Neue Therapieoption bei Diabetes mellitus

Was ist das Besondere an Insulin lispro Lyumjev?

Stuttgart - 10.09.2020, 07:00 Uhr

Die beiden Hilfsstoffe Citrat und Treprostinil im Lyumjev erhöhen die Gefäßpermeabilität und bewirken eine lokale Vasodilatation. Der Effekt: Das Insulin wird schneller absorbiert und wirkt rascher. (x / Foto: Lilly)

Die beiden Hilfsstoffe Citrat und Treprostinil im Lyumjev erhöhen die Gefäßpermeabilität und bewirken eine lokale Vasodilatation. Der Effekt: Das Insulin wird schneller absorbiert und wirkt rascher. (x / Foto: Lilly)


Lilly hat ein neues Insulin – Insulin lispro Lyumjev, eine Weiterentwicklung von Humalog. Das Besondere: Lyumjev enthält als Hilfsstoffe Citrat und Treprostinil. Sie erhöhen die Gefäßpermeabilität und Vasodilatation der lokalen Blutgefäße, wodurch das Insulin schneller absorbiert und rascher wirken soll. Doch ist schneller automatisch besser? Was sind Vorteile des „ultraschnellen“ Insulins, für wen eignet es sich vielleicht gut, für welche Diabetiker eher nicht? DAZ.online hat mit Professor Baptist Gallwitz vom Universitätsklinikum Tübingen gesprochen.

Postprandiale Hyperglykämien bleiben trotz mittlerweile guter Therapieoptionen eine Herausforderung bei der Behandlung des Diabetes mellitus. Sie erschweren die Glucosekontrolle und gelten als Risikofaktor für Folgekomplikationen. Besonders rasch wirksame Insuline sollen diese Krux beheben – „mit Lyumjev® steht nun ein solches Insulin zur Verfügung“, erklärt Hersteller Lilly selbstbewusst. Zugelassen ist es zur Behandlung von Erwachsenen mit Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2. Die Weiterentwicklung von Insulin lispro Humalog® enthält die beiden Hilfsstoffe Citrat und Treprostinil. Sie erhöhen die Gefäßpermeabilität und bewirken eine lokale Vasodilatation. Der Effekt: Das Insulin wird schneller absorbiert und wirkt rascher. Treprostinil (Remodulin®) ist ein Prostacyclin-Analogon, bekannt ist es aus der Behandlung der idiopathischen oder familiären pulmonal-arteriellen Hypertonie. Nun findet es sich auch als Hilfsstoff in Insulin Lyumjev®, das seit September vermarktet wird.

Physiologischere Insulinwirkung

Insulin Lyumjev® kommt laut Lilly „der physiologischen Insulinwirkung stoffwechselgesunder Menschen noch näher“. Denn das Problem aller subkutan applizierten Insuline im Vergleich zur endogenen Insulinfreisetzung aus der Bauchspeicheldrüse ist: Bei Gesunden wird das Insulin nach einer Mahlzeit vor allem in den Portalkreislauf freigesetzt, das Insulin flutet dadurch besonders schnell in der Leber an. Bei subkutan gespritztem Insulin hingegen dauert es länger, bis das Insulin aus dem peripheren subkutanen Depot in die Leber gelangt.

In der Tat ist Lyumjev® hier schnell und Studien zufolge schneller als andere Insuline.

Glucoseabweichung mit der von Gesunden vergleichbar

In einer im Mai 2020 veröffentlichten Cross-over-Studie „Ultra-rapid Insulin lispro lowers postprandial Glucose and more closely matches normal physiological glucose response compared to other rapid insulin analogues: a phase 1 randomized crossover Study“ wurden die vier Insuline Fiasp® (Insulin aspart plus Nicotinamid als Resorptionsverstärker), Humalog® (Insulin lispro), NovoRapid® (Insulin aspart) und Insulin lispro Lyumjev® (Insulin lispro plus Citrat und Treprostinil als Resorptionsverstärker) verglichen. Insulin lispro Lyumjev zeigte eine signifikant schnellere Insulinabsorption im Vergleich zu den anderen getesteten Insulinen: Es erreichte die halbmaximale Arzneimittelkonzentration 13 Minuten nach Injektion und war damit 6 Minuten schneller als Fiasp®, 13 Minuten schneller als Insulin lispro und 14 Minuten schneller als Insulin aspart (alle P <0,0001). Zusätzlich verringerte Insulin lispro Lyumjev die postprandialen Glucosespiegel zwei Stunden nach der Mahlzeit am stärksten (7 mg/dl vs. Fiasp, 21 mg/dl vs. Humalog, 29 mg/dl vs. Novo Rapid (29 mg/dl). Die Wissenschaftler fanden zudem, dass unter Insulin lispro Lyumjev die Glucoseabweichungen in den ersten drei Stunden nach der Mahlzeit mit derjenigen bei gesunden Probanden vergleichbar war.

