apotheken für den Monat September Abschläge zu zahlen. Einen Tag später erlangte die BaFin Kenntnis über die Kündigung des Kredits und wies am 10. September den inzwischen neu berufenen Geschäftsführer der AvP Deutschland GmbH an, „bis zur Klärung der insolvenzrechtlichen Situation dafür Sorge zu tragen, dass keine gläubiger- bzw. insolvenzmasseschädlichen Auszahlungen seitens des Instituts vorgenommen werden“. Als sogenannter „schwacher“ Sonderbeauftragter der BaFin wurde ein Mitarbeiter der Deutschen Bundesbank bestellt. Dieser sollte die Einhaltung der Anordnung überwachen.
Auszahlungen entgegen der BaFin-Anordnung
Der Geschäftsführer wurde jedoch von Mathias Wettstein, dem Vorstandsvorsitzenden der AvP Service AG, am 11. September abberufen, weil dieser sich weigerte, entgegen der BaFin-Anordnung Abschlagszahlungen an die Apotheken vorzunehmen. Wettstein wies einen anderen Mitarbeiter der AvP Deutschland GmbH an, die Überweisungen vorzunehmen. Insgesamt soll es um eine Summe von 183 Millionen Euro gegangen sein – letztlich konnten nur rund 127 Millionen Euro an Abschlagszahlungen realisiert werden.
Aufgrund dieser Vorkommnisse bestellt die BaFin am 13. September Ralf Bauer zum neuen, „starken“ Sonderbeauftragten mit sämtlichen Aufgaben und Befugnissen eines Geschäftsleiters, weil nicht ersichtlich war, ob ein neuer Geschäftsführer existierte, und weil es entgegen der Anordnung zu Auszahlungen gekommen war. Als sich für Bauer in den Folgetagen herausstellte, dass die AvP Deutschland GmbH insolvenzreif war, beantragte er mit Schreiben vom 15. September beim Amtsgericht Düsseldorf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens.
Kleiner Fisch oder großer Hai – ein Fazit
Der Ermittlungsbericht von AvP-Insolvenzverwalter Dr. Jan-Philipp Hoos ist zwar eine detaillierte und nachvollziehbare Chronologie der Geschehnisse. Doch als abschließende Erklärung für die Pleite des Apothekenrechenzentrums reichen die Ausführungen keinesfalls. Dafür existieren noch zu viele offene Fragen. Die angeblichen Entnahmen des AvP-Geschäftsführers in Höhe eines niedrigen, einstelligen Millionenbetrags stellen nur einen Bruchteil der tatsächlich fehlenden Mittel dar, unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um ein Darlehen handelte oder nicht. Doch das Missmanagement führte zu Defiziten, die Hoos in seinem Bericht auf 50 Millionen Euro beziffert. Darum muss man hinterfragen, wie dieses Defizit den Wirtschaftsprüfern und der Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin über all die Jahre verborgen bleiben konnte.
Doch das Drama geht noch weiter: Der Insolvenzverwalter beschäftigt sich bekanntlich intensiv mit der Frage, ob offenen Forderungen aus Rabattverfall im Sinne der Gläubiger noch einbringlich sind. Dabei geht es um eine Spannweite zwischen 37,2 Millionen Euro und 137,4 Millionen Euro. Der Erfolg erscheint aber fragwürdig, denn warum sollten Krankenkassen in einer Phase der niedrigen bis negativen Zinsen Zahlungen an Apotheken bzw. Rechenzentren zurückbehalten, wenn dies zusätzlich noch zu einer finanziellen Mehrbelastung für sie führt? Falls diese Forderungen aus Rabattverfall nicht realistisch sind, könnte der Fehlbetrag schlimmstenfalls auf mindestens 200 Millionen Euro anwachsen.
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf bestätigte heute auf Anfrage, am 12. August 2020 Anklage gegen „ein Mitglied des AvP-Managements" erhoben zu haben. Der Fall gehe zurück auf eine Geldwäscheanzeige vom 19. August 2018. Damit ist klar, dass es sich um den angestellten Geschäftsführer der AvP Deutschland GmbH und der Dialog im Gesundheitswesen GmbH handeln muss. Ihm wird vorgeworfen, Unternehmensgelder veruntreut zu haben. Konkret soll es um 800.000 Euro gehen, die er sich zu Privatzwecken entnommen hat. Die Corona-Pandemie hätte den Beginn eines Gerichtsverfahren seit August bisher hinausgezögert, so der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Und wer weiß: Ermittlungsverfahren gegen zwei weitere Personen aus dem AvP-Dunstkreis wegen betrügerischer Insolvenz laufen nach wie vor und so könnten die Fälle womöglich noch zusammengeführt werden.
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