Arzneimittel und Therapie

Suche nach der Schwachstelle des Tumors

Mit der funktionellen Präzisionsmedizin ex vivo eine wirksame Therapie finden

Die Strategie klingt so einfach wie vielversprechend: Biopsiertes Tumormaterial wird außerhalb des Körpers verschiedenen Wirkstoffen ausgesetzt. Die Substanzen, die sich am wirksamsten gegen die Krebszellen erweisen, werden dann am Patienten eingesetzt. Noch steckt dieses funktionelle Konzept in den Kinderschuhen. Studien machen jedoch vor allem Patienten mit therapierrefraktärer Erkrankung Hoffnung, dass die Wirksamkeit und Sicherheit von Krebstherapien in naher Zukunft gesteigert werden.

Die unspezifisch zytotoxische Krebstherapie, die auf histopathologischen Parametern beruht, wird mittlerweile verstärkt von zielgerichteten Therapeutika abgelöst, die auf Erkenntnissen der molekularen Tumorbiologie basieren [1]. Die sogenannte Präzisionsmedizin ermittelt in der Onkologie spezifische Eigenschaften eines Tumors, die das maligne Zellwachstum auslösen und ein therapeutisches Anvisieren der Krebszellen ermöglichen [2]. Bei solchen molekularen Merkmalen handelt es sich um DNA-Mutationen oder bestimmte abnorme Proteine, die auch als „Treiber“ einer Krebs­erkrankung bezeichnet werden [3].

Die Identifizierung dieser Treiber hat in den letzten Jahrzehnten zur Entwicklung zahlreicher zielgerichteter Wirkstoffe geführt [4], wie zum Beispiel dem Proteinkinase-Inhibitor Vemurafenib (Zelboraf®) zur Behandlung des BRAF-V600-positiven malignen Melanoms.

Obwohl das Konzept der genom­basierten Präzisionsmedizin einen Fortschritt in der personalisierten Krebstherapie darstellt, profitiert ein Großteil der Patienten nicht davon [1]. So konnte in Studien zwar gezeigt werden, dass viele Tumoren potenziell klinisch verwertbare genetische Mutationen aufweisen und diese auch identifiziert werden, in vielen Fällen sprechen die Tumorzellen jedoch nicht auf eine zielgerichtete Therapie an [5, 6]. Der entscheidende Grund dafür ist, dass einzelne Treiber nicht die Gesamtheit der komplexen Tumorbiologie widerspiegeln [1].

Was ist Tumor­heterogenität?

Tumoren derselben Krebsart unterscheiden sich nicht nur bei verschiedenen Patienten. Auch innerhalb eines Tumors kommt es zur ungleichmäßigen Verteilung von Zellgruppen mit unterschiedlichen molekularen Eigenschaften. Tumore entwickeln sich nach ihrer Entstehung natürlich sowie durch Arzneimitteleinwirkung strukturell, genetisch und funktionell weiter, wodurch Resistenzen auftreten und effektive Behandlungsstrategien erheblich erschwert werden [15].

Tumorgewebe als Patientenavatar

Als komplementärer Ansatz knüpft die funktionelle Präzisionsmedizin an die Grenzen der auf „statischen“ Merkmalen beruhenden genomischen Ausrichtung. Das funktionelle Konzept berücksichtigt die „dynamischen“ Veränderungen eines Tumors: Epigenetische Modifikationen, abweichende Signalwege, die zelluläre Heterogenität des Tumors (s. Kasten: „Was ist Tumorheterogenität?“) sowie den Einfluss der Tumormikroumgebung [2].

So fungiert das entnommene Tumormaterial als „Patientenavatar“. Außerhalb des menschlichen Körpers steht das Gewebe Modell für den erkrankten Teil des Organismus und bietet die Möglichkeit, das Ansprechen von zytotoxischen und zielgerichteten Wirkstoffen zu testen, ohne dem Patienten zu schaden [1]. Funktionelle Tests sollen die systemischen In-vivo-Auswirkungen vorhersagen, damit Ärzte auf dieser Grundlage personalisierte Therapieentscheidungen für den Krebspatienten treffen können [1, 7].

