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Pandemie Spezial

Der verschwiegene Grund

Wie Deutschland zu seinen immensen Beatmungskapazitäten kam – ein Meinungsbeitrag

Deutschland beklagt im Verhältnis zur Zahl der gemeldeten Infizierten signifikant weniger Corona-Tote als vergleichbare Industrienationen. Dass die Kliniken, insbesondere die Intensiv- und Inter­mediate-Care-Stationen, auch in der exponentiellen Phase der Infektionskurve im März und April 2020 nicht an ihre Kapazitätsgrenzen kamen – das Schreckgespenst Triage blieb ein bleicher Schatten aus dem Süden – war einer der in der Corona-Berichterstattung genannten Gründe dafür. Am Rande wurde dabei erwähnt, dass die intensivmedizinischen Kapazitäten Deutschlands deutlich größer seien als die anderer Länder. Warum das so ist, wurde allerdings verschwiegen und kein Journalist fragte bisher danach. Wenn man die Geschichte dahinter kennt, mischt sich in den Stolz auf unser Gesundheitswesen doch eine Spur Nachdenklichkeit. | Von Markus Zieglmeier

„Welche Stadt auf diesem Planeten braucht sieben Kliniken der Maximalversorgung, darunter drei Unikliniken?“ Als ich diese Frage vor über 20 Jahren zum ersten Mal stellte, wurde sie von der Verwaltungsnomenklatura meines Arbeitgebers als bodenlose Unverschämtheit betrachtet, noch bevor jemand die Antwort gegeben hatte.

Diese logische Antwort – natürlich gar keine – wurde Jahre später bestätigt durch die Auflösung des Uniklinikums ­Innenstadt der LMU München und den wirtschaftlichen Niedergang der kommunalen Kliniken. Aber sie wurde auch, wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum, widerlegt durch die Ereignisse im Frühjahr 2020. Es hätte eine weitaus schlimmere Seuche kommen müssen, um die Be­atmungskapazitäten der Maximalversorger Münchens an ihre Grenzen zu bringen. In vielen anderen großen Städten zeigte sich dasselbe Bild.

Lediglich Kreiskrankenhäuser nahe den Hotspots der Infektion, etwa im bayerischen Landkreis Weiden, waren mit einer bedrohlicheren Patientenflut konfrontiert, hatten aber auch die Möglichkeit der Verlegung in benachbarte Groß­kliniken.

Warum die Beatmungskapazitäten Deutschlands so viel größer sind als die anderer Länder, wurde in der (in jeder anderen Hinsicht sehr ausführlichen) Corona-Berichterstattung bisher nie diskutiert. Die Antwort auf diese Frage wäre auch zu komplex und hätte in der Bedrohungslage einer Pandemie vom eigentlichen Thema abgelenkt. Es wäre auch der falsche Zeitpunkt gewesen, den Hintergrund zum einzigen Zeitpunkt zu erörtern, in dem sein Ergebnis für die Bevölkerung und das Personal im Gesundheitswesen einen Benefit und keinen Nachteil darstellte. Dieser Hintergrund ist die Geschichte eines weltweit beispiellosen Rüstungswettlaufs in der Kommerzialisierung von Gesundheitsleistungen in deutschen Kliniken. Deutschlands Kliniklandschaft ist eine kuriose Mixtur aus kommunalen, universitären, kirchlichen und privaten Häusern sowie börsennotierten Klinikketten, die bis zum Ende des letzten Jahrhunderts in relativem Frieden miteinander lebten. Im Jahr 2003 ersetzte der Gesetzgeber dann das Selbstkostendeckungsprinzip durch das DRG-System (Diagnosis Related Groups, besser bekannt als „Fallpauschalen“). Kliniken konnten jetzt enorme Gewinne machen, aber auch horrende Verluste, die in der Regel die Steuerzahler zu tragen hatten. Die Einführung der Fallpauschalen ist das Gesetz, das am häufigsten als Beweis für die Behauptung angeführt wird, die Gesundheitsgesetzgebung der letzten Jahrzehnte mache nur Sinn, wenn man die Absicht unterstellt, Investoren zu bereichern durch Umverteilung von Geld (Kassenbeiträge und, im Falle von Verlusten kommunaler oder staatlicher Häuser, auch Steuergelder) aus den Taschen vieler in die Hände weniger. Die Australier, von denen man das DRG-System übernahm, kamen übrigens fast zur selben Zeit wieder davon ab, weil sie entsetzt festgestellt hatten, dass sich nach Einführung ihrer Fallpauschalen die Zahl der Diagnosen mehr als verdoppelt hatte. Jede Nebendiagnose bringt im DRG-System nämlich eine zusätzliche Vergütung. Das wird zum Anreiz, auch einmal ein paar Arzneimittelnebenwirkungen als Krankheiten zu diagnostizieren – der Einstieg in viele Verordnungskaskaden, unter denen geriatrische Patienten heute leiden.

