Kongresse

„Brauche ich die wirklich alle?“

Vom Umgang mit der Polymedikation und anderen Problemen geriatrischer Patienten

Ist Polymedikation bei älteren Patienten unverantwortlich oder unvermeidbar? Mit dieser Frage führte Prof. Dr. Ulrich Jaehde von der klinischen Pharmazie aus Bonn in den Schwerpunkt „Geriatrie“ ein. Er zeigte zahlreiche Ansätze zum verantwortlichen Umgang mit Polymedikation und mahnte, dass neben einer Überversorgung auch auf eine mögliche Unterversorgung geachtet werden sollte.
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Prof. Dr. Ulrich Jaehde

Zur Frage, was genau unter Polymedikation zu verstehen sei, hat Jaehde beim Recherchieren 143 Definitionen gefunden, aus der Sicht der WHO wird Polymedikation als die routinemäßige Einnahme von mehr als fünf Medi­kamenten durch einen Patienten definiert. Gar nicht selten sei es, dass mehr als elf Arzneimittel eingenommen werden. Und nicht nur der Patient fragt sich da so manches Mal, ob die auch alle zusammenpassen und ob es einem ohne diese vielen Arzneimittel nicht vielleicht besser ginge?

Klar ist, dass Polymedikation nicht per se unverantwortlich ist, sie kann aber riskant sein. Eine Polymedikation gilt als angemessen, wenn Indikation und Wirksamkeit jedes Arzneimittels gut dokumentiert und ein patientenrelevanter Nutzen erkennbar ist. Als unangemessen gilt eine Polymedikation, wenn Arzneimittel ohne Evidenz für Wirksamkeit oder mit unklarer Indikation eingesetzt werden, die Arzneimittel ein hohes Risiko für unerwünschte Wirkungen oder riskante Interaktionen haben oder Verordnungskaskaden entstehen.

Unangemessene Polymedikation ist vermeidbar, betonte Jaehde. Wichtig sei es, bereits im Vorfeld mit den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen zu besprechen, wie ein Kontakt zwischen Arzt und Apotheker im Idealfall ab­laufen soll. Beispielhaft nannte er die Kommunikationspyramide, in der unterschieden wird zwischen einem Notfall, wenn ein direkter Kontakt erforderlich ist, und einer Information über mögliche Probleme, die nicht dringlich sind, z. B. mit Fax und einer späteren Rücksprache. Daneben regte Jaehde einen regelmäßigen Austausch der Professionen an. So könnte man sich ein oder zweimal im Jahr z. B. im Rahmen von Qualitätszirkeln treffen. Solch ein strukturiertes Vorgehen kann helfen, eine potenziell inadäquate Medikation zu erkennen und ein Zuviel an Arzneimitteln zu vermeiden.

Gezielt Arzneimittel absetzen

Mithilfe einer strukturierten Analyse der aktuellen Gesamtmedikation eines Patienten kann es gelingen, vorsichtig und gezielt Medikamente abzusetzen. Dieses sogenannte Deprescribing ist ein systematischer Prozess, mit dem Arzneimittel, deren potenzieller Schaden größer als der Nutzen für einen Patienten ist, identifiziert und abgesetzt werden können. Dies muss im Kontext der individuellen Behandlungsziele, Funktionalität, Lebens­erwartung und Präferenzen des einzelnen Patienten geschehen, betonte Jaehde. Das darf nur unter engmaschiger Symptomkontrolle ablaufen und ist ein aufwändiger Prozess. Beim Ausschleichen der Dosis ist unbedingt auf eine ausreichende Symptomkon­trolle zu achten. Gelingt das nicht, muss ein Arzneimittel auch wieder angesetzt werden. Und es konnte z. B. in einer Studie in den Niederlanden gezeigt werden, dass gerade Patienten mit Polymedikation oft unterversorgt sind: So fehlten bei einer Schmerztherapie mit Opioiden Laxanzien, bei der Behandlung der Osteoporose Bisphosphonate oder Risikopatienten erhielten bei der Einnahme von NSAR begleitend keine Protonenpumpenhemmer. Protonenpumpeninhibitoren sind aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass Wirkstoffe unreflektiert zu lange eingesetzt werden, betonte Jaehde. Werden diese z. B. während eines Krankenhausaufenthalts vorsorglich angesetzt, um die Magenschleimhaut zu schonen, wird oft vergessen, nach der Entlassung die Notwendigkeit dieser Medikation erneut zu beurteilen. Langfristig ist die Säureblockade aber nur bei Magenerkrankungen oder einem hohen Risiko für Blutungen der Magenschleimhaut erforderlich. Es gibt sogar explizit Leitlinien zum Deprescribing der PPI. Vergessen werden darf dabei aber nicht, dass auch Entzugs- und Krankheitssymptome beim Absetzen auftreten können. So sollten die Patienten darauf hingewiesen werden, dass ein Säure-Rebound möglich ist. Für den Fall, dass Symptome wieder auftreten, können Antazida oder H2-Rezeptorantagonisten eingesetzt werden.

