Feuilleton

Die wundersame Apotheke

Von Arzneien ohne Verfallsdatum, himmlischem Personal und einer dramatischen Rabattaktion

Nur über eine kopfsteingepflasterte Brücke ist die Altstadt von Werder in Brandenburg zu erreichen, denn sie liegt auf einer Insel mitten in der Havel. Schon von Weitem erblickt man den stolzen Kirchturm der Heilig-Geist-Kirche auf dem Mühlenberg, der zur markanten Silhouette Werders gehört wie die Bockwindmühle gleich nebenan. Eine weitere Überraschung erwartet uns im Inneren der Kirche. In einer Seitenkapelle steht das ehemalige Altarbild mit einer Darstellung von Christus als Apotheker. Das ist schon eine Seltenheit!
Foto: Martin Glauert

Abb. 1: Überraschend groß und prächtig ist das Gotteshaus aus Backstein, eindeutig überdimensioniert für diesen kleinen Ort. Theodor Fontane, der auf seiner Wanderung durch die Mark Brandenburg auch hier Station machte, nannte sie treffend „aus der Ferne betrachtet, eine Kleinstadtkathedrale“.

Die Vorstellung von Christus als Arzt ist wesentlich geläufiger und taucht entsprechend auch viel häufiger als Bildmotiv auf. Schon im Alten Testament sagt Gott: „Ich bin der Herr, dein Arzt“ (2. Mose 15, 26). Bei Hiob ist davon die Rede, dass Gott verbindet und heilt. Jesus scheint nicht nur ein charismatischer Wanderprediger zu sein, sondern auch ein Wanderarzt und Wunderarzt, der zwischen seinen Reden, fast nebenbei, Kranke behandelt und heilt. Seine Therapieerfolge sind spektakulär: Lahme gehen, Blinde sehen und Aussätzige werden innerhalb eines Augenblicks von ihrem jahrelangen Leiden geheilt. Ein Wort von ihm reicht, und die Kranken werden gesund, ganz ohne Technik und Arzneimittel.

Foto: Martin Glauert

Abb. 2: Christus als Apotheker ist auf dem ehemaligen Altarbild in der Heilig-Geist-Kirche in Werder/Havel dargestellt.

Umso erstaunter sehen wir jetzt einen Gottessohn, der ganz routiniert mit Arzneien und pharmazeutischem Gerät hantiert. Vor uns steht Jesus in einem wallenden roten Gewand mit einem modischen Oberlippenbart und einem nahezu neckischen Kinnbart (s. Abb. 2). Aber der Heiligenschein zerstreut jeden Zweifel, wer hier hochkonzentriert am Rezepturtisch arbeitet. Vor ihm stehen ordentlich aufgereiht rote Dosen, graue Tongefäße und Flacons, alle säuberlich etikettiert (s. Abb. 3). Beim genaueren Hinschauen aber erkennt man deren Inhalt: sie enthalten weder Schmerzmittel noch Hustensaft, kein Aspirin und kein Antibiotikum, sondern spirituelle Ingredienzien. „Geduldt“, „Liebe“ und „Friede“ lesen wir auf den Dosen, „Hoffnung“, „Bestendigkeit“ und „Hülffe“ auf den Tongefäßen. Ein Verfallsdatum fehlt, ihre Haltbarkeit ist unendlich. Diese christlichen Tugenden sind regelrechte Seelenarzneien und sollen dem Menschen Unterstützung geben auf seinem manchmal holprigem Lebenspfad. Die wichtigsten Wirkstoffe für Seelenheil und Erlösung aber befinden sich in den beiden einzelnen Gefäßen im Vordergrund des Bildes. Auf einem schwarzen Flacon lesen wir „Glaube“, und ganz rechts, einzeln und hervorge­hoben, steht ein Behältnis angefüllt mit „Gnade“.

Foto: Martin Glauert

Abb. 3: Das säuberliche Arzneiregal mit Geduldt“, „Hoffnung“, „Liebe“, „Bestendigkeit“, Hülffe“ und „Friede“.

