Arzneimittel und Therapie

Migräne akut und vorbeugend behandeln

Aktualisierte S1-Leitlinie berücksichtigt neue Wirkstoffe und setzt auf stärkere Personalisierung

Vor Kurzem wurde die aktualisierte S1-Leitline „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ veröffentlicht, die zahlreiche Optionen zur akuten und prophylaktischen Behandlung enthält. Die wichtigsten Neuerungen wurden bei einer online-Pressekonferenz der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) am 11. Januar 2023 vorgestellt.

Bei der Therapie der unkomplizierten und nicht gehäuft auftretenden Migräneattacke hat sich wenig geändert. Empfohlen wird die Einnahme von Acetylsalicylsäure (ASS 1000 mg oder 900 mg plus 10 mg Metoclopramid), Ibuprofen (200 bis 600 mg), Diclofenac-Kalium (50 bis 100 mg), Naproxen (500 mg), Phenazon (500 bis 1000 mg) sowie Kombinationsanalgetika (zwei Tabletten mit 250 bzw. 265 mg ASS plus 200 bzw. 265 mg Paracetamol plus 50 bzw. 65 mg Coffein). Bei Kon­traindikationen gegen nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) können Paracet­amol (1000 mg), Metamizol (1000 mg) oder Phenazon (500 bis 1000 mg) eingenommen werden.

Bei mittelschweren und schweren Attacken kommen Triptane zum Einsatz. Neu in der Leitlinie ist unter anderem die Therapieoption 3 mg Sumatriptan zur subkutanen Anwendung (z. B. Migrapen®). Reicht eine Monotherapie mit Triptanen nicht aus, können diese mit einem NSAR kombiniert werden. In Kürze werden voraussichtlich zwei neue Wirkstoffe zur Verfügung stehen, und zwar das Gepant Rimegepant und das Ditan Lasmiditan. Beide sind zugelassen, und mit ihrer Markteinführung wird noch in diesem Jahr gerechnet.

Foto: sebra/AdobeStock

Ditane und Gepante

Sowohl Rimegepant als auch Lasmiditan greifen in den Pathomechanismus des Migränekopfschmerzes ein, bei dem nicht nur die Freisetzung von Serotonin, sondern auch die verstärkte Produktion von Neuropeptiden wie dem Calcitonin-Gene-Related-Peptide (CGRP) eine Rolle spielen. Während Triptane an zwei verschiedenen Serotonin-Rezeptoren angreifen (5-HT1B und 5-HT1D), wirken Ditane nur an dem 5-HT1F-Rezeptor, dessen Aktivierung zu keiner Blutgefäßverengung führt. Da Ditane zu keiner Vasokonstriktion führen, können sie im Gegensatz zu Triptanen auch bei kardiovaskulären Risikopatienten eingesetzt werden. Die Wirksamkeit von Lasmiditan wurde in placebokontrollierten Studien nachgewiesen, Vergleichsstudien mit Triptanen liegen bisher nicht vor. Der Wirkstoff kann zu zentralen Nebenwirkungen führen, unter anderem zu Müdigkeit und Schwindel, was die Verkehrstauglichkeit beeinträchtigen kann.

Das Gepant Rimegepant ist ein spezifischer CGRP-Rezeptor-Antagonist und blockiert die Effekte des Migräne-auslösenden Neurotransmitters CGRP. Der Wirkstoff ist gut verträglich, ­Interaktionen sind allerdings möglich. Rimegepant ist bei der Behandlung akuter Migräneattacken wirksamer als Placebo, Vergleichs­studien mit Triptanen liegen bislang nicht vor. Rimegepant kann zur Therapie der akuten Migräneattacke und zur Migräneprophylaxe eingesetzt werden.

Lasmiditan und Rimegepant dürfen bei einem akuten Migräneanfall eingesetzt werden, wenn klassische Schmerzmittel wie ASS und NSAR oder Triptane nicht ausreichend wirken oder kontraindiziert sind.

Personalisierte Migräne­prophylaxe

Beim Auftreten häufiger Migräne­attacken ist eine Prophylaxe indiziert, die mehrere Dimensionen der Erkrankung umfassen sollte. Neben medikamentösen sind stets nicht-medikamentöse Maßnahmen zu ergreifen und biologische, soziale und psychische Faktoren zu berücksichtigen. In der Praxis bedeutet das ein Aufweichen starrer Vorgaben, wann eine medikamentöse Migräneprophylaxe zu erfolgen hat. Folgende Punkte sprechen für eine medikamentöse Migräneprophylaxe:

  • mindestens vier Migränetage pro Monat, lange oder schwer therapierbare Migräneattacken,
  • Migräneattacken mit einschränkenden Aurasymptomen,
  • hoher Leidensdruck,
  • Migräneattacken, die auf eine Akuttherapie nicht ansprechen,
  • Risiko eines Medikamentenabusus.

