GKV-Spitzenverband

Orphan Drugs besser prüfen

Berlin - 22.01.2016, 14:20 Uhr

Der GKV-Spitzenverband fordert, Orphan Drugs genauer in den Blick zu nehmen. (Foto: Paulista / Fotolia)

Der GKV-Spitzenverband fordert, Orphan Drugs genauer in den Blick zu nehmen. (Foto: Paulista / Fotolia)


Bei Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten lässt der Zusatznutzen oft zu wünschen übrig. Dies meint der GKV-Spitzenverband, nachdem er alle Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Zusatznutzen neuer Arzneimittel bis Mitte Dezember 2015 genauer betrachtet hat. Die Industrie widerspricht.

Seit 2011 müssen sich neue Arzneimittel einer frühen Nutzenbewertung unterziehen. Hier wird geprüft, ob der Wirkstoff einen Zusatznutzen gegenüber der bereits verfügbaren zweckmäßigen Vergleichstherapie bietet. Bei Orphan Drugs, also Arzneimitteln gegen seltene Leiden, gilt der Zusatznutzen allerdings schon mit der Zulassung als belegt – so sieht es das Gesetz vor. Bei ihnen prüft der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nur, welches Ausmaß dieser Zusatznutzen hat. Eine „normale“ Nutzenbewertung erfolgt bei Orphan Drugs nur dann, wenn ihr Jahresumsatz bei der GKV die Schwelle von 50 Millionen Euro übersteigt. So geschehen ist dies kürzlich etwa beim seit 2013 zur Therapie eines Multiplen Myeloms zugelassenen Pomalidomid. Dieses befindet sich gerade in einer erneuten Nutzenbewertung.

Meist nicht quantifizierbarer oder geringer Zusatznutzen

Nun hat der GKV-Spitzenverband die Nutzenbewertungsbeschlüsse des G-BA von 2011 bis Ende 2015 genauer betrachtet. Für 29 Orphan Drugs  wurde in dieser Zeit das AMNOG-Verfahren abgeschlossen. Für knapp die Hälfte der Patientengruppen (47 Prozent) stellte der G-BA laut GKV-Spitzenverband einen „nicht quantifizierbaren“ Zusatznutzen fest. Das heißt: Die wissenschaftliche Datenbasis ist nicht ausreichend, um das Ausmaß des Zusatznutzens zu beurteilen. Handelt es sich nicht um ein Orphan Drug, so ist klar: Es gibt einen Zusatznutzen, auch wenn sich (noch) nicht abschätzen lässt, wie groß er ist. Bei „normalen“ Arzneimitteln wurde nur in vier Prozent der Fälle ein nicht-quantifizierbarer Zusatznutzen festgestellt. In weiteren 47 Prozent der Patientengruppen der neuen Orphan Drugs sprach der G-BA das kleinste Nutzenausmaß („gering“) zu. Lediglich die restlichen sechs Prozent haben das zweitbeste Votum („beträchtlich“) erhalten.

Zum Schutz von Patienten sei eine Gesetzesänderung dringend nötig

Ein Problem aus Sicht des GKV-Spitzenverbands: Aufgrund des angenommenen Zusatznutzens starten die Preisverhandlungen zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem pharmazeutischen Hersteller bei Arzneimitteln gegen seltene Leiden auf relativ hohem Niveau. Doch Johann-Magnus von Stackelberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Verbandes, hebt auch auf Gefahren für die Patienten ab. Wer Orphan Drugs einnehme, habe dasselbe Bedürfnis nach umfassender Information und Bewertung von Nutzen und Risiken wie andere Patienten. „Diesem Anspruch wird man nicht gerecht, wenn der G-BA einem Arzneimittel sogar dann einen Zusatznutzen aussprechen muss, wenn Zweifel am Nutzen bestehen und schwere Nebenwirkungen gemeldet werden“, so von Stackelberg. Er fordert daher: „Um Patienten mit seltenen Krankheiten eine sichere Arzneimitteltherapie anbieten zu können, muss der G-BA in begründeten Einzelfällen auch bei Orphan Drugs das Nutzen- und Schadenspotenzial vollständig prüfen dürfen. Hier ist eine Rechtsänderung dringend notwendig.“

Der GKV-Vize verweist auf jüngere Erfahrungen mit Alipogentiparvovec, eine Gentherapie zur Behandlung eines seltenen Erbgutdefekts: Während des laufenden Nutzenbewertungsverfahrens seien zuvor unbekannte schwere Nebenwirkungen bekannt geworden. Der G-BA habe daraufhin das Verfahren zeitweilig ausgesetzt. Dennoch sei er letztlich gesetzlich gezwungen gewesen, dem Arzneimittel einen Zusatznutzen auszusprechen. Dies sei ein „bedenkliches Signal an Ärzte, Patienten und Beitragszahler“.

Zu laxe Zulassungsanforderungen?

Dass Arzneimitteln gegen seltene Leiden mit Vorsicht zu genießen sind, liegt laut GKV-Spitzenverband auch an den stark herabgesetzten Zulassungsanforderungen: Häufig würden Orphan Drugs mit der Auflage zugelassen, weitere Daten zu Nutzen und Schaden in der weiteren Versorgung zu erheben. Für die Bewertung durch den G-BA liegen diese Daten somit nicht vor.  

BPI weist Vorwürfe zurück

Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) reagierte prompt: Es sei „kein Wunder“, dass der Zusatznutzen von Orphan Drugs oft nicht quantifizierbar sei, erklärt Norbert Gerbsch, stellvertretender BPI-Hauptgeschäftsführer. Schließlich stünden für die klinischen Studien viel weniger Patienten zur Verfügung. „Wer hier mit der Elle für Volkskrankheiten messen will, ist selbst für die vermeintlich schlechten Bewertungsergebnisse verantwortlich“, so Gerbsch. Er verweist vielmehr darauf, dass schlechte Bewertungsergebnisse für den GKV-Spitzenverband gute Voraussetzungen für die Preisverhandlungen schüfen. 

Patienten blieben ansonsten unversorgt

Was die von Kassenseite angeführten „stark herabgesetzten Zulassungsanforderungen“ betrifft, sei dies eine Verzerrung der Realität. Die EU-Verordnung zu Arzneimitteln gegen seltene Leiden stelle klar: „Patienten mit seltenen Erkrankungen haben den gleichen Anspruch auf Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Arzneimitteln wie andere Patienten. Arzneimittel für seltene Leiden sollten daher dem normalen Bewertungsverfahren unterliegen“. Die Auflage, Daten nachzureichen, seien ein völlig normaler Vorgang, so Gerbsch. Die Alternative sei, dass Patienten mit einer seltenen Erkrankung unversorgt bleiben. Mit der Zulassung sei behördlich bestätigt, dass das Arzneimittel ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis und einen Zusatznutzen habe. „Es steht dem GKV-Spitzenverband nicht zu, diese behördliche Entscheidung infrage zu stellen“, so Gerbsch.


Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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