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Pandemie Spezial
Der lange Schatten von COVID-19
S1-Leitlinie definiert Folgeschäden der akuten Erkrankung
COVID-19 geht, die Folgeschäden bleiben. Ein Beispiel aus dem Bereich der großen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein: Die Zahl der Behandlungsfälle im Zusammenhang mit „Long-COVID“ stieg im letzten Jahr von 14.000 auf 20.000, ließ der KV-Vorstand am 10. Mai 2022 verlauten. Es gehe um ein breites Spektrum an körperlichen, kognitiven und psychischen Einschränkungen, das die Lebensqualität der Betroffenen im Alltag beeinflusse. Dabei falle es den Niedergelassenen nicht immer leicht, Post- oder Long-COVID auf Anhieb sicher zu diagnostizieren bzw. zu unterscheiden. Dies verwundert nicht, angesichts der Heterogenität der Symptome und den uneinheitlichen Zeiträumen und Kriterien, die bislang in Definitionen von WHO (Weltgesundheitsorganisation), CDC (Centers for Disease Control and Prevention) oder NICE (National Institute for Health and Care Excellence) zu Long-/Post-COVID gehandelt wurden. Noch weitere Begriffe wie post-acute sequelae of COVID-19 (PASC), chronic COVID syndrome (CCS) oder COVID-19 long-hauler werden in der Literatur beschrieben. Eine praxisnahe Hilfestellung soll die im Herbst vergangenen Jahres erschienene S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID geben, an der, koordiniert von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, 17 Fachgesellschaften und Institutionen mitgearbeitet haben [1]. Bei der Nomenklatur orientiert sie sich am britischen NICE:
- Demnach zählt die klinische Symptomatik bis zu vier Wochen nach einer SARS-CoV-2-Infektion als akute COVID-Erkrankung (WHO: acute).
- Als Long-COVID-Syndrom wird das Fortbestehen COVID-19-typischer Symptome über einen Zeitraum von vier Wochen nach der Erstinfektion hinaus bezeichnet (fortwährend symptomatisch, post acute).
- Halten sie über die Woche 12 hinaus an und sind nicht durch eine andere Diagnose zu erklären, spricht man von einem Post-COVID-Syndrom (s. Abb. 1).
Was überhaupt als Long-/Post-COVID-Symptom zählt, fassen die Experten weit. Es sollen nicht nur Symptome berücksichtigt werden, die aus der akuten Erkrankung fortbestehen, sondern auch jene, die aus der Behandlung resultieren; weiterhin solche, die nach Ende der akuten Phase, aber wohl als Folge der COVID-19-Erkrankung aufgetreten sind. Auch Symptome, die zu einer neuen gesundheitlichen Einschränkung geführt haben, oder die eine vorbestehende Grunderkrankung verschärft haben, sollen als Merkmal von Long-/Post-COVID betrachtet werden.
Diagnose nach dem klinischen Bild
Ein Teil der akut an COVID-19 Erkrankten weist Autoantikörper gegen Interferone, Neutrophile, Citrullinpeptide und Zellkerne auf. Bei schweren Verläufen können eine Lymphopenie und, als Zeichen von Entzündung und erhöhter Gerinnungsneigung, erhöhte CRP- und D-Dimer-Werte fortbestehen. Doch sind weder einzelne auffällige Laborwerte noch ein Panel an Untersuchungen geeignet, ein Post-/Long-COVID-Syndrom zu diagnostizieren bzw. zu objektivieren, halten die Leitlinienautoren fest. Ebenso schließen normale Laborwerte das Syndrom nicht aus. Entscheidend sei das klinische Bild: Menschen können nach einer COVID-19-Erkrankung unter anderem respiratorische, kardiovaskuläre, neurologische, gastrointestinale und muskulo-skelettale Probleme haben.
- Am häufigsten berichtet werden Fatigue, Atemnot, Leistungs- und Aktivitätseinschränkungen, Kopfschmerzen, Geruchs- und Geschmacksstörungen.
- Als häufig beschreibt die Leitlinie Husten, Schlafstörungen, Depressivität und Angst, allgemeine Schmerzen, kognitive Einschränkungen, aber auch Haarausfall und Zwangshandlungen.
