Arzneimittel und Therapie

Gegen die „schwelende“ MS-Progression

Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren lassen hoffen, Phase-III-Studien laufen

Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren gelten als Hoffnungsträger bei multipler Sklerose. Die small molecules überwinden die Blut-Hirn-Schranke und sollen die derzeit nur unzureichend adressierte schwelende Entzündung im Zentralnervensystem adressieren und damit die stille und schubunabhängige Progression hemmen.

Bereits heute erlauben die verfügbaren Immuntherapien, auch hochaktive Formen der multiplen Sklerose (MS) zumeist wirksam zu behandeln. Allerdings versagen alle derzeit zugelassenen Immuntherapien, wenn es um eine effektive Modulation der schub­unabhängigen Krankheitsprogression (PIRA: disability progression independent of relapse activity) geht. Charakteristisch zeigt sich die schubunabhängige MS-Progression in der Bildgebung anhand der Expansion bestehender Läsionen, sogenannter slowly expanding lesions (SEL), vor allem im fortgeschrittenen MS-Stadium. Diese langsam, doch kontinuierlich wachsenden Läsionen entwickeln sich von aktiv entzündlichen zu chronisch aktiven bis hin zu letztlich chronisch inaktiven Plaques.

Selbst Ocrelizumab (Ocrevus®), der seit Januar 2018 (EU) zugelassene B-Zell-depletierende Anti-CD20-Antikörper, der als einziges Arzneimittel neben der Behandlung von schubförmigen MS-Formen auch bei primär progredienter multipler Sklerose (PPMS) zugelassen ist – und deswegen die schubunabhängige Progredienz doch adressieren sollte –, zeigt nur einen überschaubaren Effekt auf PIRA. Das zeigt eine 2020 im Journal JAMA Neurology publizierte gepoolte Analyse [1] der beiden Zulassungsstudien OPERA I und II, in denen Roche Ocrelizumab gegen Interferon β-1a an schubförmigen MS-Patienten untersucht hatte: Nach 96 Wochen war bei 29,6% der Patienten der Interferon-β-1a-Gruppe und 21,1% der Patienten der Ocrelizumab-Gruppe die Behinderung fortgeschritten. Zwar konnte Ocrelizumab die schubassoziierte Verschlechterung (RAW: Relapse-associated worsening) deutlich besser – um 55% – reduzieren als Interferon β-1a (2,9% Verschlechterung unter Ocrelizumab vs. 6,2% Verschlechterung unter Interferon β-1a). Allerdings schnitt Ocrelizumab bei der schubunabhängigen Progression nur um 22% besser ab als Interferon β-1a: Unter Ocrelizumab kam es bei 18,5% der Patienten zu einer Verschlechterung, die unabhängig von einem klinisch abgrenzbaren oder morphologisch in der Magnetresonanztomografie (MRT) sichtbaren Entzündungsereignis stand – vs. 23,3% unter Interferon β-1a.

Interessant war eine weitere Erkenntnis: Der Löwenanteil der fortschreitenden Behinderung entfällt auf die schubunabhängige Progression (89,1% PIRA-Anteil an der Gesamtbehinderung unter Ocrelizumab und 80,6% PIRA-Anteil an der Gesamtbehinderung unter Interferon β-1a). Verantwortlich für diese „stille“ Progression scheinen langsame, sogenannte smouldering oder schwelende Entzündungen zu sein.

Foto: DenisNata/AdobeStock

Wie ein schwelendes Feuer kann das Krankheitsbild der multi­plen Sklerose auch ohne Schub voranschreiten.

MS-Pathogenese neu denken

Das Wissen um die stille Progression veränderte das ursprüngliche Konzept der MS-Pathogenese, bei der man von einer Dualität zwischen rein entzünd­lichen Mechanismen zu Beginn einer MS und späteren progredienten und neurodegenerativen Prozessen ausgegangen war und dass außerhalb von Schüben kaum eine MS-Progression mit neurologischer Behinderung stattfinden würde. Mittlerweile weiß man, dass eher ein Kontinuum existiert und man Entzündungsmerkmale in allen Verlaufsformen und Stadien der multi­plen Sklerose findet, nur eben in unterschiedlicher Quantität und Qualität. In der Eingangsphase dominieren akute und peripher getriebene Entzündungen. Es herrschen Infiltrate vor, die aus dem Blut ins Gewebe einwandern, und es kommt zu einer, im MRT durch Kontrastmittel aufnehmende Läsionen, sichtbaren Unterbrechung der Blut-Hirn-Schranke. Allerdings: Auch zu diesem Zeitpunkt schädigt die lokal ausgelöste Neuroinflammation das Zentralnervensystem (ZNS) bereits, nur verdecken Remyelinisierung und Kompensation den entstandenen Schaden noch. In der späteren Phase ist die Blut-Hirn-Schranke wieder intakt oder ­geschlossen – jedoch sitzt die Ent­zündung im Gewebe in der Falle. Es kommt zu einem Shift der Entzündung, die sich sodann „schwelend“ von der hochentzündlichen Phase im schubförmigen Bereich unterscheidet und vor allem durch Gedächtnis-B-Zellen, CD8+-Zellen, Makrophagen und Mikroglia charakterisiert ist. Letztere gelten als zentrale Treiber der Neuroinflammation im ZNS. Im gesunden ZNS kommt den Mikroglia eine wichtige Funktion bei der Remyelinisierung zu. Allerdings: Mikroglia könnten ihren Phänotyp auch in eine proinflammatorisch/neurodegenerative Form wechseln, erklärte Prof. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Münster, beim Sanofi-Symposium „Smouldering Disease: Hiding in Plain Sight“ auf dem ECTRIMS-Kongress (European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis) Ende Oktober 2022 in Amsterdam [2]. Im Rahmen der MS-Pathogenese sei die Homöostase der beiden Phäno­typen zugunsten des aktivierten „gestressten“ proinflammatorischen Phänotyps gestört, erklärte der Neurologe.