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Prof. Dr. Petra Thürmann

Die richtigen Wirkstoffe für geriatrische Patienten

Im Alter ändern sich Pharmakokinetik und -dynamik von Arzneistoffen, es treten mehr unerwünschte Arznei­mittelwirkungen als bei jüngeren Menschen auf und auch die Adhärenz sinkt. Aber die Evidenz für Nutzen und Risiken vieler Arzneimittel im Alter ist nur sehr eingeschränkt, wie Prof. Dr. Petra A. Thürmann von der Universität Witten/Herdecke berichtete. Thürmann beklagte, dass betagte Patienten viel zu selten in klinische Studien eingeschlossen werden, da sie die Einschlusskriterien für Studien einfach nicht erfüllen können. Daher liegen auch kaum belastbare Daten zu dieser Patientengruppe vor. Sie werden ausgeschlossen, da bei präventiver Medikation (z. B. Herzinsuffizienz) sich angesichts der Lebenserwartung das Nutzen/Risiko-Verhältnis verschieben kann. In vielen Studien werden „geriatrische“ Ereignisse wie Stürze und Kognitionsverlust entweder ausgeschlossen oder nicht erfasst. Auch ist eine Nutzen/Risiko-Abwägung bei geringer Fallzahl und Selektionsbias kaum möglich. Dabei sind es gerade betagte Patientinnen und Patienten, die viele Arzneistoffe benötigen. Über 65-Jährige nehmen oft vier bis fünf verschiedene Arzneimittel pro Tag ein, mehr als die Hälfte der Hochbetagten mindestens fünf verschiedene Arzneimittel pro Tag. Gerade das Beispiel der aktuellen Corona-Situation zeigt die Absurdität: Ausgerechnet die Risikogruppe, die zunächst geimpft werden sollte und die am vulnerabelsten ist, war in den Studien zu Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 absolut unterrepräsentiert. Weniger als 10% der Studienteilnehmer waren älter als 65 Jahre, weniger als 1% älter als 85 Jahre. Der Impfstoff wurde trotzdem in großem Umfang verimpft.

Die Priscus-Liste ist kein Schwarz-Weiß-Szenario

Dabei ändern sich neben der Pharmakokinetik und -dynamik auch die Wirkungen im Alter: Zum einen kann die Empfindlichkeit gesteigert sein, z. B. unter Benzodiazepinen, Opioiden oder Anticholinergika, die Nebenwirkungen bei Neuroleptika oder tricyclischen Antidepressiva können verstärkt sein. Zum anderen sind para­doxe Reaktionen möglich (z. B. unter Hypnotika und Sedativa). Auch kann bei älteren Personen die physiologische Gegenregulation gestört sein. Unter Blutdrucksenkern ist ein sehr rascher Blutdruckabfall möglich, bei entwässernden und abführenden Medikamenten eine Dehydratation oder Nierenschädigung unter Analgetika. Und es gibt große individuelle Unterschiede. Zwischen 18 und 60 Jahren sind die physiologischen Differenzen in der Physiologie weniger groß, aber mit höherem Alter können sie zunehmen, betonte Thürmann: „Was ein 65-jähriger Mensch verträgt, kann für einen 85-Jährigen komplett unverträglich sein.“ Gemeinsam mit 27 Expertinnen und Experten aus Allgemeinmedizin, Geriatrie, Psychiatrie, Pharmakologie, Pharmazie u. a. Disziplinen hat Thürmann vor ca. zehn Jahren die Priscus-Liste maßgeblich mitentwickelt. Aus einer Vorauswahl von Arzneimitteln – angelehnt an internationale Beispiele – wurden 83 Arznei­stoffe gelistet, die im Alter – wenn möglich – vermieden werden sollten. Diese Arzneimittel können – müssen aber nicht – zu Nebenwirkungen führen. Dabei betreffen die häufigsten Nebenwirkungen dieser Medikamente betreffen die Kognition oder können zu Stürzen führen und werden oftmals nicht als Nebenwirkung erkannt. Die Priscus-Empfehlungen sollen laut Thürmann als Unterstützung bei der Arzneimittelauswahl und -beurteilung dienen. Sie seien aber kein Schwarz-Weiß-Szenario. Im Einzelfall könne bei einem Patienten sehr wohl der Einsatz eines Arzneistoffs von der Priscus-Liste sinnvoll sein. Eine Aktualisierung der Liste steht kurz bevor.