- Selten beobachtet werden Lähmungen, Sensibilitätsstörungen, Schwindel und Übelkeit, funktionelle gastrointestinale Beschwerden, Tinnitus und Ohrenschmerzen und kardiale Symptome.
„Für jede Patientin und jeden Patienten müssen die entsprechenden Symptome herausgearbeitet und entsprechend, so weit möglich, behandelt werden“, sagte Prof. Dr. A. Rembert Koczulla, Chefarzt am Fachzentrum für Pneumologie der Schön Klinik, Schönau am Königssee, bei der Vorstellung der S1-Leitlinie [2]. Zusammenhängende Symptome könnten zu Phänotypen zusammengefasst werden, etwa der Fatigue-Phänotyp mit unerklärlicher Erschöpfung, der pneumologische Phänotyp mit Dyspnoe, Husten und/oder Schlafproblemen, der neurologische, der kardiologische Phänotyp und so weiter. Bei bestimmten Symptomen sollten Betroffene zur vertieften Diagnostik an eine Post-COVID-Ambulanz überwiesen werden [3]. Zu den Warnhinweisen zählen eine signifikante Gewichtsabnahme, unerklärliche oder neue neurologische Defizite, neue Schmerzsymptomatik, aber auch ein schlechter Allgemeinzustand. Kurzatmigkeit, Fatigue und Typ-2-Diabetes treten nach Corona-Infektion mit Hospitalisierung häufiger auf. Drei von vier ehemals stationären COVID-19-Patienten sind noch nach einem Jahr nicht genesen, zeigt aktuell eine prospektive Beobachtungsstudie aus Großbritannien [4]. Zur Einschätzung und zum Monitoring des funktionellen Status von Patienten mit Post-/Long-COVID-Syndrom wird ein von Klok und Mitarbeitern entwickelter Fragebogen empfohlen (s. Abb. 2) [5]. Die einfach anzuwendende Funktionsskala hat bei erwachsenen, symptomatischen Post-/Long-COVID-Patienten eine hohe Aussagekraft in der Langzeit-Nachverfolgung der funktionellen Einschränkungen. Für Kinder und Jugendliche ist sie nicht validiert, bei ihnen sollte insbesondere die Bewältigung des schulischen Lebens erfragt werden.
Fatigue als dominantes Symptom plausibel
Fatigue ist eine subjektiv oft stark einschränkende, zu vorausgegangenen Anstrengungen unverhältnismäßige Erschöpfung auf körperlicher, kognitiver und/oder psychischer Ebene, die sich durch Schlaf oder Ruhen nicht ausreichend bessert. Als post-infektiöses Syndrom nach Viren-, Bakterien-, Pilz- und Protozoen-Infektionen oder Autoimmunerkrankungen ist Fatigue schon seit gut 100 Jahren beschrieben. Auch nach früheren Coronavirus-Epidemien (SARS 2003, MERS 2012) wurden anhaltende Erschöpfungszustände berichtet. Infolge von SARS-CoV-2-Infektionen treten Fatigue-Symptome sehr häufig auf, und zwar unabhängig von der Schwere der akuten Erkrankung (stationär/ambulant behandelt, Sauerstoffgabe oder Intensivbehandlung). Acht bis zwölf Wochen nach den Erstsymptomen (also als Long-COVID-Symptom) berichten verschiedene Studien Prävalenzen von rund 40 bis 70%, die sich über alle Altersgruppen einschließlich Kinder und Jugendliche verteilen. Dabei überwiegen leicht die weiblichen Patienten, anders als bei der Akuterkrankung.
Eine post-infektiöse Fatigue klassifiziert die Immunologin und Onkologin Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen von der Charité Berlin zunächst als Reaktion auf die Erkrankung und Teil der Genesung. Sie dauere bei einigen Patienten nur ein bis zwei Wochen, bei anderen bis zu vier Monaten. Halten aber die Symptome länger als sechs Monate an, solle überprüft werden, ob ein neuroimmunologisch bedingtes chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) bzw. eine myalgische Enzephalomyelitis (ME) vorliege. Dies entspricht den Vorgaben der aktuellen S1-Leitlinie. Tatsächlich gaben in einer Verlaufsstudie mit 1655 COVID-Patienten 63% Fatigue oder Muskelschwäche noch sechs Monate nach stationärer Behandlung an (definitionsgemäß also ein Post-COVID-Symptom mit Verdacht auf ein CFS).