Verschiedene Modelle für solide Tumoren und hämatologische Krebserkrankungen befinden sich in der Entwicklung. Sie unterscheiden sich in Kosten, Durchsatz, Etablierungszeit und der Fähigkeit, die Tumormikroumgebung nachzubilden.

Foto: beermedia/AdobeStock

Wo ist der Tumor angreifbar? Diese Frage versucht man in der funktionellen Präzisionsmedizin mithilfe von Wirkstoff-Screenings an Gewebeproben zu beantworten.

Einzelne Zellen im Fokus

Die Evidenz funktioneller Tests im Kontext klinischer Entscheidungsfindung ist bislang auf dem Gebiet der hämatologischen Krebserkrankungen am besten belegt [7]. In der prospektiven Studie EXALT-1 (Extended Analysis for Leukemia and Lymphoma Treatment) konnte erstmals gezeigt werden, dass die funktionelle Präzisionsmedizin für eine Therapieauswahl klinisch implementierbar ist und Patienten mit refraktärer Erkrankung davon profitieren [8]. „Bei vielen Lymphom­erkrankungen können mit der Standardtherapie etwa 70% der Patient­innen und Patienten geheilt werden. Allerdings sind Patientinnen und Patienten mit Rezidiven oder nach zwei Therapielinien therapeutisch oft schwer aufzufangen“, erläuterte der Studienleiter Philipp Staber, assoziierter Professor der Klinischen Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie an der MedUni Wien dem „Journal Onkologie“. Daher wurde in der Studie ein bis dahin „nicht üblicher“ personalisierter Ansatz gewählt, bei dem ein Medikamentenprofil auf Grundlage des patientenspezifischen Tumormaterials erstellt wurde [9]. 143 Patienten mit fortgeschrittenen hämatologischen Krebserkrankungen wurde eine Biopsie entnommen und diese mittels Single-Cell Functional Precision Medicine (scFPM) gescreent. Bei diesem Testverfahren handelt es sich um eine innovative Form der funktionellen Präzisionsmedizin, bei dem die Effekte von verschiedenen Wirkstoffen auf einzelne entartete und gesunde Zellen untersucht und in Relation gesetzt werden.

Eine Auswahl an 139 Wirkstoffkandidaten, darunter Zytostatika, standen für das Wirkstoff-Screening zur Verfügung. Für 56 Probanden kam eine per Single-Cell Functional Precision Medicine ermittelte Therapie zum Einsatz, 20 Probanden erhielten eine Standardtherapie. Eine mehr als 1,3-fache Verlängerung des progressionsfreien Überlebens im Vergleich zur voran­gegangenen Therapie definierte den klinischen Endpunkt. 30 Probanden (54%) mit scFPM-empfohlener Therapie erreichten den Studienendpunkt nach einem Follow-up von im Median 23,9 Monaten. Bei zwölf Probanden (21%) war das progressionsfreie Überleben sogar dreimal länger als erwartet. Der funktionelle Ansatz war mit einem signifikanten Gesamtüberlebensvorteil im Vergleich zur Beobachtungsgruppe assoziiert. „Unsere Studie belegt, dass eine individuelle Anpassung der Therapie nicht nur machbar, sondern auch wirksam ist, um Resistenzen zu Vortherapien zu brechen“, so Staber [8, 9].Derzeit läuft die prospektive Studie EXALT-2 (NCT04470947), die funktionelle, genomische und auf ärztlicher Entscheidungsfindung be­ruhende Behandlungsstrategien bei hämatologischen Krebserkrankungen miteinander vergleicht [7].