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Prof. Dr. Rolf Daniels

Finger weg vom Tablettenteilen

Im Alter nehmen aber auch die motorischen, sensorischen, visuellen, taktilen und kognitiven Fähigkeiten ab: Die Patienten haben Schwierigkeiten, Arzneimittelpackungen zu öffnen und Darreichungsformen korrekt anzuwenden. Manch ein kindersicherer Verschluss entpuppt sich da als „altensicherer“ Verschluss, wie Prof. Dr. Rolf Daniels, pharmazeutischer Technologe aus Tübingen, zeigte. Die Einnahme oraler Darreichungsformen wird durch Schwierigkeiten beim Schlucken zunehmend erschwert, die im Alter häufiger werden: Betroffen von einer Dysphagie sind ca. 20% aller Deutschen über 55 Jahre und 45% aller über 75-Jährigen. Bei den Störungen des Transports von Speichel, Nahrung und Arzneimitteln vom und bis zum Magen beeinflussen sich neurologische, orthopädische, psychische und allgemeine chronische Erkrankungen in der Regel gegenseitig negativ. Vor allem beim Aut-idem-Austausch in der Apotheke sollte bei älteren Patienten daher auch auf die Eigenschaften der Tablette geachtet werden, denn Form, Farbe und Größe von oralen Darreichungsformen kann die Schluckbarkeit negativ beeinflussen. Wobei sich das bei der Tablettenfarbe nur schwer erklären lässt, so Daniels. Die Erfahrungen zeigen, dass Oblongtabletten leichter einzunehmen sind als ovale Tabletten und runde Tabletten sich schlecht schlucken lassen, und dass überzogene Tabletten mit einer glatten Oberfläche besser rutschen als solche mit einer rauen. Zwar lassen sich zerteilte Tabletten leichter schlucken, aber die Dosierung der Bruchstücke wird ungenauer, und Unter- oder Überdosierungen sind möglich. Weil ein versehentlicher Kontakt mit dem Wirkstoff gefährlich ist, dürfen Zytostatika (Methotrexat!), Virustatika, Antibiotika, Retinoide oder Darreichungsformen mit Finasterid nicht zerkleinert werden. Da das Zerkleinern das Wirkstofffreisetzungsprinzip verändern oder zerstören kann, gilt das Tabu auch für magensaftresistente Tabletten und Retardtabletten.

Hat eine Tablette eine Bruchkerbe, so heiße das nicht automatisch, dass sie geteilt werden darf! Daniels wies darauf hin, dass Tabletten nur dann geteilt oder gemörsert werden dürfen, wenn es eindeutig im Beipackzettel oder in der Fachinformation erwähnt wird. Der Technologe rät ganz prinzipiell, das Teilen und Mörsern immer sehr restriktiv zu handhaben: Die Regeln sind für Patienten und Pflegekräfte kaum erkenntlich, und Verallgemeinerungen können fatale Folgen haben. Stattdessen solle im Beratungsgespräch eine Lösung gesucht werden. Neben der richtigen Schlucktechnik (z. B. Tabletten-Flaschentrick, Kapsel-Nick-Trick) können man dem Patienten vorschlagen, verschiedene Vehikel wie Apfelmus, Joghurt oder Kartoffelbrei zur Einnahme auszuprobieren oder - als einfacher Tipp - die Tablette vor dem Schlucken kurz in kaltes Wasser zu tauchen. Auch Hilfsmittel wie inerte Überzugsmittel (z. B. Medcoat®, Gloup®) können die Einnahme erleichtern. Als „finale Escape-Strategie“ nannte Daniels die Möglichkeit, in der Rezeptur eine spezielle Suspensionsgrundlage herzustellen. Bei Schluckstörungen stehen zwar alternative Darreichungsformen wie Lösungen oder Suspensionen, Tabletten zur Herstellung einer Lösung oder einer Suspension zum Einnehmen, Direktgranulate oder Schmelztabletten und Lyophilisate zum Einnehmen zur Verfügung, sie sind in ihrer Anwendung oft aber auch nicht selbst­erklärend und fehleranfällig. |

ck

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