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Diagnosen öffnen den Geldhahn – Durch die 2003 eingeführten Fallpauschalen konnten Kliniken durch geschickte Diagnosestellung enorme Gewinne machen, aber auch horrende Verluste, die in der Regel die Steuerzahler zu tragen hatten. Im Bild präsentieren zwei leitende Ärzte und der Vorsitzende des Fördervereins eines Klinikums im Mai 2003 stolz ihr neues Diagnostik-Equipment, mit dem bei ­Patienten auf Magen-Darm-Beschwerden, wie Reizdarm und chronische Verstopfungen, getetestet werden soll.

Schon in den 1990er-Jahren war die Parole ausgegeben worden, das Gesundheitswesen sei der letzte große Wachstumsmarkt der Zukunft. Die Zielgruppe dieser Aussage waren, was damals kaum jemandem auffiel, weniger junge Menschen vor der Berufswahl, als vielmehr Großinvestoren. Und die investierten zunächst in Konzepte, die größtenteils auf Rosinenpickerei beruhten. Börsennotierte Klinikketten setzten auf Patienten, die man im Jargon der Versicherungsmathematiker „gute Risiken“ nennt – Menschen ohne wesentliche Begleiterkrankungen und mit einem geringen Komplikationsrisiko. Multimorbide Patienten mit einem hohen Risiko, als „Langlieger“ nicht mindestens kosten­deckend zu sein, überließ man gerne den kommunalen Häusern, die hatten ja ihren Versorgungsauftrag. Umgekehrt warb man z. B. erfahrene Operateure aus diesen Häusern ab, sobald sie sich auf bestimmte Eingriffe spezialisiert hatten und diese mit minimalen Komplikationsraten durch­führen konnten.

Taktgeber des Rüstungswettlaufs

Die Strategien dieser Unternehmen lassen sich am besten anhand zweier Klinikketten illustrieren, nämlich der Rhön-Kliniken und der Fresenius-Tochter Helios. Die Rhön-Kliniken entstanden 1973 aus einem nahezu bankrotten Reha-Zentrum und wurden als psychosomatische Klinik weitergeführt. Der steile finanzielle Aufstieg begann 1984 mit dem Einstieg in die Herz- und Gefäßchirurgie. Das war damals eine Marktlücke, denn diese Fächer waren bis dahin eine Domäne von Unikliniken und (wenigen) anderen Maximalversorgern. Die Schlange von Koronarpatienten, die auf Bypass-OPs warteten, war schier endlos. In der Folge durfte Herzchirurgie kosten, was immer sie eben kostete, Geld spielte keine Rolle – ideale Voraussetzungen für traumhafte Renditen. Doch schon ein Jahrzehnt später zeichnete sich ab, dass dieses finanzielle Füllhorn bald versiegen würde. Die Kardiologen verbanden die Herzkatheter-Diagnostik zunehmend mit therapeutischen Interventionen, zuerst mit einer Ballondilatation verengter Arterien, später kamen immer bessere Stents hinzu, die Gefäße nachhaltig offen­halten konnten. Das maximalinvasive Bypass-Geschäft der Herzchirurgen verlor Kundschaft.

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Herzkatheteruntersuchungen galten über viele Jahre als extrem lohnend und wurden entsprechend gerne und häufig gemacht – doch haben sie wirklich in jedem Fall zu einer ­besseren Patientenversorgung beitragen können?

Rhön-Chef Eugen Münch legte eine neue, expansive Strategie auf: Vom Konzern ausgebildete Verwaltungskräfte wurden unrentabel geführten Kreiskrankenhäusern als Sanierer angeboten. In vielen Fällen wurden diese Häuser dann nach ihrer wirtschaftlichen Sanierung in die Klinikkette eingegliedert. Das Geschäft mit der Grund- und Regelversorgung auf nicht allzu hohem Niveau lief prächtig, der nächste Schritt sollte eine prestigeträchtige Beweisführung werden: Rhön kann auch Universitätsmedizin!