Zelllinien und Tiermodelle nur begrenzt geeignet

Therapiemodelle wie zweidimensionale Zellkulturen und Patienten-abge­leitete Xenotransplantate (Patient-derived Xenografts, PDX) kommen in der Krebsforschung seit Jahrzehnten zum Einsatz [10]. Bei Letzterem wird Tumormaterial in immunsupprimierte Mäuse transplantiert. Beide Ansätze eignen sich jedoch nur begrenzt für die klinische Praxis im Kontext der funktionellen Präzisionsmedizin, da diese Modelle die ursprüngliche Tumorbiologie nicht vollständig abbilden können [1]. In der Zellkultur gehen Heterogenität und Mikroumgebung des Tumors verloren [7, 10, 11]. Diese können in PDX-Modellen zwar mit relativ großer Ähnlichkeit rekapituliert werden, die Etablierung ist jedoch zeitaufwendig, mit hohen Kosten verbunden und eignet sich nicht für ein Screening mehrerer Wirkstoffkandidaten [10, 12].

Gewebemodelle für solide Tumoren

Die Entwicklung von dreidimensionalen (3D-)Zellkultursystemen schließt die Lücke zwischen zweidimensionaler Zellkultur und Xenotransplantaten. Durch Biopsie oder Resektion gewonnenes Gewebe solider Tumoren wird ex vivo zu Patienten-abgeleiteten Tumororganoiden, Sphäroiden (drei­dimensionale Zellverbände) und Explantaten kultiviert. Der genetische, phänotypische und funktionelle Charakter des Tumors bleibt dabei weitestgehend erhalten.

Das relativ junge Forschungsfeld der Tumororganoide zeigt bereits ein vielversprechendes Potenzial, die personalisierte Tumortherapie um den funktionellen Ansatz zu komplementieren. Unter „In-vitro-Nachahmung der In-vivo-Wachstumsbedingungen“ werden Tumororganoide aus Tumorstammzellen kultiviert. Eingebettet in synthetische Hydrogele und versorgt von einem mit Wachstumsfaktoren angereicherten Nährmedium aggregieren die Stammzellen spontan zu einer 3D-Struktur. Sie rekapitulieren einen Minitumor, der die Heterogenität und funktionelle Merkmale des Ursprungstumors bei­behält. Komponenten der Tumormikro­umgebung können bisher nur isoliert in einer Ko-Kultur angelegt werden [1, 10].

In mehreren Studien, in denen die Vorhersagegenauigkeit von Organoid­modellen untersucht wurde, konnte bereits gezeigt werden, dass Patienten-abgeleitete Tumororganoide als prädiktives Modell für das klinische Ansprechen eines Patienten von Nutzen sind [7]. Eine Herausforderung bleiben die niedrige Zellausbeute aus Gewebeproben, die Dauer und die nur mäßigen Erfolgsraten der Organoid­etablierung [10].

In einer nicht kontrollierten Phase-II-Studie wurden die Metastasen von 82 Patienten mit fortgeschrittenem Kolonkarzinom biopsiert und als Organoide kultiviert. Eine erfolgreiche Organoidetablierung mit anschließender Wirkstofftestung gelang bei 44 Patientenproben. Eingesetzt wurden Zytostatika wie 5-Fluouracil (z. B. Ribofluor®), Oxaliplatin (z. B. Eloxatin®) und Irinotecan (z. B. Riboirino®) sowie Proteinkinaseinhibitoren wie Vemurafenib (Zelboraf®), Encorafenib (Braftovi®) und Binimetinib (Mektovi®). 17 von 34 behandelten Patienten (50%) erreichten den klinischen Endpunkt, definiert als zweimonatiges progres­sionsfreies Überleben. Der vordefinierte Wert von 31% wurde damit übertroffen [13]. Aktuell läuft eine Phase-II-Studie, in der die Therapieauswahl für Patienten mit einem Blasen­karzinom mithilfe von Wirkstoff-Screenings an Tumororganoiden getroffen werden soll [14].

Validierte Prozesse für die klinische Umsetzung nötig

Funktionelle Tests haben das Poten­zial, das präzisionsmedizinische Konzept zu komplementieren und Fortschritte in der personalisierten Krebstherapie zu forcieren.

