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Suchtmedizin
Wer Sorgen hat …
Wie Corona-Pandemie, Sucht und veränderter Substanzkonsum zusammenhängen
Seit Anfang 2020 besorgt uns COVID-19 und die Pandemie hat sich sehr deutlich auf alle Lebensbereiche ausgewirkt. Und genau diese Pandemie-bedingten Auswirkungen auf unser tägliches Leben drück(t)en vielen Menschen aufs Gemüt: Berufliche und finanzielle Unsicherheiten, Sorgen und Ängste vor Ansteckung, schwere Krankheitsverläufe im persönlichen Umfeld oder die sozialen Einschränkungen waren und sind eine Belastung. Alle europäischen Länder haben als Antwort auf die Bedrohung durch die Pandemie einschneidende Maßnahmen, verbunden mit weitreichenden persönlichen Einschränkungen, zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ergriffen.
Erwartete Auswirkungen der Pandemie auf den Konsum …
Diese Umstände lassen vermuten, dass nach drei Pandemiejahren vermehrt zu Alkohol, Tabak oder anderen Suchtmitteln gegriffen wird, um den damit verbundenen Stress zu bewältigen. Denn gerade der zitierte Alkohol dämpft die Erregbarkeit von Nervenzellen und mindert kurzzeitig die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol als willkommene Strategie zur Bewältigung von Stress- und Belastungssituationen. Doch auch weitere, zum Teil nicht stoffgebundene Ablenkungsstrategien sind zu erwarten.
… und die tatsächlichen Auswirkungen
Die Drogenbeobachtungsstelle der Europäischen Union (EMCDDA) analysiert den aktuellen Drogenkonsum auch im Hinblick auf Beeinträchtigungen durch die Pandemie. Der Bericht bietet einen aktuellen Überblick über die Situation in Europa und untersucht neue und langfristige Trends der Drogenszene. Es gibt Hinweise, dass sich während der Pandemie der Konsum von Alkohol, Tabak und illegalen Drogen verändert hat. Die Angst vor einer möglichen Ansteckung, aber auch weitgehende Einschränkungen sozialer Kontakte und Quarantäneanordnungen, die eine drastische Veränderung des gewohnten Alltags bedeuten, können besonders bei vulnerablen Gruppen wie Menschen mit Suchterkrankungen und suchtgefährdeten Menschen deutliche psychische Belastungen zur Folge haben und Spuren hinterlassen.
Die Verfügbarkeit von illegalen Drogen blieb während der Pandemie in der EU nach wie vor hoch und übersteigt nach umfassenden Untersuchungen inklusive Abwasseranalysen in einigen Fällen (z. B. bei Cocain) sogar die Zeit vor Corona. So liegen Cannabis und Cannabisprodukte (inklusive Cannabidiol, CBD) weiterhin europaweit im Trend. Sorge bereitet die Zunahme der Berichte über Cannabis, das durch synthetische Cannabinoide verfälscht wurde. Denn jedes Szenario, in dem Menschen unwissentlich synthetische Cannabinoide konsumieren, ist angesichts der Toxizität einiger dieser Substanzen besorgniserregend, wie das Auftreten von über 20 Todesfällen im Zusammenhang mit einem synthetischen Cannabinoid (4F-MDMB-BICA) im Jahr 2020 zeigt.
10% der Befragten in repräsentativen Umfragen gaben an, dass sie seit Corona mehr trinken würden. Auf diese Weise wollen sie Sorgen ausblenden und die eigene Stimmung verbessern. Andere versuchen, Stress mit Rauchen oder Dampfen abzubauen. So ist der Nicotin-Konsum um rund 8% gestiegen. Auch die Einnahme von nicht indizierten Arzneimitteln hat leicht zugenommen.
Umfragedaten der EU deuten neben einem höheren Alkoholkonsum auf vermehrte Versuche mit bewusstseinsverändernden Drogen wie LSD hin. Dies könnte auf einen Anstieg der Nachfrage nach Substanzen zurückzuführen sein, die möglicherweise für den Konsum zu Hause als geeigneter angesehen werden. Gelegenheits-Drogenkonsumenten scheinen ihren Konsum während der Pandemie eingeschränkt oder sogar vollständig aufgegeben zu haben, wohingegen Personen mit regelmäßigem Konsum ihren Drogenverbrauch gesteigert haben.