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Die Rhön-Kliniken in Bad Neustadt a. d. Saale gingen im Jahr 1973 aus einem Kur- und Therapiezentrum hervor, dessen vier 14-stöckige Häuser ausschließlich mit Einzelappartements ausgestattet waren (im Bild oben). Durch die starke Überdimensionierung und mangelnde Nachfrage drohte der Konkurs.

Konnte man offenbar nicht. Das Desaster, das auf die Übernahme der Unikliniken Gießen und Marburg folgte, machte die Klinikkette zum Übernahmekandidaten. Im April 2012 kündigte der „Gesundheitskonzern“ Fresenius an, die Rhön-Kliniken kaufen und mit dem eigenen Klinikunternehmen Helios zusammenführen zu wollen. Dabei wäre ein multifunktionaler Gigant entstanden, der durch seine schiere Marktmacht in der Lage gewesen wäre, die gesamte Branche umzukrempeln. Die Übernahme scheiterte daran, dass Asklepios (Konkurrent auf dem Kliniksektor) und B. Braun (Konkurrent auf den Sektoren Medizinprodukte, Generika und klinische Ernährung) im großen Stil Rhön-Anteile erwarben. Fresenius musste sich mit dem Kauf einzelner Kliniken begnügen. Seit 27. April 2020 liegt dem Bundeskartellamt nun ein Plan von Asklepios zur Übernahme der Rhön Klinikum AG zur Prüfung vor.

Die im Besitz des Fresenius-Konzerns befindliche Klinikkette Helios repräsentiert ein Konzept, das noch einige Schritte weiter geht als die Rhön-Kliniken – und dabei keine Grenzen mehr kennt. Fresenius ist eben nicht nur Klinikbetreiber, sondern auch ein Anbieter von (v. a. klinikspezifischen und onkologischen) Generika, klinischer (enteraler und parenteraler) Ernährung, vielfältigen Medizinprodukten, Consulting und Hochschulen, in denen man das künftige Konzernpersonal ausbildet. Auf der konzerneigenen Abnehmerseite gibt es zusätzlich zu den Kliniken noch MVZ (eine kaum schlagbare Konkurrenz zu Arztpraxen an lukrativen Standorten) und Home Care (ambulante Pflege z. B. für lukrative Patienten mit heimparenteraler Ernährung). Für den Konzern existiert also weder eine Trennung von Anbieter und Abnehmer, noch von ambulantem und stationärem Sektor. Man kann sich das Konstrukt als eine Art Spinnennetz vorstellen, in dem jeder Knoten eine Umsatzgarantie für jeden anderen Knoten darstellt.

Startschuss Fallpauschalen: The Race is on!

Die kompromisslose Gewinnorientiertheit dieser Konzerne setzte alle anderen Kliniken enorm unter Druck. Angesichts der börsennotierten Konkurrenz begann man schon vor etwa 20 Jahren, noch in der Vorbereitungsphase der DRGs, sich an die Denkstrukturen der Konzernmanager anzupassen. Am wenigsten Probleme hatten damit die kirchlichen Häuser, immerhin war man ja im Besitz eines Großkonzerns, der Gewinnorientiertheit seit vielen Jahrhunderten höchst erfolgreich praktiziert. Auch viele Unikliniken taten sich leicht, mit zusätzlichem Geld vom Staat für die Lehre und industriegesponserten Studien ließ es sich gut leben. Für kommunale Kliniken und Kreiskrankenhäuser, die der Landkreis noch nicht (erst mit Steuergeldern saniert und dann) für einen symbolischen Euro an einen Konzern verkauft hatte, war es eine Herausforderung. In der Zeit des Selbstkostendeckungsprinzips, als alle dokumentierten Ausgaben von den Kostenträgern erstattet werden mussten, hatte man die Kapazitäten breit ausgebaut. Eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung diente schließlich dem Prestige und damit dem Machterhalt von Bürgermeistern und Landräten. Wollte man nun die Betten trotz der Konkurrenz der Konzerne noch füllen, musste man neue Wege gehen. Einer dieser Wege war, immer ältere, multimorbide Patienten mit teilweise dreisten Heilsversprechen in Therapien zu schicken, die man noch ein Jahrzehnt zuvor für viel zu riskant gehalten hätte. Das Risiko, den Einbau der Hüftgelenks­prothese nicht zu überleben, hätte man damals einem 90-Jährigen erklärt, sei bei Weitem zu hoch. Da sei es besser, mit etwas Schmerzen und Physiotherapie noch ein paar nette Jahre zu verbringen. Heute operiert man ihn, ohne lange zu fragen. Und dank verbesserter operativer Techniken und aufwendiger postoperativer Intensivpflege geht das in erstaunlich vielen Fällen sogar gut aus – zumindest kurz- und mittelfristig.

