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COVID-19
Long-COVID und kein Ende
Stand des Wissens zu einem Syndrom, das mehr Gesichter hat als unser Körper Organe
Am Anfang fielen nur Atemprobleme und Erschöpfung auf. Bei manchen Patienten wollten sie nach überstandener COVID-19-Erkrankung nicht weichen. Dann entdeckten Betroffene an sich selbst mehr und mehr Symptome und kreierten den Begriff Long-COVID. In drei Jahren Pandemie wuchs das Syndrom dann zu einer Art Riesenpuzzle, dem Forschende ständig neue Bausteine hinzufügen, von denen oft ungewiss ist, ob und wie sie dazugehören. Wie fasst man eine Krankheit, für die mehr als 200 Symptome an praktisch allen Organen beschrieben wurden? Die kommen und gehen, sich teils erst nach Monaten und Jahren manifestieren? Deren Definition immer noch nicht einheitlich ist?
Long und/oder Post-COVID?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die „Post-COVID-19 condition (Long-COVID)“ als das Fortbestehen oder die Entwicklung neuer Symptome drei Monate nach der SARS-CoV-2-Erstinfektion, wobei diese Symptome ohne andere Erklärung mindestens zwölf Monate andauern.
Hingegen unterscheidet die deutsche S1-Leitlinie in Anlehnung an das Britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) zwischen Long- und Post-COVID. Long-COVID ist das Fortbestehen COVID-19-typischer Symptome über einen Zeitraum von vier Wochen nach der Erstinfektion hinaus (fortwährend symptomatisch, „post acute“). Halten sie über die Woche 12 hinaus an und sind nicht durch eine andere Diagnose zu erklären, spricht man vom Post-COVID-Syndrom. Dabei sollen nicht nur Symptome berücksichtigt werden, die aus der akuten Erkrankung fortbestehen, sondern auch jene, die aus der Behandlung resultieren; weiterhin solche, die nach Ende der akuten Phase, aber wohl als Folge der COVID-19-Erkrankung aufgetreten sind. Auch Symptome, die zu einer neuen gesundheitlichen Einschränkung geführt haben, oder die eine vorbestehende Grunderkrankung verschärft haben, zählen zu Long-/Post-COVID [1]. Die Begriffe Long- und Post-COVID werden nicht nur in öffentlichen Diskussionen, sondern auch in der Fachwelt durcheinandergeworfen. Studienautoren sprechen auch gerne von Post-acute Sequelae of COVID-19 (PASC), ohne einen Zeitraum zu definieren. „Das Label ‚Post-COVID‘ ist so schwammig, dass man mühelos den gesamten ICD-10 als Post-COVID verkaufen kann“, beklagt ein Internist auf einer Online-Plattform. Mittlerweile hat der „Post-COVID-19-Zustand“ einen eigenen ICD-10-Schlüssel (U09.9).
Wie viele Menschen sind von Long-COVID betroffen?
Die Antwort ist ein Jonglieren mit mehreren Unbekannten. Ein Lancet-Review spricht von 65 Millionen weltweit, nämlich 10% der 651 Millionen dokumentierten COVID-19-Fälle [2]. Die Dunkelziffer der COVID-19-Erkrankten dürfte aber weit höher liegen, im Milliardenbereich. Und wie viele Menschen Long-COVID oder Post-COVID haben oder glauben, es zu haben, liegt angesichts uneinheitlicher Definitionen, der Heterogenität der Datenerfassung und zugrundegelegter Zeitspannen etc. ebenfalls im Dunkeln. Es gibt keine akzeptierten Biomarker und keine beweisende Diagnostik. „In einigen Ländern wird Long-COVID überhaupt nicht diskutiert und die Menschen sind sich ihrer Situation nicht einmal bewusst“, sagt Akiko Iwasaki, Immunologin und Professorin für Immunbiologie und Epidemiologie an der Yale School of Medicine. Unterm Strich hält sie die 65 Millionen dennoch für eine gute Schätzung, eher eine Unterschätzung. „Die Inzidenz von Long-COVID wird auf 10 bis 30% der nicht hospitalisierten Fälle, 50 bis 70% der hospitalisierten Fälle und 10 bis 12% der geimpften Fälle geschätzt“, wird im Nature-Papier differenziert. Laut einer deutschen Übersichtsarbeit tritt ein Post-COVID-Syndrom (nach WHO-Definition) bei bis zu 15% ungeimpfter, erwachsener SARS-CoV-2-Infizierter auf. Die Häufigkeit nehme in der jetzigen Phase der Pandemie und nach Impfung ab [3].
