Interpharm 2023

Manche mögen’s nicht heiß

Arzneimittel- und Patientenversorgung bei Hitzewellen anpassen

rs | Hohe Temperaturen über mehrere Tage und Nächte hinweg machen besonders Personen mit Vorerkrankungen, alten Menschen und kleinen Kindern zu schaffen – also einem Großteil der Apothekenklientel. Welche Rolle spielen Arzneimittel in diesem immer häufigeren Szenario? Welche vermindern die körpereigene Hitzeresilienz, welche werden in ihrer Wirkung verändert? Antworten zu diesem brisanten Thema gab der Vortrag von Dr. Verena Stahl.
Foto: DAZ/Alex Schelbert

Dr. Verena Stahl


Hitze tötet: 2018 bis 2020 kam es in Deutschland zu einer signifikanten, hitzebedingten Übersterblichkeit mit insgesamt 19.300 hitzebedingten Toten. Todes­ursachen bei Hitzewellen sind vorwiegend kardiovaskuläre und respiratorische Erkrankungen, akute Hitzeschläge mit Hyperthermie und dekompensierte Vorerkrankungen von Herz/Kreislauf und Nieren. Paradoxerweise sehen sich die besonders betroffenen älteren Menschen oft nicht als gefährdet und ignorieren Hitzewarnungen der Wetterdienste und Mitmenschen. Bei isoliert Lebenden und Alleinstehenden fehlen auch soziale Kontrolle und Hilfsangebote. „Man muss die Menschen aktiv und per­sönlich ansprechen“, empfahl Stahl. Besonders hitzeempfindlich sind auch Schwangere, deren Körper mehr Wärme produziert als sonst; es steigt das Risiko von Frühgeburt und niedrigem Geburtsgewicht. Von Überhitzung gefährdet sind weiterhin Kleinkinder, Sporttreibende, Obdachlose und im Freien Arbeitende.

Wenn Arzneimittel den Durst bremsen

Ausreichend trinken ist die primäre und wichtigste Maßnahme, um den Körper durch Hydratisierung vor Überhitzung zu schützen. Die ideale Trinkmenge von 1,5 bis 2 Liter pro Tag sollte bei Hitze um 0,5 Liter ergänzt werden. Da das Durstgefühl vor allem bei Älteren zu spät einsetzt, ist eine sinnvolle Empfehlung, „automatisch“ alle ein bis zwei Stunden ein Glas Wasser (150 bis 250ml) zu trinken. Ist der Urin hell und klar, stimmt die Flüssigkeitsbilanz; ist er dunkel, muss für eine höhere Trinkmenge gesorgt werden. Patienten mit Inkontinenz oder Schluckstörungen trinken oft ohnehin zu wenig. Dehydratations­zustände können mit alterstypischen Symptomen verwechselt und ver­harmlost werden.

Eine Reihe von Arzneimitteln hemmt das natürliche Durstgefühl. Dazu zählen unter den Neuroleptika vor allem atypische wie Clozapin und Risperidon, weiterhin ACE-Hemmer (in hohen Dosen), Sartane, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Carbamazepin und Parkinson-Mittel.

Fokus: Diuretika

Wichtige Risikofaktoren für hitzeschlagassoziierte Todesfälle und Morbidität sind Elektrolyt-Imbalancen, Hypovolämie und Dehydratation. Elektrolytstörungen können prinzipiell unter allen Diuretika auftreten. Allgemein verstärken sie die Hypovolämieneigung, in Kombination mit SSRI auch die Tendenz zur Hyponatriämie (Natriumkonzentration im Blut < 135 mmol/l). Welche Gefahren bestehen? Schon geringgradige Dehydratation kann Symptome wie Müdigkeit oder Verwirrtheit verursachen, ohne dass schon stehende Hautfalten auffallen. Als Folge einer Hämokonzentration kann es – insbesondere bei vorliegenden Venenerkrankungen oder bei älteren Patienten – zu Thrombosen und Embolien kommen. Ein Diurese-indizierter renaler Flüssigkeitsmangel kann von heute auf morgen zum akuten Nierenversagen führen, besonders wenn die Nieren durch Komedikation von NSAR und ACE-Hemmern/Sartanen schon belastet sind (Triple Whammy). Gleichzeitige Medikation mit Antihypertensiva und Vasodilatatoren (Ca-Antagonisten, Nitrate) kann zu Blutdruckabfall und Synkopen bis hin zu Kreislaufkollaps mit Sturzgefahr führen.

Bei Patienten unter Diuretika sollten Blutdruck, Gewicht und Urin in Hitzewellen überwacht und auf Zeichen von Austrocknung geachtet werden. Im Zweifelsfall sollte man Flüssigkeit substituieren. Elektrolyte und Nierenfunktion (GFR), insbesondere Serumspiegel von Natrium und Kalium, sollten regelmäßig kontrolliert werden. Es kann angezeigt sein, die Diuretika-Dosis nach ärztlicher Anordnung vorübergehend zu reduzieren oder ganz auszusetzen.