„Too old for what?“ ist der Titel eines Beitrags im New England Journal of Medicine aus dem Jahr 1993. Darin wird der Fall einer 87-jährigen Patientin mit Stenosen der Aortenklappe und mehrerer Herzkranzgefäße geschildert, die sich einer mehrstündigen Operation am offenen Herzen unterzieht. In der Folge erleidet sie ein akutes Nierenversagen, ein Vorhofflimmern, extreme Blutdruckschwankungen, Herzinsuffizienz und eine Depression. Nach fünf Monaten intensiver Therapie ist sie wieder daheim in einem halbwegs selbstbestimmten Leben, mit einer (statistischen) Lebenserwartung von weiteren fünf Jahren. Das Beispiel zeigt, dass sich ein solcher Eingriff durchaus auch für den Patienten lohnen kann, verschweigt aber die Zahl der Patienten, die den Eingriff zwar überleben, aber Monate später versterben, ohne je wieder auf die Beine gekommen zu sein. Das Beispiel zeigt aber auch, welche Komplikationen man nach Eingriffen an sehr alten Menschen regelmäßig zu erwarten hat. Wer immer häufiger solche Patienten operiert, braucht eine leistungsfähige Intensivmedizin, um eine inakzeptabel hohe Frühmortalität mit allen Konsequenzen (z. B. für den Ruf des Klinikums) zu vermeiden. Dies ist also der erste Grund für die immensen Intensivkapazitäten Deutschlands.

Lohnt es sich finanziell, immer älteren Patienten höchst aufwendige, gefährliche und belastende Therapien zukommen zu lassen? Das kommt auf die Therapie an. Herzkatheter­untersuchungen (mit oder ohne Stents) beispielsweise galten lange Zeit als extrem lohnend und wurden entsprechend gerne gemacht. Böse Zungen sagen, man solle in medizinisch überversorgten Regionen wie München vermeiden, in Ohnmacht zu fallen – man könnte in einem Herzkatheter­labor wieder aufwachen. Bei einer meiner früheren Medikationsanalysen ging es um einen alten Herrn aus der Oberpfalz, der zweimal hintereinander im Abstand weniger Wochen, wenn er bergauf gehen musste, kollabiert war. Jedes Mal wurde er danach in die Kardiologie eines kirchlichen Klinikums eingewiesen, jedes Mal wurde eine Herzkatheteruntersuchung gemacht. Jedes Mal wurde im Labor ein HbA1c-Wert um 12% gemessen, was jedes Mal ignoriert wurde. Vor allem aber wurde kein einziges Mal die Schlussfolgerung gezogen, dass man sich angesichts der bereits gefundenen Endorganschäden einmal die hirnversorgenden Gefäße ansehen sollte. So kann man sich auch auf seine fachlichen Aufgaben konzentrieren. Gewinnbringend, versteht sich.

Zahlende Gäste willkommen!

In vielen Fällen aber kosten diese Patienten aufgrund komplikationsreicher Verläufe mehr, als man für den jeweiligen Fall (selbst mit vielen dokumentierten Nebendiagnosen) nach DRG abrechnen kann. Um die Verluste auszugleichen, muss man sich um Patienten bemühen, die bereit und in der Lage sind, jede geforderte Summe zu zahlen, um an den Segnungen des deutschen Gesundheitswesens teilzuhaben. Das Resultat dieser Bemühungen trägt den Namen Medizin­tourismus.

