Die Seite 3

Weder geschüttelt noch gerührt

Foto: Philip Kottlorz Fotografie
Julia Borsch, 
Chefredakteurin der DAZ

Die große Mehrheit der Menschen hat leider kein besonderes Bewusstsein für den Umgang mit Arzneimitteln. Auto, Badezimmer, Fensterbank, Kühlschrank oder Handtasche werden gleichermaßen als adäquate Lagerorte angesehen, solange es keine sichtbaren Schäden wie geschmolzene Zäpfchen oder auskristallisierte Lösungen gibt. Niemand außer den Apothekerinnen und Apothekern stört sich daran, dass Tabletten, Säfte und Co. zusammen mit Schuhen, Kleidung und Elektrogeräten bei sommerlichen Temperaturen in nicht klimatisierten Lieferwägen quer durch die Republik gekarrt werden. Und auch wenn sich im professionellen Bereich durch die Aufklärung und die Interventionen der versorgenden Apotheken vieles verbessert hat, werden in Krankenhäusern und Pflegeheimen immer noch Tabletten ausgeblistert und in Dosetten und Ähnlichem ohne Rücksicht auf Licht-, Wärme- bzw. Oxidationsempfindlichkeit oder Hygroskopizität gelagert. Da in vielen Fällen die Arzneimittel trotz falscher Lagerung und Handhabung noch ausreichend wirken oder eine fehlende oder verminderte Wirksamkeit gar nicht mit den falschen Lagerbedingungen in Zusammenhang gebracht wird, waren die Chancen bislang gering, dass sich an diesem Bewusstsein für den Umgang mit Arzneimitteln bei den Verbrauchern und Ärzten etwas ändert.

Das wird aber spätestens dann zu einem Riesenproblem, wenn es nicht mehr um chemisch synthetische Wirkstoffe geht, sondern um Protein-Arzneimittel, die um ein Vielfaches empfindlicher sind. Bei diesen Biopharmazeutika sind die Schäden immens, wenn die Sorgfaltspflichten beim Umgang nicht eingehalten werden. Sie sind nämlich un­gemein empfindlich und sollten behandelt werden wie rohe Eier. Sie dürfen weder geschüttelt noch gerührt werden (siehe S. 38). Neben dem Schaden, den die Patienten durch einen Wirksamkeitsverlust erleiden können, droht zudem ein finanzieller Schaden, weil biologische Arzneimittel sich üblicher­weise im höherpreisigen Bereich bewegen. Da der Marktanteil der Biopharmazeutika stetig steigt – 2022 stammte mehr als die Hälfte der neu zugelassenen Arzneimittel aus dieser Kategorie –, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, mit solch einem Präparat in Berührung zu kommen. Bei zahlreichen Krankheitsbildern sind die sogenannten Biologicals mittlerweile Therapiestandard und nicht mehr nur die allerletzte Option. Es ist also mehr als an der Zeit, am Bewusstsein für den Umgang mit Arzneimitteln zu arbeiten. Und zwar bei allen, die damit zu tun haben: Bei den Patientinnen und Patienten, die zunehmend Biopharmazeutika zur Selbstapplikation verordnet bekommen, bei den Ärztinnen und Ärzten sowie beim Pflegepersonal, die diese Arzneimittel in immer größerem Ausmaß verabreichen. Aber auch bei den Einkäufern, die Lieferverträge mit den herstellenden Betrieben schließen und die es in der Hand haben, ob die gebrauchsfertigen Lösungen in der Nähe der Patienten oder der abgebenden Apotheken produziert oder über viele Kilometer auf holprigen Straßen transportiert werden. Und natürlich muss auch beim gesamten Apotheken­personal das Bewusstsein für empfindliche Arzneimittel geschärft werden, das mit diesen Arznei­mitteln nicht nur selbst achtsam umgehen sollte, sondern auch andere im sorgfältigen Umgang damit schulen muss. Und wenn in der Folge auch chemisch-synthetische Arzneimittel, die immer noch den Löwenanteil ausmachen, etwas sorgfältiger behandelt werden, als es zwingend erforderlich wäre, schadet das ja nichts.

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