„Zu schnell“ geht subkutan nicht

Doch kann es nicht auch „zu schnell“ gehen mit der Insulinanflutung und könnten dadurch Hypoglykämien drohen – immerhin benötigen Kohlenhydrate aus der Nahrung auch eine gewisse Zeit, bis sie resorbiert sind. Professor Baptist Gallwitz, stellvertretender Direktor der Medizinischen Klinik IV an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und früherer Präsident der DDG (Deutsche Diabetes Gesellschaft), erklärt: „Eine zu schnelle Insulinwirkung bei subkutan appliziertem Insulin ist eigentlich nicht möglich. Das Insulin wird im Prinzip an den ,falschen Ort‘ gespritzt, nämlich unter die Haut, während physiologisches Insulin direkt in den Portalkreislauf sezerniert wird.“

Für Patienten mit kontinuierlicher Gewebsglucosemessung

Vorteile sieht Gallwitz vor allem für Patienten mit kontinuierlicher Gewebsglucosemessung: „Für Patienten mit einer kontinuierlichen Gewebsglucosemessung und einer Insulinpumpe kann das neue Insulin durchaus Vorteile bringen. Wünschenswert wäre zudem, dass Anwendungsdaten irgendwann zeigen, dass es unter dem neuen, schnellen Insulin zu weniger Blutglucoseschwankungen kommt, die sich dann positiv auf Retinopathien oder Nephropathien auswirken.“ Diese Daten fehlen bislang. Verständlich: Retinopathien oder Nephropathien sind Langzeitkomplikationen diabetischer Patienten, wie sich Lyumjev auf diese auswirkt, wird folglich erst in Jahren sichtbar sein. Man könne jedoch annehmen, so Gallwitz, dass Patienten, die mehr Zeit im Zielbereich der physiologischen Glucose liegen, sodann auch langfristig besser vor Folgeerkrankungen geschützt seien. Dass dieses Prinzip funktioniert, habe die DCCT-Studie gezeigt: „Wir wissen aus der Diabetes Control and Complications Trial bei Typ-1-Diabetikern, dass sich durch eine adäquate Therapie des Diabetes die Risiken für Folgeerkrankungen wie Retinopathie und Nephropathie verringern lassen.“

Weniger Hypoglykämien

Dass Lyumjev Diabetiker längere Zeit im Zielbereich hält, zeigte eine Substudie von PRONTO­-T1D, einer der beiden Zulassungsstudien, mit doppelt verblindeter kontinuierlicher Glucosemessung. Hier konnte Lyumjev bei alltäglichen Mahlzeiten die postprandiale Glucose stärker senken als Humalog und die individuelle Zeit im Zielbereich verlängerte sich bei den Patienten unter Lyumjev um 44 Minuten. Zudem zeigte die Studie an 1.222 erwachsenen Typ-1-Diabetikern, dass Lyumjev den HbA1c-Wert vergleichbar senkt wie Humalog. Zusätzlich ermöglichte es aber eine signifikant überlegene Reduktion der Blutzuckerspitzen eine bis zwei Stunden nach einer Testmahlzeit. Es zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Insulinen hinsichtlich der Hypoglykämierate innerhalb von vier Stunden nach der Mahlzeit. Im Zeitraum von mehr als vier Stunden nach der Mahlzeit ergaben sich bei Menschen mit Typ-1-Diabetes den Studienergebnissen zufolge sogar Vorteile – hier ist die Hypoglykämierate unter Lyumjev um 37 Prozent und damit signifikant geringer als unter Humalog.

Wann auf Lyumjev umstellen?

Sollten Patienten, die derzeit gut mit ihrer Insulintherapie eingestellt sind, auf das neue Insulin umgestellt werden, um die möglichen Vorteile zu nutzen? „Ich stelle keinen Patienten um, der gut eingestellt ist und mit seiner aktuellen Insulintherapie zufrieden ist“, erklärt Gallwitz. „Never change a winning Team. Doch wenn es Situationen gibt, in denen der Diabetiker mit seiner augenblicklichen Therapie nicht rundum zufrieden ist, kann man alternativ das neue Insulin Lyumjev versuchen“.

Nachteile der neuen Behandlungsoption

Welche Nachteile könnte eine Insulintherapie mit besonders schnell wirksamen Insulinen wie Insulin lispro Lyumjev mit sich bringen? Gallwitz erklärt hierzu: „Wenn Patienten Mahlzeiten bevorzugen, die zu einer langsameren Glucoseaufnahme führen, wie mit einem hohen Fettanteil, ist ein solches Insulin nicht unbedingt vorteilhaft.“

Gut geschulte Patienten

„Sicher löst dieses neue Insulin nicht alle Probleme für alle Diabetiker. Doch es ist immer gut, wenn wir weitere Therapiemöglichkeiten bekommen, und diese dann für geeignete Patienten nutzen können, wie gut geschulte Patienten“, so Gallwitz abschließend.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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