Arzneimittel und Therapie

Lungenreifungsspritze mit Folgen

Zusammenhang mit späteren Verhaltensstörungen untersucht

Die pränatale Gabe von Glucocorticoiden zur Förderung der Lungenreifung bei drohender Frühgeburt zählt zur Standardtherapie. In einer aktuellen populationsbasierten Kohortenstudie wurde der Zusammenhang zwischen antenataler Steroidgabe und späteren Verhaltensstörungen bei Kindern untersucht.

Frühgeborene Kinder verfügen noch nicht ausreichend über Surfactant, das als Tensid die Oberflächenspannung der Alveolen herabsetzt. Bei einem Mangel an Surfactant kommt es zum Kollaps der Lungenbläschen, und der Säugling muss viel Kraft zum Atmen aufwenden. Zur Prävention eines Atemnotsyndroms bei Frühgeburten werden daher pränatal Betamethason oder Dexamethason verabreicht. Die Standarddosierung für Betamethason liegt bei zweimal 12 mg intramuskulär im Abstand von 24 Stunden und für Dexamethason bei viermal 6 mg im Abstand von jeweils zwölf Stunden. Eine routinemäßige Wiederholung ist nicht vorgesehen und nur in besonderen klinischen Situationen gerechtfertigt. In Studien konnte gezeigt werden, dass die sogenannte Lungenreifungsspritze die Morbidität des Neugeboren senkt. So können das Risiko zur ­Entwicklung eines RDS (Respiratory Distress Syndrome), schwerer intraventrikulärer Hirnblutungen, nekrotisierender Enterokolitis, systemischer Infektionen und die Notwendigkeit einer mechanischen Beatmung reduziert werden. Neben den positiven Effekten ist die Datenlage zu den Langzeitfolgen der Steroidgabe eher spärlich ‒ insbesondere, wenn die Kinder nach der Behandlung doch reifgeboren werden. In einer aktuellen bevölkerungsbasierten Kohortenstudie der Universität Helsinki wurde untersucht, ob die pränatale Steroidgabe bei reifgeborenen Kindern (≥ 37. Woche) und Frühgeborenen (< 37. Woche) das Risiko für das spätere Auftreten von Verhaltensstörungen erhöht. Dazu wurden die Daten des nationalen Geburten­registers ausgewertet. Alle Einlingsschwangerschaften mit Geburtsdaten von Januar 2006 bis Dezember 2017 wurden analysiert. 670.097 Kinder wurden in die Studie einbezogen. Das mittlere Follow-up lag bei 5,8 Jahren.

Foto: CMP – stock.adobe.com

Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche entbunden werden, zählen als Frühchen. In Deutschland wird ungefähr jedes elfte Kind zu früh geboren.

Mehr Spätfolgen

Insgesamt waren 14.868 Säuglinge (2,22%) einer pränatalen Steroidgabe ausgesetzt, wovon knapp die Hälfte (45,27%) reifgeboren und der Rest (54,74%) frühgeboren wurde. Von den nicht exponierten Kindern wurden 96,9% reifgeboren und 3,1% frühgeboren. In der Studie konnte gezeigt werden, dass die antenatale Steroidexposition verglichen zur Nicht-Exposition signifikant mit einem erhöhten Risiko für psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern assoziiert war. In der Gesamtkohorte waren die kumulativen Inzidenzraten und die adjustierte Hazard Ratio (HR) in der exponierten Gruppe signifikant höher als in der Vergleichsgruppe (12,01% vs. 6,45%, HR = 1,33). Bei den reifgeborenen Kindern lag der Unterschied bei 8,89% vs. 6,31% (HR = 1,47). Auch in der Gruppe der frühgeborenen Kinder war die Steroidexposition mit einem höheren Risiko für Spätfolgen verbunden (14,59% vs. 10,71%); hier war die Hazard Ratio jedoch statistisch nicht signifikant.

Darüber hinaus wurde untersucht, ob mütterliche Faktoren, wie z. B. Rauchen während der Schwangerschaft, Gestationsdiabetes, Hypertonie oder psychische Störungen einen Einfluss haben. Dazu wurden reifgeborene Geschwisterpaare, bei denen ein Geschwisterteil einer antenatalen Steroidgabe ausgesetzt war, miteinander verglichen. Dabei konnte festgestellt werden, dass das exponierte Kind ein höheres Risiko hatte, eine Verhaltensstörung zu entwickeln; genetische oder familiäre Faktoren konnten demnach die Assoziation nicht erklären.

Zusammenfassend konnte in der Studie gezeigt werden, dass eine signifikante Assoziation zwischen antenataler Steroidgabe und Verhaltensstörungen bei Kindern besteht. Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer sorgfältigen Nutzen-Risiko-Abwägung und strenger Indikationsstellung vor einer antenatalen Steroidgabe. |

 

Literatur

S2k-Leitlinie „Prävention und Therapie der Frühgeburt“ der deutschen, österreicherischen und schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, AMWF-Register-Nr: 015/025, Stand Februar 2020

Raikkönen K. Gissler M, Kajantie E. Associations between maternal antenatal corticosteroid treatment and mental and behavioral disorders in children. JAMA 2020;323 (19):1924-1933. doi:10.1001/jama.2020.3937

Surbek D, Roos T, Hodel M, Pfister R, Hösli I. Glucocorticoidtherapie zur antenatalen Lungenreifung bei drohender Frühgeburt: Indikationen und Dosierung. Expertenbrief Nr. 56 der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. www.sggg.ch/fileadmin/user_upload/56_Lungenreifungsinduktion_bei_drohender_Fruehgeburt.pdf, Abruf am 07. Juni 2020

Apothekerin Dr. Martina Wegener

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