Zur Einschätzung der Fatigue-Symptomatik können Selbstauskunftsinstrumente wie die Fatigue-Skala (FS), die Fatigue-Severity-Scale (FSS) oder die Fatigue-Assessment-Scale (FAS) eingesetzt – und verunsicherten Patienten empfohlen werden. Der FAS-Fragebogen umfasst zehn kurze Fragen zum körperlichen, kognitiven und emotionalen Befinden. Ein Score über 21 (von 50) Punkten weist auf Fatigue hin, über 34 auf eine extreme Ausprägung [6]. Geben Sie in die Suchfunktion auf DAZ.online unter www.deutsche-apotheker-zeitung.de den Webcode D9LN5 ein und Sie gelangen direkt zu einem beispielhaften Fragebogen [6].
Für das Entstehen der Fatigue werden sowohl vielfältige COVID-19-bedingte Organschädigungen (in Lunge, Herz, Hirn, peripherem Nervensystem), eine Low-Grade-Inflammation als auch psychische Komorbiditäten (etwa eine frühere Depression oder Angsterkrankung) diskutiert. Entsprechend der unklaren Pathogenese gibt es keine kausale Therapie. Als Behandlungsziele gelten die individuelle Symptomlinderung sowie das Vermeiden einer Chronifizierung. Wichtig für die Patienten: ein adäquates Coping-Verhalten, also weder Überforderung noch Vermeidung von Aktivitäten. Patientenorganisationen wie die britische Association für myalgische Enzephalomyelitis empfehlen ein Selbstmanagement mit geregeltem Tagesablauf, vollwertiger Ernährung, dosierter körperlicher Aktivität und Entspannungsverfahren. Anlaufstellen in Deutschland sind Fatigatio e. V. (www.fatigatio.de) und die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V. (www.mecfs.de).
Therapie folgt den Symptomen
„Gesicherte therapeutische Interventionen beim Post-/Long-COVID sind nicht bekannt“, bilanzieren die Leitlinienautoren nüchtern. Die Behandlung orientiert sich an individuellen Symptomen. Während bei jüngeren Patienten Husten, Luftnot oder Fieber im Vordergrund stehen können, besteht bei geriatrischen Patienten ein ernsthafter Verlauf eher in kognitiver Verschlechterung, Verwirrtheit, Fatigue und Sturzgefahr. Diese unspezifischen Symptome sind ernst zu nehmen, können sie doch auf lokale Thrombenbildung, Dehydratation oder Delir hinweisen.
Bei anhaltendem Husten kann in Analogie zu Leitlinien-Empfehlungen bei postinfektiösem Husten ein Therapieversuch mit einem inhalativen Corticosteroid und/oder Beta-2-Sympathomimetikum unternommen werden, insbesondere, wenn Hinweise auf eine bronchiale Hyperreagibilität bestehen.
Die Effektivität einer frühzeitigen therapeutischen Impfung bei Patienten mit Long-/Post-COVID ist nicht gesichert und sollte vorerst nur in Studien erfolgen. In einem Preprint hatten israelische Autoren berichtet, dass Infizierte, die mindestens zwei Impfdosen des mRNA-Vakzins von Biontech/Pfizer erhalten hatten, 54 bis 82% seltener typische Long-COVID-Symptome aufweisen; nach nur einer Impfdosis war die Assoziation nicht feststellbar gewesen [7].
Was in der Long-COVID-Phase ebenfalls nicht empfohlen wird: die routinemäßige Durchführung eines kardialen MRT oder einer Thromboseprophylaxe und die routinemäßige Gabe von Steroiden bei respiratorischen Symptomen. Maßgeblich sind stets Risikokonstellationen.