200 Symptome ordnen
Ein pragmatischer Ansatz, den die deutsche S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID verfolgt, ist die Sortierung der Symptome nach der berichteten Häufigkeit. Fatigue, Atemnot, Leistungs- und Aktivitätseinschränkungen, Kopfschmerzen, Geruchs- und Schmeckstörungen bilden demnach die Spitze der Long-COVID-Symptome. Es folgen: Husten, Schlafstörungen, Depressivität und Angst, aber auch allgemeine Schmerzen, kognitive Einschränkungen, Haarausfall und Zwangshandlungen. Eher selten berichtet werden Lähmungen, Sensibilitätsstörungen, Schwindel und Übelkeit, Tinnitus und Ohrenschmerzen, gastrointestinale und kardiale Symptome (welche an sich schon ein ganzes Facharztfeld darstellen). Anhaltende Symptome sind auch nach mildem und moderatem Verlauf möglich. Sie bilden sich in einem Großteil der Fälle im Verlauf einiger Wochen bis Monate vollständig zurück, nach heutigem Wissensstand meist ohne bleibende Schäden [1].
Immer noch werden neue Gesundheitsprobleme mit Long-COVID in Verbindung gebracht, beispielsweise funktionelle Veränderungen im reproduktiven System. Verstärkte prämenstruelle Symptome, Veränderungen des Menstruationszyklus und der ovariellen Hormonproduktion, Regelblutung als Trigger für Long-COVID-Symptome könnten mit der Fülle von ACE2-Rezeptoren in Ovarien und Endometrium erklärt werden. Eine Pilotstudie fand Partikel von SARS-CoV-2 in Penisgewebe von COVID-19-Genesenen und machte sie für deren erektile Dysfunktion verantwortlich. Die Probandenzahl n = 4 illustriert indes, dass die Studienlage zu geschlechtsspezifischen Long-COVID-Symptomen noch dünn ist [2].
Relativ gut begründet erscheint der Verdacht auf neu auftretende metabolische, kardio- und zerebrovaskuläre Krankheiten im Gefolge der SARS-CoV-2-Infektion. Das belegten Epidemiologen der Saint Louis University, USA, anhand der Datenbank des größten nationalen Gesundheitsversorgers, des US Department of Veterans Affairs. In einer Kohorte von über 180.000 COVID-19-Genesenen war das Risiko für das Auftreten eines Typ-2-Diabetes zwölf Monate nach überstandener Infektion 1,4-fach höher als in der Kontrollgruppe von über vier Millionen nicht infizierten Personen. 13,5 von 1000 Untersuchten entwickelten zusätzlich die Stoffwechselkrankheit [4]. In weiteren Kohorten konstatierten die Forschenden nach einem Jahr erhöhte Risiken für Schlaganfall und ischämische Attacken (HR = 1,53), Herzrhythmusstörungen (HR = 1,69), Herzinfarkt (HR = 1,63), Herzinsuffizienz (HR = 1,72), außerdem für tiefe Venenthrombosen (HR = 2,09) und Lungenembolien (HR = 2,93) [5]. Eine Stärke dieser Studien ist ihre große Fallzahl, eine Hauptlimitation die Beschränkung auf ältere, weiße Männer.
Symptome nach Phänotypen sortieren
Aus klinischer Sicht wird die Ansicht vertreten, dass man bei Long-COVID besser von verschiedenen einzelnen Krankheitsbildern ausgehen solle, die individuelle Patienten in unterschiedlicher Ausprägung beträfen. Professor Koczulla schlägt eine Zuordnung der Einzelsymptome zu klinischen Phänotypen vor:
- der Fatigue-Phänotyp mit kognitivem und körperlichem Leistungsabfall, unverhältnismäßiger Erschöpfung nach Belastung, Unfähigkeit zur Regeneration,
- der pneumologische Phänotyp mit Dyspnoe, Husten und/oder Schlafproblemen,
- der neurologische Phänotyp mit kognitiven Einbußen, Sensibilitätsstörungen, Lähmungen und Tinnitus,
- der kardiologische Phänotyp mit Brustschmerz, Arrhythmien und orthostatischer Dysregulation,
- der Gefäß-Phänotyp mit Thrombosen, Lungenembolie, Schlaganfall- und Infarktgefährdung,
- der gastrointestinale Phänotyp mit Übelkeit, Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Sodbrennen, Verstopfung und Dysbiose der Darmmikrobiota.