Schon in den späten Neunzigerjahren führten die ersten tapsenden Schritte von leitenden Klinik-Verwaltungsangestellten (Geschäftsführern in spe) in Richtung freies Unternehmertum zunächst auf die großen Gesundheitsmessen in Dubai und Riad. Dort pries man die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens in den höchsten Tönen und mit nicht immer ganz realistischen Heilsversprechen an. Und die ebenso zahlungskräftigen wie multimorbiden Araber, später auch Russen und andere, kamen in Scharen. Sie brachten auch ihre Familien mit, was den Nobelhotels und Einkaufspassagen glänzende Umsätze bescherte. Trotzdem war die Geschäftsidee nicht ganz frei von unerwünschten Wirkungen. Zunächst fiel auf, dass viele arabische Patienten nicht zahlten und, einmal in ihr Heimatland zurückgekehrt, auch nicht mehr zur Kasse gebeten werden konnten. Man musste Lehrgeld zahlen und verstehen, dass die arabische Auffassung von Verträgen von der europäischen abweicht. Vereinfacht ausgedrückt: Araber zahlen nicht einfach für die erbrachten Leistungen, sondern für deren Erfolg. Nun ist es naturgemäß nicht so leicht, einen Menschen, der sich (einfach, weil er es sich leisten konnte) ein Leben lang von fettem Fleisch und Süßigkeiten ernährt hat, dessen Stoffwechsel dementsprechend entgleist ist und der bereits massive Endorganschäden davongetragen hat, zu reparieren wie ein Auto mit abgefahrenen Bremsen. Genau diesen Eindruck aber hatten die Klinikmanager auf den Gesundheitsmessen erweckt.

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Mit dem Medizintourismus kamen nicht nur Patienten aus fernen Ländern und brachten viel Geld. Auch ganz neue multiresistente Krankenhauskeime wurden eingeschleppt, auf die man mit einem Ausbau der Hygiene- und Mikrobiologie-Kapazitäten hierzulande reagierte.

Das Problem wurde auf der finanziellen Ebene dadurch gelöst, dass nun jeder Selbstzahler (egal aus welchem Land) eine hohe Summe in bar hinterlegen muss, bevor er überhaupt einen Arzt zu sehen bekommt. Es gibt jedoch einen weiteren Aspekt, der direkt daraus resultiert: Arabische Ärzte sind mit derselben Erwartungshaltung ihrer Patienten konfrontiert. Um zu ihrem Honorar zu kommen, müssen sie alles tun, was möglich ist – und das ist nicht zwangs­läufig das, was vernünftig ist. In der Folge sind die arabischen Länder weltweit führend im Overuse von Breit(est)spektrum-Antibiotika und damit auch in der Entwicklung von Antibiotikaresistenzen. Vor dem Andrang der lukrativen Klientel waren Keime wie ein gegen nahezu alle Antibiotika resistenter Acinetobacter baumannii (im Mikrobiologen-Jargon: 4MRGN-ACBA) nur aus mikrobiologischen Dissertationen bekannt. Nun war man plötzlich mit dem greifbaren Risiko konfrontiert, dass ein arabischer Selbstzahler solche Keime nicht nur mitbringt und postoperativ an ihnen verstirbt, sondern sie auch hinterlässt, quasi als trojanisches Gastgeschenk für die einheimische Bevölkerung. Die Reaktion auf diese Bedrohungslage war nicht nur der weitere Ausbau der Intensivkapazitäten, mit denen man die multimorbiden Patienten mit dem bereits vorher entgleisten Stoffwechsel nach jeder medizinischen Intervention mühsam am Leben halten musste. Auch die Hygiene- und Mikrobiologie-Kapazitäten mussten ausgebaut, das Personal musste entsprechend geschult werden. In der Pandemiesituation zahlte sich das aus. Während in Ländern wie Italien viele COVID-19-­Patienten an den Folgen bakterieller Superinfektionen mit multiresistenten Krankenhauskeimen verstarben, hatte man dieses Problem in Deutschland weit besser im Griff. Man hatte ja genügend Erfahrung.

