Arzneimittel und Therapie

Übeltäter Epstein-Barr-Virus

Multiple Sklerose möglicherweise Folge einer vorangegangenen Infektion

mab | Schon lange wurde vermutet, dass neben genetischen und Umweltfaktoren auch eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) die Entwicklung einer multiplen Sklerose begünstigen könnte. Eine vor Kurzem in „Science“ veröffentlichte Studie erhärtet nun diesen Verdacht. Könnte demnach eine Impfung gegen EBV künftig neue MS-Erkrankungen verhindern?

Mit einer weltweiten Prävalenz von über 90% ist eine Infektion mit dem zu den Herpesviren gehörenden Epstein-Barr-Virus wahrlich keine Seltenheit. Während die über Tröpfchen übertragene Krankheit bei kleinen Kindern oft asymptomatisch verläuft, treten im späteren Lebensalter typische Symptome des Pfeifferschen Drüsenfiebers (auch infektiöse Mononukleose genannt) auf, wie eine von Fieber begleitete nekrotisierende Angina tonsillaris, Milzvergrößerung und erhöhte Lymphozytenzahl. Zum Teil bilden sich aber auch Exantheme (3 bis 15%) und hepatische Manifestationen (5%) aus. Betroffenen sollte außer zur Bettruhe auch zu einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr und einer analge­tischen/antipyretischen Behandlung mit beispielsweise Ibuprofen geraten werden. Eine Impfung ist bislang nicht möglich. Einmal infiziert, persistiert das Virus lebenslang im Körper.

Foto: Rasi/AdobeStock

Ein Verdacht erhärtet sich

Schon länger vermutet man, dass eine vorangegangene Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus die Entstehung einer multiplen Sklerose (MS) begünstigen könnte. Jetzt wurden in der Fachzeitschrift „Sience“ neue Erkenntnisse einer Fall-Kontroll-Studie publiziert, die diesen Verdacht weiter erhärten. Bei der Analyse wurden über 20 Jahre (1993 bis 2013) die Blutproben von mehr als zehn Millionen US-Militärangehörigen ausgewertet, die routinemäßig einmal pro Jahr auf das humane Immundefizienz-Virus (HIV)gescreent wurden. Insgesamt war bei 955 Studienteilnehmern eine multiple Sklerose diagnostiziert worden. Von 801 Betroffenen lagen ausreichend Serumproben vor, sodass diese anschließend gezielt auf Antikörper gegen das Epstein-Barr-Virus gescreent wurden. 35 spätere MS-Patienten waren zum Zeitpunkt der ersten Blutentnahme seronegativ, d. h. es konnten keine EBV-Antikörper detektiert werden. Jedoch zeigte sich, dass 34 Personen davon vor Ausbruch der multiplen Sklerose eine Epstein-Barr-Virus-Infektion durchlaufen hatten und dann sero­positiv getestet wurden. Insgesamt konnten mit Ausnahme eines Falles bei allen 801 MS-Patienten Antikörper gegen das Epstein-Barr-Virus nachgewiesen werden. Dabei trat der Großteil der MS-Erkrankungen im Median fünf Jahre nach der ersten EBV-positiven Probe auf. Zudem stellten die Forscher fest, dass die MS-Patienten mit 97% eine extrem hohe Serokonversionsrate im Vergleich zu den gesunden Kontrollpersonen hatten (Serokonversionsrate 57%, p < 0,001). Dagegen wiesen Personen mit erhöhten Antikörper-Spiegeln gegen das Cytomegalievirus, einem anderen ebenfalls über Speichel übertragenen Herpesvirus, kein erhöhtes MS-Risiko auf. Infolgedessen konnte die Arbeitsgruppe ausschließen, dass Menschen mit einer Prädisposition für Herpesviren möglicherweise auch eine Prädisposition für multiple Sklerose aufweisen.

32-fach höheres MS-Risiko

Zudem fiel den Wissenschaftlern auf, dass zum Zeitpunkt der seronegativen Testung noch keine typischen MS-­Biomarker im Blut nachweisbar waren. In späteren Blutproben nach der EBV-Infektion, aber noch vor Einsetzen von MS-Symptomen, konnten diese jedoch detektiert werden. Insgesamt sprechen die Ergebnisse dafür, dass das Risiko für eine spätere MS-Erkrankung bei Menschen, die eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus durchlebt haben, im Vergleich zu Personen, die das Virus nicht in sich tragen, um das 32-Fache erhöht ist. Der genaue Mechanismus hinter diesem Zusammenhang ist jedoch unklar.