Auch solche Symptomcluster können sich bei vielen Patienten noch überlappen. Symptome können parallel oder nacheinander auftreten, bei Fatigue-Betroffenen werden sie auch von Belastung getriggert und treten dann „neu“ oder erneut auf. „COVID-19 ist nicht immer eine linear verlaufende Krankheit mit einer akuten Phase, die in Erholung oder anhaltende Besserung übergeht“, sagt Dr. Elaine Maxwell vom britischen National Institute für Health Research. „Es kann eine zyklische Erkrankung sein, mit Symptomen, die durch verschiedene Organsysteme ziehen und in ihrer Schwere fluktuieren.“
Symptome haben eine Reihenfolge
Beginn und zeitlicher Verlauf der Long-COVID-Symptome unterscheiden sich von Person zu Person und nach Symptomtyp, schreiben die Lancet-Autoren. Neurologische Beschwerden treten oft mit einer Verzögerung von Wochen bis Monaten auf. Verschiedene kognitive Symptome halten tendenziell länger an und neigen zur Verschlimmerung. Geruchsstörungen, gastrointestinale oder auch respiratorische Beschwerden lösen sich meist schneller auf. Prognosen sind ungewiss. Diagnosen von ME/CFS (myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom) und der häufig damit verbundenen Dysautonomie (Funktionsstörungen des autonomen Nervensystems) können wohl lebenslang bestehen. ME/CFS ist gekennzeichnet durch eine schwere Fatigue über mindestens sechs Monate mit einer ausgeprägten Zustandsverschlechterung der Symptome schon nach geringer körperlicher und geistiger Belastung (sogenannte Post-Exertional Malaise). Schätzungsweise die Hälfte der von Long-COVID Betroffenen erfüllen diese Kriterien. Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz der Berliner Charité, kennt Patienten, die schon drei Jahre an ME/CFS leiden. „Die gute Nachricht ist, dass die Symptome meist in den ersten Monaten verschwinden. Aber wir müssen zugeben, dass etwa 3 bis 5% der Patienten länger krank sind.“ Laut der bisherigen Gesundheitsdaten aus Deutschland entwickelten 0,6% der COVID-19-Erkrankten im Jahr 2020 ein ME/CFS. Zwar sind Fatigue und ME/CFS als post-infektiöse Syndrome auch von anderen viralen oder Autoimmunerkrankungen bekannt, aber: „Wir sehen heutzutage viel mehr Menschen, die nach COVID ein ME/CFS entwickeln als nach anderen Infektionen“, unterstreicht Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen [6].
Ursachensuche legt Endotypen nahe
„Long-COVID ist keine einheitliche Krankheit, sondern ein Oberbegriff, der mehrere Endotypen von Krankheiten beschreibt“, meint die Immunologin Akiko Iwasaki [11]. Während Phänotypen klinische Symptome bündeln, sortieren Endotypen nach einer gemeinsamen Pathophysiologie. Derzeit gehe man von mehreren, sich möglicherweise überlappenden Ursachen aus [7].
- Viruspersistenz: Ein „Virusreservoir“ unterhält Entzündungen, z. B. indem virale RNA die angeborene Immunantwort auslöst und/oder virale persistierende Antigene T- und B-Zellen stimulieren und die adaptive Immunantwort triggern. Virusantigene, RNA oder auch replikationsfähige Viren sind teilweise noch Monate nach der akuten Infektion in verschiedenen Geweben und Plasma von Long-COVID-Patienten nachweisbar [8].
- Immundysregulation mit oder ohne Virusreaktivierung: Die akute Infektion kann schlummernde Herpesviren wie das Epstein-Barr-Virus (EBV) oder das humane Herpesvirus 6 (HHV-6) reaktivieren, was zu einer Dysregulation des Immunsystems führt.