Zusammengefasst: Während andere Länder ein Gesundheitswesen haben, das lediglich die Versorgung der Bevölkerung mit sinnvollen medizinischen Leistungen sicherstellen soll und das in Krisenzeiten (also spätestens seit der Bankenkrise 2008 und der darauf folgenden Eurokrise der südlichen EU-Länder) kaputtgespart wird, ist Deutschland einen völlig anderen Weg gegangen. Auf dem Nährboden einer Gesetzgebung, die Investoren eine gewaltige Gewinnmaximierung im Kliniksektor erlaubt, ist ein System gewachsen, das mit enormer Geschäftstüchtigkeit stets das Maximale anstelle des Optimalen zu tun versucht – und sei es nur, um für viele tausend Euro das Sterben von Patienten mit infau­ster Prognose um einige qualvolle (lukrativ beatmete) Tage zu verlängern. Nie in der Geschichte war Sterben so teuer wie heutzutage in Deutschland. Die Pandemie ist die nahezu einzige denkbare Situation, in der das überdimensionierte System für die Bevölkerung ein Vorteil ist. Viele haben das verstanden und schreiben Patientenverfügungen, in denen sie sinnlose Maximaltherapie ausschließen.

Auf dem Rücken der Pflege

Wenn es um Vor- oder Nachteile des Systems geht, lohnt sich auch ein Blick auf das Pflegepersonal, das nicht nur während einer Pandemie (da v. a. an den Brennpunkten des Geschehens), sondern auch im ganz normalen Klinikalltag für sehr wenig Geld täglich an die Grenzen der Belastbarkeit geht. Man darf ja nicht vergessen, dass die börsennotierten Klinikketten zu Taktgebern des Systems geworden sind und in der Philosophie der Chefetagen ein Lohndumping (wo ­immer man es sich erlauben kann) ein wesentlicher Schlüssel zur Gewinnmaximierung ist. Gerade unter Normal­bedingungen handelt es sich bei der Pflege um die Verlierer des Systems, auch weil sie sich nur in geringem Umfang gewerkschaftlich organisiert.

Corona könnte das ändern. Zunächst sah es nicht danach aus, denn die Gewinner des Systems, die u. a. in den Chefetagen der Kliniken sitzen, hatten sehr schnell die passende Rhetorik parat – sie erklärten Schwestern und Pfleger kurzum zu Superhelden. Dabei handelte es sich in jeder Hinsicht um eine billige Lösung (wie immer, wenn Wertschätzung an die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit delegiert wird) – in erster Linie natürlich finanziell gesehen. Hat man je gehört, dass Superman sich über sein klägliches Einkommen beschwert hat? Oder Batman darüber, dass er keine bezahlbare Wohnung findet, weil Angehörige anderer Nationen (vielleicht während sie gerade als zahlungskräftige Patienten im Klinikum behandelt werden) den Wohnungsmarkt leerkaufen und so die Immobilienpreise in absurde Höhen treiben? Nun, billig war die Superhelden-Lösung auch insofern, als sie erbärmlich durchschaubar war. Die Reaktion der Pflegenden war entsprechend genervt. Politiker wie Markus Söder, die feine Antennen für Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung haben, stiegen schnell darauf ein und forderten eine bessere Bezahlung für die Pflege. Ob sie sich daran erinnern, wenn alles wieder im Normalbetrieb läuft, bleibt abzuwarten.

Eine Sache wurde durch die Corona-Krise mehr als deutlich: Beatmungsbetten werden in Deutschland nicht so schnell zum limitierenden Faktor werden. Neben den Lieferengpässen bei Arzneimitteln, die schon im Normalbetrieb (auch und gerade in Kliniken!) ein zunehmendes, durch eine weltweite Krise naturgemäß verschärftes Problem darstellen, wird qualifiziertes Personal den wesentlichen Flaschenhals des Systems darstellen. Der Orthopäde, der nach notdürftiger Einweisung in die Benutzung von Beatmungsgeräten eine superinfizierte COVID-19-Pneumonie behandelt, ohne dabei noch auf ausreichend Intensivpflegepersonal oder auf nennenswerte Vorräte von Midazolam und Propofol zugreifen zu können, ist der eigentliche Albtraum in deutschen Kliniken – und Gegenstand von viel schwarzem Humor, der viral durch das Internet geistert.

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Lehren aus Corona: Beatmungsbetten werden in Deutschland nicht so schnell zum limitierenden Faktor werden. Arzneimittel schon – und das bereits häufig im Normalbetrieb und langfristig.