Heroin, Crack und Benzos
Besorgniserregend sind Berichte über die leichte Verfügbarkeit von Heroin, Crack und Benzodiazepinen. Ein erhöhter Konsum von Benzodiazepinen wurde bei Hochrisiko-Drogenkonsumierenden, Häftlingen sowie Freizeitkonsumierenden beobachtet, was möglicherweise auf die hohe Verfügbarkeit und die niedrigen Kosten dieser Substanzen sowie auf Pandemie-assoziierte psychische Probleme zurückzuführen ist. Der Konsum von Benzodiazepinen in Kombination mit anderen psychoaktiven Substanzen, einschließlich Opioiden und Alkohol, erhöht bekanntermaßen das Risiko gefährlicher oder gar tödlicher Überdosierungen. Krankenhäuser verzeichneten 2020 einen signifikanten Anstieg der Notfälle im Zusammenhang mit Benzodiazepinen.
Digitale Suchtformen als Bewältigungsstrategie
Steigerungen verzeichnen auch nicht stoffgebundene, oft digitale Suchtformen, insbesondere Glücksspiel und pathologische Internetnutzung. Die Diagnose „Pathologisches Glücksspiel“ ist dagegen während der Pandemie in der Suchthilfestatistik deutlich zurückgegangen. Das liegt daran, dass die Spielhallen geschlossen waren. Ein unmittelbarer Umstieg von stoffgebundenen Suchtformen auf digitales Glücksspiel lässt sich nicht feststellen.
Ein verstärkter Medienkonsum, gelegentlich gekoppelt mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen kann Ausdruck einer vermeintlichen „Coping-Strategie“ sein. Darunter versteht man eigene Methoden zur gezielten Bewältigung von Stress, belastenden Situationen und vor allem von Angst. Digitale Zerstreuung wird bewusst mit dem Ziel, Stress und Ängste zu reduzieren praktiziert. Dies bestätigte die DAK-Studie „Gaming, Social Media & Corona“, welche die Entwicklung bei 10- bis 17-Jährigen untersuchte und einen drastischen Anstieg von Gaming-Zeiten und Internetnutzung ebenso wie von Social-Media-Aktivitäten während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 zeigt.
Darüber hinaus wird die Thematik im Jahresbericht 2020 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung aufgegriffen. Nach Rekordwerten im April 2020 ging die Gaming-Nutzung im zweiten Lockdown wieder zurück, befindet sich jedoch nach wie vor über den Werten von vor der Pandemie. Beratungsstellen berichten teilweise, dass frühere exzessive Nutzer von Spielcasinos während des Lockdowns wegen deren Schließung auf Alkohol umgestiegen sind oder ihren Alkoholkonsum deutlich gesteigert hätten.
Neue Wege beim Drogenhandel
Obwohl es im Endkundenmarkt auf der Straße während des anfänglichen Lockdowns zu lokalen Engpässen kam, haben Drogenhändler und -käufer durch einen verstärkten Einsatz von verschlüsselten Nachrichtendiensten, Social-Media-Plattformen, Online-Quellen sowie Post- und Heimzustelldiensten Wege gefunden. Drogenherstellung und Drogenhandel scheinen sich schnell an die Pandemiesituation angepasst zu haben und es gibt kaum Hinweise auf größere Versorgungsunterbrechungen. Die Produktion und Einfuhr synthetischer Drogen bewegen sich auf hohem Niveau, in Europa taucht etwa jede Woche eine neue psychoaktive Substanz auf. 2021 wurden – so wie in den meisten Vorjahren – über das EU-Frühwarnsystem zahlreiche neue Drogen gemeldet. Die rasend schnelle Neuentwicklung von synthetischen Suchtsubstanzen ist schon seit vielen Jahren ein Problem. 2021 wurden tatsächlich 52 neue Drogen erstmals gemeldet, darunter sechs neue synthetische Opioide, sechs synthetische Cathinone und 15 synthetische Cannabinoide. Seitdem in China hinsichtlich synthetischer Cathinone verstärkt kontrolliert wird, stammen die meisten Großmengen dieser Substanzen, die nach Europa geschmuggelt wurden, aus Indien.
