Arzneimittel und Therapie

Rückenschmerzen plagen auch Kinder und Jugendliche

Leitlinie gibt Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie

Fast jeder hat schon darunter gelitten: Rückenschmerzen. Und auch Kinder bleiben von den schmerz­haften Erscheinungen nicht verschont. Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin ist kürzlich eine S3-Leitlinie „Rückenschmerz bei Kindern und Jugendlichen“ erschienen [1]. Prof. Dr. Michael Frosch, Leiter des Deutschen Kinderschmerzzentrums an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln, fasst die wichtigsten Punkte der Leitlinie zusammen.

Zahlreiche medizinische und therapeutische Fachgesellschaften und Patientenvertreter haben evidenzbasierte Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen bei jungen Menschen erarbeitet. Das Besondere der Leitlinie ist, dass die Diagnostik für diese Altersgruppe sowohl nicht-spezifische als auch spezifische – also durch andere Grunderkrankungen verursachte – Rückenschmerzen einbezieht. Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen sind Leitsymptom zahlreicher angeborener und erworbener Erkrankungen. Die Kenntnis der Differenzialdiagnosen ist wichtig für viele Fachdisziplinen, die Kinder und Jugendliche behandeln: Praktiker, Orthopäden, Onkologen, Neurologen, Radiologen, Rheumato­logen und andere Fachdis­ziplinen.

Foto: privat

Prof. Dr. Michael Frosch

Jedes fünfte Kind betroffen

Selbst bei Kindern und Jugendlichen sind Rückenschmerzen ein ernsthaftes Gesundheitsproblem mit einer monatlichen Prävalenz von etwa 20%, die mit dem Alter bis zu 18 Jahren auf eine Lebenszeitprävalenz von etwa 40% ansteigt [2]. Zwischen 12% und 20% der betroffenen Kinder und Jugendlichen suchen wegen ihrer Rückenschmerzen einen Arzt auf, und etwa 30% nehmen Schmerzmittel ein [3]. In der Adoleszenz sehen wir eine altersabhängige Zunahme nicht-spezifischer Rückenschmerzen. Auch in diesem Alter können nicht-spezifische Rückenschmerzen einen chronischen Verlauf nehmen und sind mit dem Risiko einer Beeinträchtigung bis ins ­Erwachsenenalter verbunden [4]. ­Deshalb werden auch für Kinder und Jugendliche dringend wirksame evidenzbasierte Behandlungs- und Präventionsmaßnahmen benötigt.

Andere Grunderkrankung schuld an Rückenschmerzen?

Die Diagnostik spezifischer Krankheitsursachen stützt sich auf altersspezifische Warnzeichen, sogenannte red flags. Da hierzu bisher nur Expertenmeinungen existierten, die uneinheitlich verschiedene Risikofaktoren beschreiben, hat die Leitlinien-Gruppe eine umfangreiche Analyse der Primärliteratur eingeschlossen, um eine systematische Erfassung von red flags vorzulegen. Insbesondere bei Kindern unter zehn Jahren ist beim Auftreten von Rückenschmerzen bereits das Alter ein Risikofaktor für das Vorliegen spezifischer Erkrankungen und erfordert eine erweiterte Diagnostik. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Zusammenfassung verschiedener red flags bei Rückenschmerzen im Kindes- und Jugendalter, die eine Diagnostik auf mögliche spezifische Ursachen in Gang setzen sollte.

Tab. 1: Red flags für spezifische Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen, die auf andere Grunderkrankungen hindeuten
Kategorie
Warnhinweise für spezifische Rückenschmerzen
demografische Daten
Alter unter zehn Jahre
Anamnese
Trauma, Atemarrest nach Trauma, Beginn der Rückenschmerzen im Zusammenhang mit sportlicher Aktivität, vorausgegangene oder aktuell erfolgende Glucocorticoid-Therapie, Vor- und Begleiterkrankungen
neurologische Zeichen
motorische oder sensible Störungen der Extremitäten, radikuläre Schmerzen, Blasen- oder Mastdarm-Sphinkter-Störung
andere klinische ­Zeichen
Fieber, lokale Schwellungen, Lymphknotenvergrößerungen, äußerlich erkennbare strukturelle Veränderungen der Wirbelsäule, palpable Stufendeformität, Hypermobilität der Gelenke, entzündliche Krankheitszeichen (Arthritis, Enthesitis, Vaskulitis der Haut), ­arterielle Hypertonie
Schmerzcharakteristika und weitere Schmerzorte
Stauchungsschmerz oder lokaler Druckschmerz, Kopf-, Thorax-, Bauch- oder Flankenschmerz, Extremitäten-, Gluteal- oder Beckenschmerz, Arthralgie oder Myalgie

Im Jugendalter ist die Kenntnis der ­Risikofaktoren für nicht-spezifische Rückenschmerzen dieser Altersgruppe wichtig, da sie die Diagnostik und Behandlung beeinflussen (Yang 2017). Tabelle 2 zeigt die derzeit nachgewiesenen Risikofaktoren für nicht-spezifische Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen, die nach Evidenzanalyse als gesichert gelten.

Für viele andere Faktoren, wie das Tragen einer Schultasche oder eines Rucksacks, das Freizeitverhalten oder körperliche Faktoren, bestehen nach den Evidenzkriterien einer S3-Leitlinie keine gesicherten Nachweise in der Literatur.