Expertenwelt lobt Studienmethodik

In der Fachwelt überzeugt die Studie mit ihrer umfassenden Datenlage, der hohen Teilnehmerzahl und der Methodik. Als klaren Beweis für einen kausalen Zusammenhang sehen Experten die Ergebnisse jedoch nicht. So merkt Prof. Dr. Wolfgang Hammerschmidt, Leiter der Gruppe Genvektoren, Helmholtz Zentrum München, an: „Die Studie macht es sehr, sehr wahrscheinlich, dass eine EBV-Infektion Voraussetzung für MS ist. Aber ist EBV, beziehungsweise sind EBV-Antigene, auch die Ursache beziehungsweise der Treiber für MS? Dies kann die Studie nicht beantworten. Die Studie beruht auf EBV-Serokonversion, sie unterscheidet aber leider nicht zwischen (klinisch inapparenter) EBV-Infektion und infektiöser Mononukleose (Pfeiffersches Drüsenfieber). Es ist bekannt, dass eine infektiöse Mononukleose das Risiko, an MS zu erkranken, weiter erhöht. Das spricht für eine Kausalität von EBV, beweist sie aber meines Erachtens nicht“. Auch Prof. Dr. Henri-Jacques Delecluse, Leiter der Arbeitsgruppe Pathogenese infektionsbedingter Tumoren am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, meint: „Die Erkenntnis, dass EBV das Risiko, MS zu entwickeln, deutlich steigert, ist nicht neu, aber keine Studie konnte es bis jetzt so eindeutig mit epidemiologischen Methoden beweisen. Interessant ist auch der zeitliche Zusammenhang zwischen MS-typischen (aber nicht spezifischen) Blutveränderungen (Erhöhung der Neurofilament-Leichtkette im Blut) und einer EBV-Infektion. Hier konnten die Autoren überzeugend zeigen, dass nur die EBV-Infektion diese Veränderungen verursacht, und zwar bereits mehrere Jahre, bevor die klinischen Zeichen von MS sichtbar werden. Dies lässt annehmen, dass die EBV-Infektion relativ schnell Läsionen im Gehirn verursacht, die sich jedoch jahrelang fortsetzen müssen, bevor sie MS verursachen. Die Studie bestätigt, dass das Virus auf die MS-Entwicklung einen erheblichen Einfluss hat. Allerdings sind andere Faktoren zum Beispiel genetischer Natur, wie MHC-Gene, die die Immunantwort regulieren, auch wichtig. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass andere, bis jetzt nicht eindeutig identifizierte nicht-genetische Faktoren eine wichtige Rolle spielen, wie das Alter bei der ersten Infektion mit EBV oder bis jetzt bekannte infektiöse Agenzien. Letztlich ist MS eine seltene Krankheit, und die allermeisten EBV-positiven Menschen haben kein MS.“

Ist eine Impfung die Lösung?

Die Studienergebnisse geben auch eine Perspektive, an welchen Stellen künftige neue MS-Therapien ansetzen könnten. Gleichzeitig gewinnt die Entwicklung einer Impfung gegen das Epstein-Barr-Virus als mögliche Prävention neuer MS-Erkrankungen an Relevanz. Neben anderen Unternehmen forscht auch Moderna an einem Impfstoff gegen EBV. Die mRNA-Vakzine des Unternehmens befindet sich aktuell in Phase I der klinischen Prüfung, in der neben der Wirksamkeit und Sicherheit geklärt werden soll, wann und wie häufig eine Impfung erfolgen muss.

Infizierte B-Zellen als Target

Professor Delecluse, der selbst an Ep­stein-Barr-Virus-Impfstoffen forscht, geht davon aus, dass solche Immunisierungen zwar die Symptome des Pfeifferschen Drüsenfiebers potenziell verringern können, eine langanhaltende EBV-Infektion wahrscheinlich aber nicht komplett vermeiden können. Insofern kann seiner Meinung nach momentan nicht davon ausgegangen werden, dass eine EBV-Impfung multi­pler Sklerose vorbeugen kann. Für ihn ist vielmehr die Beseitigung der EBV-infizierten B-Zellen, die in mehreren Studien in MS-Patienten nachgewiesen worden waren, vielversprechend. „Die Wirksamkeit der Therapie mit CD20-spezifischen Antikörpern bei MS-Patienten könnte unter anderem daran liegen, dass sie das Reservoir EBV-infizierter Zellen, also die B-Zellen, eliminiert. Da diese Antikörper-Therapie auch nicht infizierte Zellen abtötet, wäre die gezielte Beseitigung der EBV-infizierten Zellen sehr wünschenswert, jedoch ist dieses Ziel momentan in Menschen nicht erreichbar, sollte aber intensiv beforscht werden.“ |

Literatur

Altmeyer P, Bacharach-Buhles. Mononukleose infektiöse. Informationen der Altmeyer Enzyklopädie, www.altmeyers.org/de/dermatologie/mononukleose-infektiose-2525, Abruf am 17. Januar 2022

Epstein-Barr-Virus als Ursache für multiple Sklerose – Research in Context, Version 2, Informationen des Science Media Center (SMC), 13. Januar 2022

Infektiöse Mononukleose, Informationen der AMBOSS GmbH, www.amboss.com/de/wissen/Infekti%C3%B6se_Mononukleose/, Abruf am 17. Januar 2022

Multiple Sklerose durch das Epstein-Barr-Virus – kommt die MS-Impfung? Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 17. Januar 2022

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