Tatsächlich gehören Innovationen beim Drogenhandel, Globalisierung und neue Handelsrouten sowie das Wachstum der Online-Märkte zu den bedeutendsten Veränderungen auf dem europäischen Drogenmarkt. Zunehmend hält auch beim illegalen Handel die Digitalisierung Einzug. Es wurde eine Diversifizierung der Handelsrouten für Drogen beobachtet, wobei mehr Drogen auf dem Seeweg geschmuggelt wurden, um geschlossene Ländergrenzen zu umgehen, was zu umfangreichen Sicherstellungen in den europäischen Häfen führte. Allein im Hamburger Hafen wurden 2021 16 Tonnen Cocain sichergestellt, wie der Norddeutschen Rundfunk meldete
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Auswirkungen auf die Suchthilfe
Suchthilfe ist multiprofessionell und leistet nicht nur einen Beitrag für die Hilfesuchenden, sondern auch für die Gesellschaft. Doch nach Einschätzung von Experten haben die pandemiebedingten Einschränkungen auch Auswirkungen auf das Suchthilfesystem. Das kann statistisch belegt werden: Einmalige Kontakte haben deutlich weniger stattgefunden. Selbsthilfegruppen wurden in ihrer Arbeit eingeschränkt. Auch mit Schließung von Freizeit- und Sportanlagen wurde besonders vulnerablen Gruppen der Weg zur Kompensation von psychischen Belastungssituationen erschwert. Zudem deuten Einzelberichte auf eine Zunahme von Gewalt in „Suchtfamilien“ hin. Die Verfügbarkeit von Räumen, der Zugang zu spezifischen Hilfsangeboten und der persönliche Kontakt wurden eingeschränkt bzw. erschwert.
Positiv anzumerken ist, dass die Digitalisierung – wie beim Handel mit Drogen – auch bei neuen therapeutischen Angeboten keinen Halt macht, sondern neue Technologien und Möglichkeiten eröffnet, individuell auf Drogenprobleme zu reagieren. Diese neuen Ansätze ermöglichen es, betroffene Konsumenten auch unter Pandemiebedingungen zu unterstützen (s. Kasten „Die Plattform DigiSucht“). Mit telefonischen oder digitalen Beratungssystemen und einzelnen gesetzgeberische Maßnahmen beispielsweise bei der Substitutionstherapie und den Take-Home-Regelungen konnten manche ungünstigen Entwicklungen teilweise kompensiert werden.
Die Plattform DigiSucht
Zur Verbesserung der digitalen Infrastruktur ging bundesweit nach einigen Jahren Vorbereitung die Plattform DigiSucht online: www.suchtberatung.digital. Das Projekt wird gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und bietet Onlineberatung zu allen Fragen rund um die Themen Drogen, Sucht, Substanzkonsum, Glücksspielen und Medienkonsum. Die DigiSucht Plattform wird aktuell im Rahmen einer Modellphase getestet und evaluiert. An dem Modellbetrieb und der Onlineberatung beteiligen sich über 40 Suchtberatungsstellen mit mehr als 80 Beraterinnen und Beratern aus 13 Bundesländern. Anfragen aus Mecklenburg-Vorpommern, dem Saarland sowie Schleswig-Holstein können bislang leider nicht über DigiSucht bearbeitet werden. In einzelnen Bundesländern können zudem nicht alle Themen und Personengruppen über die Plattform beraten werden.
Post-COVID und Hypnotika
Während die Mehrzahl der mit SARS-CoV-2 Infizierten ihre Infektion nach einigen Wochen überwinden, kommt es nach Einschätzung von Experten in etwa 10% der Fälle zum Long- oder Post-COVID-Syndrom. Beim Letztgenannten persistieren die Beschwerden länger als zwölf Wochen. Neben Fatigue, Atemwegsbeschwerden, Herzmuskelentzündungen, Erschöpfung und Konzentrationsstörungen treten häufig belastende Schlafstörungen auf. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass in hausärztlichen Praxen mehr Benzodiazepine und Z-Substanzen verordnet werden. Und da weiterhin Erstverordnungen häufig in Dauerverordnungen münden, könnte damit möglicherweise die Grundlage für steigende Fallzahlen bei Langzeiteinnahme und Benzodiazepin-Abhängigkeit gelegt werden.