Hitzewarnungen online

Deutschland hat keinen nationalen Hitzewellenplan (wie z. B. Frankreich). Aber es gibt zahlreiche Institutionen und Apps, die Warndienste und Hitzeinformationen bereitstellen (z. B. www.hitze.info, „Hitzeknigge“ bei www.umweltbundesamt.de, www.patienteninformation.de/kurzinfor­mationen/hitze). Der Deutsche Wetterdienst (www.dwd.de) bietet allge­meine Hitzetrendkarten, man kann auch Hitze-Newsletter für jeden Landkreis anfordern oder die WarnWetter-App nutzen. Gewarnt wird vor „starker Wärmebelastung“, wenn die gefühlte Temperatur rund 32 °C an zwei aufeinanderfolgenden Tagen überschreitet, ohne ausreichende nächt­liche Abkühlung („Tropennächte“ > 20 °C). Eine Warnung vor „extremer Wärmebelastung“ erfolgt, wenn am frühen Nachmittag die gefühlte Temperatur rund 38 °C überschreitet.

Gefahr durch reduziertes Schwitzen

Die kutane Vasodilatation und die Transpiration sind wesentliche körpereigene Kühlmechanismen. Beide werden zentral gesteuert, unter anderem im Hypothalamus. Schweißdrüsen werden dabei über muskarin­erge Acetylcholin-Rezeptoren angeregt. Das bedeutet, dass Anticholinergika diesen wichtigen Kühlmechanismus hemmen. Eindrücklich sichtbar wird dies bei den Atropin-Neben­wirkungen, zu denen rote, heiße und trockene Haut, Mundtrockenheit und Temperaturanstieg zählen. „Anticholinerge Wirkungen haben zahlreiche, für ein breites Indikationsspektrum eingesetzte Arzneimittel, an die man a priori nicht so schnell denkt“, brachte Stahl in Erinnerung. Wirkstoffe mit anticholinerger Hauptwirkung, die das Schwitzen vermindern, sind unter anderem

  • Antiemetika, Antivertiginosa (z. B. Dimenhydrinat, Scopolamin),
  • Antiparkinsonmittel (z. B. Amantadin, Biperiden, Bornaprin),
  • urologische Spasmolytika (z. B. Oxybutynin, Tolterodin),
  • inhalative Bronchodilatatoren (z. B. Tiotropium-, Glycopyrroniumbromid),
  • gastrointestinale Spasmolytika wie Butylscopolamin.

Wirkstoffe mit deutlichen anticholinergen Nebenwirkungen sind unter anderem

  • H1-Antihistaminika (z. B. Diphen­hydramin, Doxylamin, Cetirizin),
  • Antidepressiva (Tricyclica wie Amitriptylin),
  • Antipsychotika wie Clozapin und Olanzapin, die zudem die Körpertemperatur erhöhen können (Cave: malignes Neuroleptikasyndrom),
  • Benzodiazepine wie Diazepam und Temazepam, die zudem Sedierung und Sturzgefahr steigern,
  • Antiarrhythmika (z. B. Chinidin, Procainamid).

Verminderte Schweißbildung, Hitzschlag und Austrocknung wurden unter dem Antiepileptikum Zonisamid vor allem bei Kindern und Jugend­lichen bei heißem Wetter gemeldet. Manche Fälle verliefen tödlich. Ursächlich ist vermutlich eine Hemmung von Isoenzymen der Carbo­anhydrase in Schweißdrüsen. Diese ist auch bei dem neueren Antiepilep­tikum Topiramat gegeben. In einer Studie mit 151 Kindern wurde unter Topiramat bei knapp 40% von verringerter Schweißabgabe berichtet.

Die Wärmeabgabe über die Haut erfolgt auch durch Weitstellung der Hautgefäße. Konterkariert wird dieser Mechanismus durch zentrale Stimulanzien und Sympathomimetika (z. B. Atomoxetin, Amphetamine, Ephedrin, Ecstasy).

Veränderungen in der Pharmakokinetik durch Hitze

Wichtig bei Diabetikern: Eine in Hitze und Sonne gesteigerte Hautdurch­blutung kann die Resorption von gespritztem Insulin beschleunigen und die Hypoglykämiegefahr steigern. Beobachtet wurde dies bei Anwendung von Normalinsulin, jedoch nicht bei retardiertem Insulin. Derselbe Effekt ist auch bei transdermalen therapeutischen Systemen (TTS) relevant. So kann bei einem Fentanyl-TTS eine Erhöhung der Hauttemperatur um 5 °C verdoppelte Fentanyl-Plasmaspiegel nach sich ziehen. Hier und auch bei Rivastigmin- und Rotigotin-TTS wird explizit vor einer übermäßigen Wärmebelastung gewarnt.

Renal eliminierte Arzneimittel werden bei Hitze langsamer ausgeschieden, wenn die Nieren schlechter durchblutet sind. Wirkstärke und -dauer können sich erhöhen, was bei geringer therapeutischer Breite bedeutsam wird – etwa bei Lithium, Herzglykosiden, Sotalol, Propafenon oder Flecainid.

Arzneimittel nie eigenmächtig absetzen

Arzneimittel gegen Psychosen, Parkinson und Epilepsie können zwar die Wärmeabgabe bei Hitze stören, sind aber für Betroffene unverzichtbar. Lässt sich ein Arzneimittel nicht absetzen, sind Verhaltensmaßnahmen angezeigt. Neben dem ausreichenden Trinken und dem Aufsuchen kühler Räume können externe Kühlmaßnahmen empfohlen werden: etwa Kälte­decken, (nicht zu) kühle Wadenwickel und lauwarmes Abduschen. Wichtig: Antipyretika sind gegen eine hitze­bedingt erhöhte Körpertemperatur unwirksam. Sie senken die Körpertemperatur, wenn diese durch Pyro­gene gestiegen ist. Im Gegensatz zum Fieber bleibt der Sollwert der Körpertemperatur bei einer Hyperthermie durch erhöhte Umgebungstemperatur unverändert. |

 

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