Pandemie Spezial

Neurologische Komplikationen im Fokus

Ist das Risiko für neurologische Erkrankungen nach COVID-19 wirklich stark erhöht?

Derzeit erregt eine dänische Studie Aufsehen, die ein erhöhtes Risiko für die Alzheimer- und die Parkinson-Erkrankung bei SARS-CoV-2-­positiven Patienten berichtet. Auch Schlaganfälle und Hirnblutungen sollen häufiger sein. Dieselbe Studie zeigt aber auch, dass die Komplikationen nicht häufiger auftreten als nach Influenza oder Lungenentzündung. Und was sie schon gar nicht bedeuten: dass COVID-19 neurodegenerative Erkrankungen auslöst.

Die populationsbezogene Studie der Kopenhagener Arbeitsgruppe um Pardis Zarifkar imponiert mit der Datenbasis der halben Bevölkerung Dänemarks, 2,9 Millionen Menschen. Unter diesen wurden zwischen Februar 2020 und November 2021 annähernd eine Million auf SARS-CoV-2 getestet. 43.375 Personen waren infiziert, 35.362 von ihnen wurden ambulant (oder mangels Symptomen gar nicht) behandelt, 8013 kamen ins Krankenhaus. Das Neuauftreten neurologischer Erkrankungen erfassten die ­Forscher zu verschiedenen Zeitpunkten nach der Diagnose: einen Monat (akute Phase), drei und sechs (subakut) sowie zwölf Monate (chronisch/Long-COVID).

Zahlen lassen aufhorchen

Unter allen SARS-CoV-2-­positiv Getesteten war nach sechs bzw. zwölf Monaten eine neue diagnostizierte Alzheimer-Erkrankung 3,5- bzw. 3,4-fach häufiger als bei den negativ Getesteten. Für die Parkinson-Erkrankung waren die Inzidenzen nach sechs wie nach zwölf Monaten mit RR = 2,4 bzw. RR = 2,2 ebenfalls signifikant erhöht, wobei die Erkrankung in der Gruppe der ambulanten Patienten häufiger auftrat als bei stationär Behandelten. Beim ischämischen Schlaganfall gab es signifikante Anstiege des relativen Risikos für positiv gegenüber negativ getesteten Personen nach einem, drei und sechs Monaten (RR = 0,4; 0,6 bzw. 0,6), aber nicht mehr nach Ablauf eines Jahres [1].

Was zu bedenken ist

Die nackten Zahlen lassen aufhorchen, doch sollte bedacht werden:

  • Statistische Korrelationen belegen nicht, dass Alzheimer- oder Parkinson-Erkrankungen durch COVID-19 ausgelöst wurden. Deren neuropathologische Veränderungen beginnen Jahre bis Jahrzehnte vor den symptomatischen Stadien. Andererseits ist auffällig, dass hospitalisierte COVID-19-Patienten ohne Demenzanamnese gleich hohe oder noch höhere Spiegel neurodegenerativer Biomarker aufweisen als an Alzheimer Erkrankte [2]. Eine Hypothese ist laut der Autoren, dass eine SARS-CoV-2-bedingte Neuroinflammation die Akkumulation der toxischen Eiweiße Beta-Amyloid und Alpha-Synuclein beschleunigt, welche in der Alzheimer- bzw. Parkinson-Pathologie von Bedeutung sind.
  • Die Inzidenzen der neurodegenerativen Krankheiten sind nicht höher als nach anderen schweren Atemwegserkrankungen.

Komplikationsrate ähnlich Grippe und Pneumonie

Die Forschenden zogen nämlich zur Kontrolle die Gesundheitsdaten von 1474 Patienten heran, die im Zeitraum der Testungen der COVID-19-Patienten (Februar 2020 bis November 2021) im Krankenhaus wegen einer bakteriellen Pneumonie behandelt wurden. Zum Vergleich mit dem Outcome nach Influenza werteten sie Daten von 8102 stationär behandelten Grippekranken aus der Saison 2018/2019 aus. Ergebnis: Es gab kein Exzessrisiko von Alzheimer- oder Parkinson-Erkrankungen unter COVID-19-Patienten verglichen mit Patienten mit schwerer Influenza- oder Pneumonieerkrankung.

Beim Risiko für einen ischämischen Schlaganfall sah es für die COVID-19-Erkrankten etwas ungünstiger aus. Beim Vergleich mit stationären Influenzapatienten stach eine Risikoerhöhung um den Faktor 1,7 heraus. Bezogen auf die CAP-Patienten mit ambulant erworbener Lungenentzündung (community-acquired pneumonia, CAP) als Kontrollgruppe, war das Risiko für einen ischämischen Schlaganfall lediglich für COVID-19-Patienten über 80 Jahre erhöht (RR = 2,7), nicht aber in den jüngeren Altersgruppen.

Untersucht wurde des Weiteren das Auftreten von intrazerebralen Hämorrhagien, Subarachnoidalblutungen, Guillain-Barré-Syndrom, multipler Sklerose, Myasthenia gravis und Narkolepsie. Bei deren Inzidenz wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen COVID-19-positiven und COVID-19-negativen Personen gefunden, auch keine im Vergleich zu Influenza und den Pneumoniekranken. Anders als bei neurodegenerativen und zerebrovaskulären Erkrankungen gab es also keine Zunahme neuroimmunologischer Krankheiten nach COVID-19-­Diagnose. |

 

Literatur

[1] Zarifkar P et al. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol 13:904796, 23. Juni 2022, doi: 10.3389/fneur.2022.904796

[2] Frontera J A et al. Comparison of serum neurodegenerative biomarkers among hospitalized COVID-19 patients versus non-COVID subjects with normal cognition, mild cognitive impairment, or Alzheimer‘s dementia. Alzheimer‘s & Dementia, 13. Januar 2022, https://alz-journals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/alz.12556

Apotheker Ralf Schlenger

 

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