Tab. 2: Gesicherte Risikofaktoren für nicht-spezifische Rücken­schmerzen bei Kindern und Jugendlichen
Kategorie
Risikofaktoren für nicht-spezifische Rückenschmerzen
demografische ­Daten
zunehmendes Alter in der Adoleszenz, weibliches Geschlecht
Anamnese
Leistungssport, vorausgegangene Schmerzepisoden
psychosoziale ­Faktoren
geringe Lebenszufriedenheit, Ängstlichkeit, Depressivität, geringer Selbstwert

Keine Evidenz für Arzneimittel

Die Leitlinie beinhaltet einen Diagnostik- und Therapie-Algorithmus, der nach Erstvorstellung Verlaufskontrollen nach drei bis sechs Wochen und nach drei Monaten empfiehlt. Der Therapieteil der S3-Leitlinie konzentriert sich auf die Behandlung nicht-spezifischer Rückenschmerzen dieser Altersgruppe. Diese stehen mit zunehmendem Alter bei Jugendlichen in der Häufigkeit gegenüber spezifischen Ursachen deutlich im Vordergrund. Während bei erwachsenen Patienten mit nicht-spezifischem Rückenschmerz unter anderem Arzneimittel und invasive Behandlungsverfahren zum Einsatz kommen, gibt es hierfür im Kindes- und Jugendalter keine Evidenz. Bei Kindern und Jugendlichen stehen nichtmedikamentöse Behandlungen im Vordergrund. Hervorzuheben sind neben Aufklärung und Beratung die Fortsetzung möglichst aller Alltags­aktivitäten in Familie, Schule, Freizeit und Sport. Therapeutische Maßnahmen mit belegter Wirksamkeit sind aktive Physiotherapie und eine verhaltenstherapeutische Behandlung, letztere insbesondere bei chronischem Verlauf der Symptomatik [5, 6].

Foto: New Africa/AdobeStock

12 bis 20% der Kinder und Jugendlichen mit Rückenschmerzen werden einem Arzt vorgestellt.

Chronifizierung vorbeugen

In den vergangenen Jahrzehnten ist ein Anstieg der Prävalenz nicht-spezifischer Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten [7]. Um langfristige Beeinträchtigungen und Chronizität der Erkrankung bis ins Erwachsenenalter zu begegnen, hat deshalb die Prävention von Rückenschmerzen eine hervorgehobene Bedeutung. Die Leitlinie empfiehlt hier entweder eine Kombination aus Edukation und Anleitung zu regelmäßigen Bewegungsübungen oder ­regelmäßige sportliche Aktivität und Ausdauersport.

Trotz zahlreicher wissenschaftlicher Bemühungen der letzten Jahrzehnte, das Problem „Rückenschmerz bei Kindern und Jugendlichen“ zu erfassen und Diagnostik und Therapie zu verbessern, bleiben viele Forschungsfragen offen. Besonderes Interesse haben hier eine sichere Differenzialdiagnose von spezifischen und nicht-spezifischen Rückenschmerzen mit Validierung von red flags, die Klärung der Indikationen und des Ablaufs von bildgebender und multidisziplinärer Diagnostik, die Optimierung nichtmedikamentöser Behandlungen bei nicht-spezifischen Rückenschmerzen und die Verbesserung präventiver Maßnahmen sowie Vermeidung von Chronizität der Erkrankung.

Patientenratgeber folgt

Die wichtigsten Empfehlungen der Leitlinie, die wissenschaftlichen Grundlagen und deren Diskussion haben die Teilnehmer der Leitlinien-Gruppe in zwei aktuellen Reviews zusammengefasst: Teil 1 zu „Ursachen, Risikofaktoren und Diagnostik“ [8] und Teil 2 zu „Behandlung nicht-spezifischer Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen [9]“. Neben der Lang- und Kurz-Fassung der S3-Leitlinie folgt in Kürze die Veröffentlichung einer Patientenversion, die die wichtigsten Empfehlungen für Kinder und Jugendliche zusammenfasst. |

Literatur

[1] Rückenschmerz bei Kindern und Jugendlichen. S3-Leitlinie (Langversion) der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ). Version 1, Stand: 2021. AWMF-Registernummer 027 - 070

[2] Kamper SJ et al. The prevalence, risk factors, prognosis and treatment for back pain in children and adolescents: An overview of systematic reviews. Best Pract. Res. Clin. Rheumatol. 2016, 30, 1021–1036

[3] Tiira AH et al. Determinants of adolescent health care use for low back pain. Eur. J. Pain 2012, 16, 1467–1476

[4] Hestbaek L et al. Is comorbidity in adolescence a predictor for adult low back pain? A prospective study of a young population. BMC Musculoskelet. Disord. 2006, 7, 29

[5] Michaleff ZA et al. Low back pain in children and adolescents: a systematic review and meta-analysis evaluating the effectiveness of conservative interventions. Eur Spine J, 2014. 23(10): p. 2046-58

[6] Fisher E et al. Psychological therapies for the management of chronic and recurrent pain in children and adolescents. Cochrane Database Syst Rev, 2018. 9: p. CD003968

[7] Roy R et al. Cross-National Trends of Chronic Back Pain in Adolescents: Results From the HBSC Study, 2001-2014. J. Pain 2022, 23, 123–130

[8] Frosch M et al. Etiology, Risk Factors, and Diagnosis of Back Pain in Children and Adolescents: Evidence- and Consensus-Based Interdisciplinary Recommendations. Children 2022, 9, 192

[9] Frosch M et al. Treatment of Unspecific Back Pain in Children and Adolescents: Results of an Evidence-Based Interdisciplinary Guideline. Children 2022, 9, 417

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