Der Begriff „Apotheker“ gelangte durch Luther in die Bibel

Die Hervorhebung dieser zwei Begriffe ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Gemälde in der Reformationszeit entstanden sein muss. Nach Martin Luther führen nicht die eigenen Verdienste, guten Werke oder gar Spenden für den Petersdom („Wenn das Gold im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“) ins Himmelreich, sondern allein Glaube und göttliche Gnade. Dazu passt, dass es Luther war, der erstmals den Begriff „Apotheker“ in die Bibel eingeführt hat. In seiner Übersetzung des Buches Jesus Sirach heißt es: „Der Herr lässt die Arznei aus der Erde wachsen. Damit heilt er und vertreibt die Schmerzen, und der Apotheker macht Arznei daraus.“ Damit erfährt der Pharmazeut endlich die verdiente Anerkennung und Gleichstellung mit dem Arzt, sozusagen seine biblische Approbation.

Foto: Martin Glauert

Abb. 4: Der Griff in die heilende Arznei Der Beutel mit dem Etikett „Kreutzwurtz“ enthält keine Wurzelstücke, sondern kleine Kreuze.

Und jetzt können wir sogar dem Apotheker Jesus bei der Arbeit zusehen (s. Abb. 4). Mit der rechten Hand greift er in einen offenen Beutel mit dem Etikett „Kreutzwurtz“, holt einige heraus und legt sie in die Apothekerwaage, die er in der linken Hand hält. Bei genauerem Hinsehen sind das keine Wurzelstücke, sondern tatsächlich kleine Kreuze, „Symbole für Christi Leiden zur Erlösung der Menschen“, wie ein Theologe schrieb. Und da ist es spannend zu beobachten, wie viele Kreuze es braucht, um die Schuld des Menschen in der anderen Waagschale auszutarieren und auf­zuwiegen (Abb. 5).

Foto: Martin Glauert

Abb. 5: Wie schwer wiegt die Sünde?

Wann und warum das Gemälde entstand, darüber wurde lange gestritten. Wahrscheinlich ist es die Stiftung eines Apothekers. „1734, in demselben Jahre, in dem die alte Zisterzienser Kirche renoviert wurde, erhielt Werder auch eine Apotheke. Es ist höchst wahrscheinlich, daß der glückliche Besitzer derselben sich zum Donator machte und das Bildkuriosum dankbar und hoffnungsvoll stiftete.“ Das ist zumindest die Er­klärung, die Theodor Fontane fand. Er hatte das verstaubte Bild bei einem Besuch der Kirche unter allerlei Gerümpel in einem Nebenraum entdeckt. Allerdings war er alles andere als begeistert, sondern sein Urteil fiel vernichtend aus. Ausgerechnet Fontane, der selbst eine pharmazeutische Lehre im März 1847 mit der Approbation als „Apotheker erster Klasse“ absolviert hatte, machte sich über das Bild lustig, weil es „so abnorm“ und einfach geschmacklos sei.

Liebevolles Heilsversprechen und wirtschaftlicher Ruin

Foto: Martin Glauert

Abb. 6: Auszug aus den Bibel­zitaten auf dem Gemälde: „kompt her zum wasser, und die ihr nicht geldt habt kompt her, kauffett und essett, kompt her und kaufft ohne geld und ümbsonst, beyde wein und milch!“

Über das ganze Gemälde verteilt finden sich Tafeln mit erbaulichen Sprüchen aus der Bibel, deren genauere Lektüre ganz erstaunliche Überraschungen bereithält. „Kommet her zu mihr alle die ihr müheseelig und beladen seyd, Ich will euch erquicken“ – damit können wir uns identifizieren, das passt zu unserem hilfreich-mitmenschlichen Selbstverständnis. Dann aber wird es heikel und dem knapp kalkulierenden Apotheken­besitzer am Rande des Ruins stellen sich beim Entziffern ganz leise die Nackenhaare auf („kompt her zum wasser, und die ihr nicht geldt habt kompt her, kauffett und essett, kompt her und kaufft ohne geld und ümb­sonst, beyde wein und milch!“ Das geht dann doch zu weit! Als selbstständiger Apotheker wäre Christus wohl gescheitert. |

Martin Glauert

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