Vulnerabilität von Suchtkranken und Suchtgefährdeten
Immer wieder wird im Zusammenhang mit der Pandemie von „vulnerablen Gruppen“ gesprochen. Darunter versteht man Personenkreise, die aufgrund hohen Lebensalters oder ungünstiger Bedingungen wie chronische Krankheiten im besonderen Maße durch eine Infektion gefährdet sind. Fachleute identifizieren Suchterkrankte als Risikogruppe sowohl für eine Infektion als auch für einen schweren Verlauf von COVID-19, die darüber hinaus Mitarbeitende im Gesundheitswesen sowie ihr unmittelbares persönliches Umfeld gefährden können. Dies kann zum Nichteinhalten von Quarantäne- und Infektionsschutzmaßnahmen führen. Kontaktbeschränkungen und psychische Belastung durch pandemiebedingte Maßnahmen können wiederum zu einem vermehrten Konsum führen. All dies kann mit einem erhöhten Ansteckungsrisiko einhergehen.
Aussicht und Handlungsempfehlungen
Die Verbreitung, Bekanntmachung und der Ausbau bestehender Angebote müssen stärker vorangetrieben werden. Besonderes Augenmerk sollte auf die Versorgungssituation von Kindern suchtkranker Eltern gelegt werden mit dem Ziel, die Zusammenarbeit mit Schulen und Kitas zu fördern. Auch die Entwicklung zielgruppengerechter Interventionsprogramme, die Schaffung digitaler Angebote in der Suchthilfe und die Verbesserung der digitalen Ausstattung sowie der digitalen Infrastruktur von Institutionen der Suchthilfe scheint zielführend.
Sensibilität und niedrigschwellige Beratung in Apotheken und Arztpraxen kann vor allem in frühen Phasen einer Suchtentwicklung hilfreich sein. Dabei erscheint als präventiver Ansatz vor allem die Schaffung von Behandlungsoptionen für Personen mit „schädlichem Gebrauch“ als potenzielle Vorstufe zu einer Suchterkrankung als sinnvoll. Erhöhter Handlungsbedarf wird für den Zugang zu besonders betroffenen bzw. vulnerablen Gruppen und deren zielgruppengerechte Unterstützung gesehen. Oft sind Personen betroffen, die insbesondere pandemiebedingt zusätzlich zu ihrer Suchterkrankung vermehrten psychischen Belastungen ausgesetzt sind oder Komorbiditäten wie weitere psychische Erkrankungen aufweisen. Diese Personengruppen sind besonders schwer und auch durch digitale Formate nur bedingt zu erreichen. Die genannten Punkte sind nicht neu, deren Notwendigkeiten wurden jedoch während der Pandemie besonders sichtbar. Suchthilfe wurde als „systemrelevant“ eingestuft.
Fazit
Nach rund drei Jahren Erfahrung mit dem Coronavirus stehen wir heute nicht mehr am gleichen Punkt wie zu Beginn der Pandemie. Die Basisimmunität in der Bevölkerung ist höher durch Impfungen oder überstandene Infektionen, und damit sind viele Menschen zumindest vor einem kritischen Verlauf geschützt. Dies gilt im ähnlichen Umfang auch für Suchtkranke und suchtgefährdete Menschen, bei denen sich – wie in der Restbevölkerung – im dritten Pandemiejahr eine zunehmende Corona-Müdigkeit breit macht. Wir alle müssen in der Zukunft lernen, mit COVID-19 zu leben. Es ging und geht im Umgang mit der Corona-Pandemie immer um Solidarität und Verantwortung gegenüber anderen, die durch eine mögliche Infektion vielleicht sogar lebensbedrohlich gefährdet sind: Neben Alten und Menschen mit chronischen Krankheiten wie Immundefiziten zählen dazu auch Suchtkranke. Diese vulnerablen Gruppen dürfen nicht außer Acht gelassen werden! Jeder Einzelne trägt ein Stück Verantwortung für sich, seine Angehörigen und je nach Tätigkeit eben auch für seine Patienten, Klienten oder Kunden. |
Literatur
Blank J. Fachstelle Sucht Emmendingen, Baden-Württembergischer Landesverband für Prävention und Rehabilitation gGmbH, persönliche Mitteilung, 2022
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Haufe Online Redaktion. Suchtprobleme haben während der Pandemie zugenommen. Stand: 4. Oktober 2021, www.haufe.de/arbeitsschutz/gesundheit-umwelt/corona-suchtprobleme-haben-waehrend-der-pandemie-zugenommen_94_552386.html
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Suchthilfestatistik 2021 – Daten zur Suchtberichterstattung der ambulanten Suchthilfe Baden-Württemberg. Stand: 2022, Landesstelle für Suchtfragen der Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg, www.lss-bw.de
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