Entsprechend empfiehlt die neue Leitlinie, eine vorbeugende Therapie immer von der Schwere und Dauer der Erkrankung sowie individuellen Faktoren abhängig zu machen (Empfehlungen für spezielle Therapiesituationen s. Tab.). Neben unspezifischen Medikamenten zur Migräneprophylaxe wie etwa Betablockern, Topiramat oder Amitriptylin stehen monoklonale Antikörper gegen CGRP (z. B. Fremanezumab [Ajovy®]) bzw. gegen den CGRP-Rezeptor (Erenumab [Aimovig®]) zur Verfügung. Die medikamentöse Prophylaxe sollte stets von nicht-medikamentösen Maßnahmen (z. B. Edukation, Ausdauersport, Therapiekontrolle, Entspannungstechniken, kognitiver Verhaltenstherapie) begleitet sein.

Tab.: Spezielle Therapiesituationen in der Migräneprophylaxe
Therapiesituation
Empfehlungen
menstruelle Migräne
  • Kurzzeitprophylaxe beginnend zwei Tage vor der Menstruation, über fünf bis sechs Tage: Naproxen und/oder Triptane mit langer Halbwertszeit
  • kontinuierliche Gabe eines kombinierten oralen Kontrazeptivums
  • kontinuierliche Gabe von Desogestrel
Schwangerschaft
  • Amitriptylin
  • Metoprolol, Propranolol
  • Magnesium
Kinder und Jugendliche
  • Propranolol
  • nicht-medikamentöse Verfahren
hemiplegische Migräne
  • Acetazolamid
  • Lamotrigin
Aura
  • Flunarizin
  • Topiramat
  • Lamotrigin
Depression, Angststörung
  • Amitriptylin
  • Venlafaxin
Epilepsie
  • Topiramat
  • Valproat
  • Levetiracetam
vaskuläre Erkrankungen:
  • Candesartan
  • Lisinopril
  • Metoprolol, Bisoprolol, Propranolol

Individuelle Dauer der medikamentösen Prophylaxe

Die neue Leitlinie rät zu einer individuellen Dauer der Migräneprophylaxe. Galt früher die Ansicht, eine Pro­phylaxe maximal zwölf Monate lang durchzuführen, so spricht man nun differenzierte Empfehlungen aus. Bei Patienten mit weniger als acht Migränetagen pro Monat, kürzerer Erkrankungsdauer und Fehlen relevanter Komorbiditäten soll sich die Prophylaxe über sechs bis zwölf Monate erstrecken. Liegen indes eine chronische oder hochfrequente Migräne mit mehr als acht Migränetagen pro Monat oder Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder eine chronische Schmerzerkrankung vor, sollte die Prophylaxe mindestens zwölf bis 24 Monate lang durchgeführt werden.

Nicht-medikamentöse Maßnahmen als zweite Säule

Die Leitlinienkommission betont die Bedeutung nicht-medikamentöser Therapien, da die Kombination aus medikamentösen und nicht-medikamen­tösen Verfahren den besten Therapieerfolg erzielt und Autonomie und Eigenverantwortung stärkt. Neben bewährten Maßnahmen wie Ausdauersport und Entspannungstechniken sowie Verhaltenstherapien steht jetzt die nicht-invasive elektrische Stimulation des Nervus supraorbitalis zur Verfügung. Der externe transkutane Reiz erfolgt über Klebeelektroden an der Stirn und hat sich im Vergleich mit einer Scheinanwendung als wirksam erwiesen. Die Stimulation eignet sich vor allem für Patienten, die keine Medikamente einnehmen wollen; allerdings tragen Krankenkassen bisher die Kosten nicht. Ergänzt wurden die nicht-medikamentösen Verfahren um digitale Anwendungen, darunter telemedizinische Angebote zu Diagnostik und Therapie sowie Smartphone-Applikationen. Die klinische Wirksamkeit einer digitalen Unterstützung lässt sich jedoch noch nicht einschätzen.

Klare Negativempfehlungen

Die Leitlinie spricht auch klare Negativ-Bewertungen aus. So sollten folgende Verfahren nicht zur Migräneprophylaxe eingesetzt werden:

  • invasive Neurostimulation,
  • Corrugator-Operationen,
  • Piercing,
  • Verschluss eines offenen Foramen ovale,
  • Homöopathie,
  • Nahrungsergänzungsmittel,
  • Probiotika sowie
  • Diäten zur Elimination von Allergenen. |

Literatur

Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft, AWMF-Registernummer: 030/057. Stand: Dezember 2022

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

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