- Autoimmunität: Die Infektion führt zur Bildung von Autoantikörpern, etwa gegen ACE2-Rezeptoren, G-Protein gekoppelte Rezeptoren (GPCR-AAbs), muskarinerge Acetylcholinrezeptoren. Autoantikörper können sich auch gegen Bindegewebe, das Gefäßendothel und Gerinnungsfaktoren richten [9]. Sofern vorhanden, stellen Autoantikörper einen möglichen Angriffspunkt für Therapeutika dar.
- Gerinnungsstörung und endotheliale Dysfunktion: Fibrin-Amyloid-Mikrogerinnsel (microclots), die Kapillaren blockieren und den Transport von Sauerstoff zu Geweben hemmen, begleitet von einer Hyperaktivierung der Blutplättchen, könnten Kreislaufsymptome, Thrombosen und Embolien im Rahmen von Long-COVID erklären [10].
- Neuroinflammation: Entzündungen, die sich auf den Hirnstamm und/oder Vagusnerv ausweiten, stören die Signalübertragung im Nervensystem und können für Fatigue, kognitive Störungen und Tinnitus verantwortlich sein.
- gestörte Darmmikrobiota: Bestimmte Veränderungen der Darmmikrobiota korrelieren mit dem Auftreten von Long-COVID-Symptomen nach sechs Monaten.
Wer am häufigsten betroffen ist
Anders als bei der Akuterkrankung berichten Frauen Long-COVID häufiger als Männer. Am stärksten betroffen sind 30- bis 50-Jährige. Jugendliche erkranken seltener als Erwachsene, Kinder noch seltener. Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Übergewicht sowie Personen mit psychischen Vorerkrankungen, insbesondere Depression, Angststörung und ADHS, werden häufiger Long-COVID-Patienten. Spezifische Befunde wie reaktivierte Epstein-Barr-Viren oder bestimmte Autoantikörper erhöhen ebenfalls das Risiko. Allerdings hat ein Drittel aller Menschen mit Long-COVID überhaupt keine vorbestehenden Risikofaktoren [1, 3]. |
Literatur
[1] Koczulla AR et al. Post-COVID/Long-COVID. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V. (DGP) (Hrsg.), AWMF-Register-Nr. 020/027, Stand 12. Juli 2021
[2] Davis HE et al. Long-COVID: major findings, mechanisms and recommendations. Nature Reviews Microbiology 2023;21:133-146
[3] Hallek M et al. Post-COVID-Syndrom. Dtsch Arztebl Int 2023;120:48-55; DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0409
[4] Xie Y, Al-Aly Z. Risks and burdens of incident diabetes in Long-COVID: a cohort study. Lancet Diabetes Endocrinol 2022;10:311-321. doi: 10.1016/S2213-8587(22)00044-4
[5] Xie Y et al. Long-term cardiovascular outcomes of COVID-19. Nat Med 2022;28:583–590, https://doi.org/10.1038/s41591-022-01689-3
[6] Santhiraraja-Abresch S. Long-COVID: Sind 10% aller Infizierten betroffen? DocCheck 27. Januar 2023, www.doccheck.com/de/detail/articles/41679-long-COVID-sind-10-aller-infizierten-betroffen
[7] Proal AD, VanElzakker MB, Long-COVID or Post-acute Sequelae of COVID-19 (PASC): An Overview of Biological Factors That May Contribute to Persistent Symptoms. Front Microbiol 2021;12:698169, doi: 10.3389/fmicb.2021.698169
[8] Swank Z et al. Persistent Circulating Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Spike Is Associated With Post-acute Coronavirus Disease 2019 Sequelae. Clinical Infectious Diseases 2023;76:e487–e490, https://doi.org/10.1093/cid/ciac722
[9] Wang EY et al. Diverse functional autoantibodies in patients with COVID-19. Nature 2021;595:283–288
[10] Pretorius E et al. Prevalence of symptoms, comorbidities, fibrin amyloid microclots and platelet pathology in individuals with Long-COVID/Post-Acute Sequelae of COVID-19 (PASC). Cardiovasc Diabetol 2022;21:148, doi: 10.1186/s12933-022-01579-5
[11] Müller-Bohn T. Aufklärung, Forschung und Pragmatismus sind gefragt - Expertengespräche auf dem ersten Long-COVID-Kongress. DAZ 2022;48:36
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