Interpharm 2023

Maßgeschneiderte Pharmakotherapie – Wunschtraum oder schon Realität?

Therapie und Tests sollten ein Tandem bilden

cb | Wenn Arzneimittel nicht wie erwartet wirken oder die Nebenwirkungen individuell unterschiedlich stark ausgeprägt sind, kann es verschiedene Gründe dafür geben. Einer davon sind genetisch bedingte Unterschiede bei der Metabolisierung der Arzneistoffe, wie Apotheker Dr. Werner Haußmann erläuterte.

Die ersten Diskussionen darüber, dass die patientenindividuelle Genetik die Wirkung von Arzneistoffen beeinflussen könnte, wurden bereits in den 1950er-Jahren geführt. Begriffe wie Pharmakogenetik, personalisierte bzw. individualisierte Medizin, stratifizierte Pharmakotherapie oder Präzisionsmedizin stehen für das Bemühen, diese Erkenntnisse zum Nutzen der Patienten in die Praxis zu überführen. Nach Ansicht von Haußmann wird jedoch vielfach noch „blind“ therapiert, das heißt: Patienten erhalten zunächst die Regeldosierung eines Medikaments, und erst im Nach­hinein stellt der Arzt fest, dass die erhoffte Wirkung nicht oder nicht in gewünschtem Maße eintritt oder die Nebenwirkungen zu stark ausfallen. Viel sinnvoller wäre es, die Wirkung eines Arzneimittels vorhersagen zu können, nachdem die Aktivität von Stoffwechselenzymen, die genetisch bedingt unterschiedlich sein kann, vor Therapiebeginn identifiziert wurde.

Auf der Website des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (VfA) steht eine Liste mit etwas mehr als 100 Wirkstoffen, bei denen vor Therapiebeginn eine pharmakogenetische Testung obligatorisch ist (www.vfa.de/personalisiert). Sie enthält überwiegend Arzneimittel zur Behandlung von Tumor­erkrankungen und AIDS. So darf beispielsweise Tamoxifen bei Brustkrebs-Patientinnen nur dann eingesetzt werden, wenn vor Therapiebeginn positiv getestet wurde, dass die Tumorzellen Estrogen- und Progesteron-Rezeptoren normal exprimieren. Soll bei einer HIV-Infektion Abacavir eingesetzt werden, ist seit 2008 ein Test auf Vorhandensein des HLA-B*5701-Allels Pflicht. Bei etwa 5% der Patienten fällt dieses Testergebnis positiv aus. Der Wirkstoff darf dann nicht angewendet werden, da ansonsten etwa bei jedem Zweiten von ihnen schwere Überempfindlichkeitsreaktionen drohen.

Foto: DAZ/Alex Schelbert

Dr. Werner Haußmann: „Wir müssen schauen, dass es nicht zu pharmakogenetischen Verlierern kommt!“

Bei vielen Wirkstoffen noch „Blindflug“

Auch bei vielen anderen Arzneistoffen gibt es genetisch bedingte individuelle Unterschiede bei der Metabolisierung, und diese können theoretisch auch per Gentest nachgewiesen werden. Diese Tests sind jedoch nicht verpflichtend. Zudem wären die Kosten als IGeL-Leistung von GKV-Ver­sicherten selbst zu tragen, da die Krankenkassen sie meistens nicht übernehmen. Dadurch kommt es zum „Blindflug“ bei der Anwendung der Arzneimittel, mit Folgen wie Therapieversagen, unzureichender Wirkung oder Toxizitäten. So sind beispiels­weise 30% aller Clopidogrel-Patienten Non-Responder, da die Aktivität des Cytochrom-P450-Enzyms 2C19 (CYP2C19), welches das inaktive Prodrug in die aktive Form überführt, aufgrund von Mutationen schwächer ausgeprägt ist. Bei den Betroffenen steigt das Thromboembolie-Risiko. Nach der Anwendung von Codein kann der Wirkstoff durch CYP2D6 zu Morphin umgewandelt werden und deshalb zusätzlich zur antitussiven auch eine analgetische Wirkung eintreten. Zwischen 5 und 10% der Menschen haben jedoch eine geringe CYP2D6-Aktivität, sie sind poor metabolizer, und die analgetische Wirkung tritt nicht ein. Es gibt jedoch auch ultra-rapid metabolizer mit genetisch bedingter hoher Enzymaktivität. Bei ihnen kann die hohe Umwandlungsrate von Codein in Morphin zu Atemdepression bis zum Atemstillstand führen, entsprechende Fallberichte liegen vor. Obwohl es viele Möglichkeiten gäbe, die Pharmakotherapie zu optimieren, werden diese noch zu wenig genutzt, bedauerte Haußmann. Das liegt unter anderem daran, dass eine maßgeschneiderte Medizin auch bezahlt werden muss. Für die öffent­lichen Apotheken wäre die Profilierung auf diesem Gebiet sinnvoll, doch offensichtlich wird diese Chance kaum genutzt. |

 

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