Um den funktionellen Ansatz in der klinischen Praxis zu etablieren, bedarf es nicht nur weiterer prospektiver Studien. Vor allem ist es notwendig, standardisierte und reproduzierbare Therapiemodelle zu schaffen, die genombasierte Strategien effektiv ergänzen. Vielversprechende Aussicht bieten zudem neuartige automatisierte suspensionsbasierte Mikrofluidik-­Zellkulturtechnologien für solide Tumoren, um Hochdurchsatz-Screenings zu ermöglichen und die Problematik der begrenzten Materialverfügbarkeit zu überwinden [1, 10]. |

 

Literatur

 [1] van Renterghem AWJ, van de Haar J, Voest EE. Functional precision oncology using patient-derived assays: bridging genotype and phenotype. Nat Rev Clin Oncol 2023;20(5):305-317, doi: 10.1038/s41571-023-00745-2

 [2] Letai A, Bhola P, Welm AL. Functional precision oncology: Testing tumors with drugs to identify vulnerabilities and novel combinations. Cancer Cell 2022;40(1):26-35, doi: 10.1016/j.ccell.2021.12.004

 [3] Stratton MR, Campbell PJ, Futreal PA. The cancer genome. Nature 2009;458(7239):719-724, doi: 10.1038/nature0794

 [4] Lassen UN, Makaroff LE, Stenzinger A et al. Precision oncology: a clinical and patient perspective. Future Oncol 2021;17(30):3995-4009, doi: 10.2217/fon-2021-0688

 [5] Hoes LR, van Berge Henegouwen JM, van der Wijngaart H et al. Patients with rare cancers in the drug rediscovery protocol (DRUP) benefit from genomics-guided treatment. Clin Cancer Res 2022;28(7):1402-1411, doi: 10.1158/1078-0432.CCR-21-3752

 [6] Cobain EF, Wu YM, Vats P et al. Assessment of clinical benefit of integrative genomic profiling in advanced solid tumors. JAMA Oncol 2021;7(4):525-533, doi: 10.1001/jamaoncol.2020.7987

 [7] Flobak Å, Skånland SS, Hovig E et al. Functional precision cancer medicine: drug sensitivity screening enabled by cell culture models. Trends Pharmacol Sci 2022;43(11):973-985, doi: 10.1016/j.tips.2022.08.009

 [8] Kornauth C, Pemovska T, Vladimer GI et al. Functional precision medicine provides clinical benefit in advanced aggressive hematologic cancers and identifies exceptional responders. Cancer Discov 2022;12(2):372-387, doi: 10.1158/2159-8290.CD-21-0538

 [9] Heinl A, Staber P. Funktionelle Präzisionsmedizin - ein wichtiger Trend in der Onkologie. Journal Onkologie 2022, https://www.journalonko.de/artikel/lesen/funktionelle_praezisionsmedizin_onkologie

[10] Schömig LR, Quante M. Patientenabgeleitete Tumororganoide – ein Therapiemodell für die Präzisionsonkologie. Onkologie 2023;29:74–84

[11] Huo KG, D‘Arcangelo E, Tsao MS. Patient-derived cell line, xenograft and organoid models in lung cancer therapy. Transl Lung Cancer Res 2020;9(5):2214-2232, doi: 10.21037/tlcr-20-154

[12] Ireson CR, Alavijeh MS, Palmer AM et al. The role of mouse tumour models in the discovery and development of anticancer drugs. Br J Cancer 2019;121(2):101-108, 10.1038/s41416-019-0495-5

[13] Jensen LH, Rogatto SR, Lindebjerg J et al. Precision medicine applied to metastatic colorectal cancer using tumor-derived organoids and in-vitro sensitivity testing: a phase 2, single-center, open-label, and non-comparative study. J Exp Clin Cancer Res 2023;42(1):115, doi: 10.1186/s13046-023-02683-4

[14] Seiler R, Egger M, De Menna M et al. Guidance of adjuvant instillation in intermediate-risk non-muscle invasive bladder cancer by drug screens in patient derived organoids: a single center, open-label, phase II trial. BMC Urol 2023;23(1):89, doi: 10.1186/s12894-023-01262-1

[15] Zhu L, Jiang M, Wang H et al. A narrative review of tumor heterogeneity and challenges to tumor drug therapy. Ann Transl Med 2021;9(16):1351, doi: 10.21037/atm-21-1948

Apothekerin Judith Esch

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