Potenzial der BTK-Inhibitoren

Wie adressiert man nun diese schubunabhängige Progression? Könnten Bruton-Tyrosinkinase(BTK)-Inhibitoren helfen? Sind sie vielleicht der „Missing Link“ zur Neuroregeneration und könnten diese bislang nur unzureichend therapierbare schwelende Entzündung wirkungsvoll bekämpfen? Professor Aiden Haghikia, Direktor der Neurologischen Klinik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, sah bereits beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie 2021 das Potenzial der BTK-Inhibitoren bei der „smouldering inflammation“ der MS: „Möglicherweise haben wir mit Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren die Möglichkeit, diese schwelende Entzündung anzugehen und diese in den progredienten Phasen zu unterdrücken“, erklärte der Neurologe damals.

Die Bruton-Tyrosinkinase fungiert als Schlüssel-Enzym bei der Reifung und Funktion vor allem von B-Zellen, spielt eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung und aktiviert Gene, die zur Produktion proinflammatorischer Zytokine und zytotoxischer Substanzen führen und zu einer morphologischen Verän­derung der Makrophagen hin zu einer entzündlichen Form. Bruton-Tyrosin­kinasen aktivieren auch Mikroglia und damit die Zellen im ZNS, denen man gerade in der späten Phase der MS, bei der „smouldering inflammation“, eine bedeutende Funktion zuschreibt und die für Schäden vornehmlich in der progredienten Phase verantwortlich sind.

Dass das BTK-Inhibitoren-Prinzip funktioniert, konnte bereits am MS-Modell, der experimentell autoimmunen Enzephalomyelitis, gezeigt werden. Unter BTK-Inhibitoren kam es zu einem deutlich besseren Verlauf der Erkrankung. Auch waren Zellen, die aus der Peripherie ins Zentralnervensystem einwanderten – zum Beispiel TNF-α-produzierende Zellen myeloischen Ursprungs –, im ZNS deutlich geringer nachweisbar als in der Kontrolle [4].

Phase-III-Studien laufen

Allerdings stellt die Blut-Hirn-Schranke eine Barriere dar – nicht nur für infil­trierende Lymphozyten, sondern auch für therapeutische Ansätze wie die B-Zell-depletierenden Antikörper. Antikörper können die Blut-Hirn-Schranke nicht in ausreichender Konzentration überwinden und damit auch die Pathogenese im ZNS nicht direkt beeinflussen. Anders die BTK-Inhibitoren: Sie überwinden als small molecules die Blut-Hirn-Schranke, hemmen dort die Bruton-Tyrosinkinase, die für die Aktivierung von B-Zellen und Mikroglia benötigt wird, und adressieren damit die Zellen, die man derzeit für entscheidend hält für die schwelende Entzündung jenseits der inflammatorischen Phase der MS. Ein Unterschied zu B-Zell-Antikörpern ist zudem, dass BTK-Inhibitoren bestimmte B-Zell-­Populationen nicht „entfernen“ und dezimieren, sondern lediglich ihre Funktion modellieren.

Derzeit forschen unter anderem Merck mit Evobrutinib, Sanofi mit Tolebrutinib und Genentech/Roche mit Fenebrutinib sowie Novartis mit Remibrutinib an BTK-Inhibitoren bei schubförmiger wie auch progredienter multipler Sklerose. Phase-III-Studien laufen gegen Placebo sowie Teriflunomid (Aubagio®) und im Fall von Fenebrutinib auch gegen den B-Zell-Antikörper Ocrelizumab. |

Literatur

[1] Kappos L et al. Contribution of Relapse-Independent Progression vs Relapse-Associated Worsening to Overall Confirmed Disability Accumulation in Typical Relapsing Multiple Sclerosis in a Pooled Analysis of 2 Randomized Clinical Trials. JAMA Neurol 2020;77(9):1132-1140, doi: 10.1001/jamaneurol.2020.1568

[2] Die schleichende Progression der Multiplen Sklerose direkt im Gehirn angehen – Neuer Wirkansatz: Inhibitoren der Bruton-Tyrosinkinase (BTK). Pressemitteilung Sanofi Deutschland, 8. Dezember 2022

[3] Haghikia A. Vortrag: BTKis – „Missing Link“ zur Neuroregeneration? Industriesymposium Merck Serono GmbH, Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 3. November 2021

[4] Bassani C et al. Posterpräsentation: The role of human and mouse BTK in myeloid cells. Kongress des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis, 13. Oktober 2021

Apothekerin Celine Bichay

Das könnte Sie auch interessieren

Bei Multipler Sklerose steht die Abwehr der Immunsystemattacken im Fokus

Wenn es den Nerven an den Kragen geht

Aktualisierte S2k-Leitlinie gibt Hinweise für spezielle Patientengruppen

Up to date in der MS-Therapie

Nutzenbewertung von Ocrevus

Wie findet der G-BA Ocrelizumab?

Neuer CD20-Antikörper ist auch bei primär progredienter multipler Sklerose wirksam

Ocrelizumab erweitert MS-Therapie

Beschleunigte Zulassung für Ocrelizumab

Neues Arzneimittel bei Multipler Sklerose

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.