Supplement | Zufuhr/Tag |
---|---|
Magnesium-Ionen | 300 bis 500 mg |
Eicosapentaensäure (EPA) | 1000 mg |
D-Ribose | 15 g |
Methylcobalamin (Vitamin B12) | 1000 µg |
Folsäure | 20 mg |
Benfotiamin (Vitamin B1), Vitamin B6 | 100 mg |
Riboflavin (Vitamin B2) | 30 mg |
Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid (NADH) | 20 mg |
Coenzym Q10 | 200 mg |
Carnitin | 2000 mg |
N-Acetylcystein | 1800 mg |
Alpha-Liponsäure | 600 mg |
Arginin (bei endothelialer Dysfunktion) | 3000 mg |
Interessanterweise können beim Kardinalsymptom Fatigue Nahrungsergänzungsmittel und Vitamine durchaus einen Versuch wert sein: Laut dem Institut für Medizinische Immunologie der Charité, Berlin, zeigen Studien bei ME/CFS-Patienten metabolische Störungen wie eine Hemmung des Citratzyklus und der Zellatmung. Daher haben die Berliner eine Liste von Supplementen mit für den Energiestoffwechsel wichtigen Faktoren zusammengestellt, die möglicherweise eine Symptomverbesserung erzielen können. Sie steht medizinischen Fachkreisen auf der Internetseite der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS zur Verfügung (Auszug s. Tab.) [8]. Die Immunologen empfehlen eine Einnahme für vier Wochen als Versuch, bei guter Verträglichkeit und Besserung der Symptome auch länger. Auch aus der Therapie der chronisch-obstruktiven Bronchitis (COPD) sind positive Effekte einer Supplementation mit Coenzym Q10 und Kreatin publiziert; in einer Hersteller-gesponserten, randomisierten Studie verbesserte die zweimonatige Gabe unter anderem die körperliche Belastbarkeit und die Wahrnehmung von Atemnot. Diskutiert wird auch hier eine Verbesserung der mitochondrialen Funktion und des Energiestoffwechsels der Zellen [9]. |
Literatur
[1] Koczulla AR et al. Post-COVID/Long-COVID. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) [Hrsg.), AWMF-Register-Nr. 020/027, Stand 12. Juli 2021
[2] Prof. Dr. A. Rembert Koczulla, Schönau am Königssee. Long- und Post-COVID diagnostizieren und therapieren. Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP): S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID: ein klinisch-praktischer Leitfaden, 18. August 2021
[3] Übersicht über Long-COVID-Ambulanzen in Deutschland. Informationen von Sina Maurer, https://c19langzeitbeschwerden.de/post-covid-19-ambulanzen-deutschland/, Abruf: 11. Mai 2022
[4] The PHOSP-COVID Collaborative Group. Clinical characteristics with inflammation profiling of long COVID and association with 1-year recovery following hospitalisation in the UK: a prospective observational study. Lancet Respiratory Medicine online 23. April 2022, in press, https://doi.org/10.1016/S2213-2600(22)00127-8
[5] Klok FA, Boon GJ, Barco S et al. The Post-COVID-19 Functional Status scale: a tool to measure functional status over time after COVID-19. European Respiratory Journal 2020;56
[6] Fragebogen über Ermüdungserscheinungen (Fatigue Assessment Scale: FAS). Informationen der niederländischen Stiftung ild care foundation, https://wasog.org/dynamic/media/78/documents/Questionairres/fas_de_anon.htm
[7] Kuodi P, Gorelik Y, Zayyad H et al. Association between vaccination status and reported incidence of post-acute COVID-19 symptoms in Israel. Preprint vom 17. Januar 2022 auf MedRxiv, https://doi.org/10.1101/2022.01.05.22268800, Abruf am 16. Mai 2022
[8] Mögliche Supplemente bei ME/CFS. Informationen der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e. V., Zugang über www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/informationen-fuer-aerztinnen-und-aerzte/
[9] De Benedetto F et al. Supplementation with Qter® and Creatine improves functional performance in COPD patients on long term oxygen therapy. Respiratory Medicine 142;2018:86–93, https://doi.org/10.1016/j.rmed.2018.08.002
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