Lehren aus der Krise

Wie geht es nach der Pandemie weiter? Ein Leopoldina-Diskussionspapier aus dem Jahr 2016 hatte die Schließung von 1300 der damals rund 1600 deutschen Kliniken empfohlen, um die vorhandenen Ressourcen auf wenige Standorte zu konzentrieren. Als die Leopoldina auch in der Corona-Krise Empfehlungen beisteuerte, spottete das Online-Satiremagazin „Der Postillon“: „Akademie, die 2016 noch Schließung von 1300 Kliniken empfahl, weiß jetzt, wie man Corona-Krise am besten meistert“. 2019 (also „kurz vor Corona“) schlug die Bertelsmann-Stiftung in dieselbe Kerbe: 600 Kliniken wären genug für Deutschland, die Qualität der Versorgung würde durch die Schließung von rund 800 Häusern steigen. Zur Klärung der Frage werfen wir einen zweiten Blick auf die Rhön-Klinikum AG, und zwar in den Aufsichtsrat. In ihm fanden und finden wir große Namen, etwa Karl Lauterbach, Karl-Theodor zu Guttenberg und (aktueller) Brigitte Mohn. Man darf wohl daraus schließen, dass der Familie Mohn ein Teil der als „Streubesitz“ ausgewiesenen knapp 25% Aktienanteile gehört – neben dem Bertelsmann-Konzern mit Magazinen wie Stern, den Sendern der RTL-Group und vielen Medien mehr. Und Frau Mohn sitzt im Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, die ihre Familie gegründet hat. Wenn diese Stiftung nun die Schließung von mehr als der Hälfte der deutschen Kliniken fordert, könnte man das als Appell verstehen, die Konkurrenten der Klinikkette, in die die Stifterfamilie einen Teil ihres Vermögens investiert hat, möchten doch jetzt bitte endlich mal ihren Betrieb einstellen. Muss man das ernst nehmen? Ja, weil alle Medien, auch die, die nicht im Besitz von Bertelsmann sind, darüber berichten, als wäre es das Produkt purer, von jeglichem wirtschaftlichen Interesse unbeeinflusster Wissenschaft. Nach der Corona-Krise wird man diese Kampagnen neu bewerten müssen. Grundsätzlich sind die Aussagen der beiden Institutionen ja nicht ganz falsch, aber der Lauf der Geschichte hat gezeigt, dass nicht alle Eventualitäten in die Überlegungen einbezogen wurden. Das Kliniksterben wird sich also wohl eher wie bisher als schleichender Prozess fortsetzen.

Der Medizintourismus dagegen wird voraussichtlich zunehmen. Klinikmanager moderner Prägung haben den Marketingwert der relativ niedrigen COVID-19-Mortalität in deutschen Kliniken längst erkannt. Sobald die Krise überstanden ist, werden die deutschen Erfolgszahlen (das Verhältnis von Infizierten und Verstorbenen im Vergleich zu anderen Ländern) publikumswirksam um die Welt gehen. Und die Patienten werden wiederkommen, noch mehr als vorher.

Für uns Apotheker wird die interessanteste Frage sein, wie konsequent man die Lehre aus den Lieferengpässen umsetzt. Selbst als viele Intensivstationen halb leer waren, war der Nachschub z. B. von Propofol und Midazolam auf Kante genäht, weil Lieferungen aus Indien und China ausblieben. Beatmung ohne Sedierung ist nicht möglich. Es reifte die Erkenntnis, dass Europa wieder ein Produktionsstandort für essentielle Arzneistoffe werden muss. Aber sobald das Gesundheitswesen wieder im Normalbetrieb läuft, wird man das durchrechnen und entsetzt feststellen, dass Arzneistoff- und Arzneimittelproduktion viel zu teuer werden, wenn man nennenswerte Personalkosten und Umweltstandards berücksichtigen muss. Und dann werden die Kranken­kassen alles tun, um den Mantel des Schweigens über die Absichtserklärungen des Frühjahrs 2020 zu breiten.

Die nächste Pandemie kommt ja erst in hundert Jahren. Oder doch vielleicht früher? |

Autor

Dr. Markus Zieglmeier, Apotheker, studierte Pharmazie an der LMU in München und ist seit 1989 in der Apotheke des Klinikums München-­Bogenhausen tätig; Promotion zum Dr. rer. biol. hum.; Fachapotheker für Klinische Pharmazie, Zusatzbezeichnungen: Medikationsmanager BA KlinPharm, Ernährungsberatung und Geriatrische Pharmazie. Seit 2002 ist er verstärkt als Referent und Autor tätig.

München-Klinik, Apotheke Klinikum Bogenhausen, Englschalkinger Str. 77, 81925 München, mzieglmeier@gmail.com

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