Arzneimittel und Therapie

Was die Blase stark macht

Fast jede Intervention ist besser als keine

In Deutschland leiden rund 15 Millionen Frauen unter einer Harninkontinenz, im Volksmund besser als Blasenschwäche bekannt. Für die Betrof­fenen ist dies in der Regel nicht nur ein körperliches Problem, sondern hat auch psychische und soziale Folgen. Oft werden die Beschwerden totgeschwiegen, anstatt sie zu behandeln. Doch die Ergebnisse einer Metaanalyse zeigen, dass bei den am weitesten verbrei­teten Inkontinenzformen fast jede Inter­vention wirksam ist.

Als Harninkontinenz wird das Unvermögen bezeichnet, die Blase willkürlich an einem passenden Ort und einer passenden Zeit zu entleeren. Dabei kann der unwillkürliche Urinverlust verschiedene Ausmaße annehmen: von einigen Tropfen bis zum kompletten Verlust der Fähigkeit, selbst kleine Harnmengen zurückzuhalten. Die häufigsten Formen der Harninkontinenz sind die Belastungsinkontinenz, die Dranginkontinenz und Misch­formen der beiden.

Die Belastungs- oder Stressinkontinenz ist vor allem bei Frauen weit verbreitet und tritt oft nach Schwangerschaften und im Alter auf. Bei Männern kann die chirurgische Entfernung der Prostata zu einer Belas­tungsinkontinenz führen. Bei dieser Form der Blasenschwäche kommt es zum Harnabgang unter körperlicher Belastung, wenn der plötzlich ansteigende Intravesikaldruck die Schließkraft des Sphinkters überwindet. Oft liegt die Ursache in einer Schwäche der Beckenbodenmuskulatur. Man unter­scheidet drei Schweregrade:

  • 1. Grad: Inkontinenz beim Husten oder Niesen
  • 2. Grad: Inkontinenz bei abrupten Bewegungen, z. B. beim Aufstehen
  • 3. Grad: Inkontinenz schon bei unangestrengten Bewegungen oder im Liegen

Bei der Drang- oder Urgeinkontinenz empfinden die Betroffenen plötzlichen, nicht beherrschbaren Harndrang mit anschließendem unwillkürlichem Harnabgang. Dies kann sensorisch, durch ein vorzeitiges Füllungsgefühl, oder motorisch, durch vorzeitige Stimulierung des Musculus detrusor, bedingt sein. Ursachen können bei der sensorischen Dranginkontinenz Entzündungen oder obstruktive Veränderungen wie Blasensteine oder eine Prostatahyperplasie sein. Bei der motorischen Form liegen meist neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson zugrunde.

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Therapieoptionen unter der Lupe

Welche nichtoperativen Therapiestrategien bei Frauen mit Harninkontinenz hilfreich sind, wurde im Rahmen einer Netzwerk-Metaanalyse untersucht. 84 randomisierte Studien wurden ausgewertet. Dazu wurden die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten in Kate­gorien unterteilt und nach ihrem Einsatz in der Erst-, Zweit- oder Dritt­linie stratifiziert. Als Mittel der ersten Wahl gilt die Verhaltenstherapie. Dieser Begriff umfasst nach der hier verwendeten Definition eine Reihe nichtinvasiver, nichtpharmakolo­gischer Maßnahmen. In zweiter Linie werden pharmakologische Interventionen empfohlen und als Drittlinientherapien invasive Maßnahmen, Neuromodulation und Behandlung mit Botox.

Verhaltenstherapie

Bei der Verhaltenstherapie steht das Blasentraining (bei Dranginkontinenz) und die Stärkung des Beckenbodens (bei Belastungsinkontinenz) im Vordergrund. Beim Blasentraining soll die Blase lernen, sich stärker zu dehnen und mehr Harn zu speichern. Dazu werden zunächst Urin- und Trinkmengen sowie die Häufigkeit der Toilettengänge in einem Miktionstagebuch festgehalten. Im nächsten Schritt wird versucht, die Blase mithilfe eines Toilettenplans an einen regelmäßigen Rhythmus zu gewöhnen und die Abstände zwischen den Entleerungen der Blase schrittweise zu vergrößern. Zusätzlich sorgt ein Trinkplan für eine adäquate Trinkmenge, da auch stark konzentrierter Urin durch Reizung der Blasenschleimhaut zu häufigem Harndrang führen kann.

Der Beckenboden ist eine Muskelplatte und schließt den Bauchraum und die Beckenorgane nach unten ab. Er unterstützt die Schließmuskulatur von Harnröhre und After. Ist der Beckenboden geschwächt, kann es insbesondere bei körperlicher Belastung zu ungewolltem Harnabgang kommen. Daher ist die Stärkung des Beckenbodens ein wichtiger Ansatzpunkt in der Therapie der Belastungsinkontinenz. Dabei muss der Patient zuerst lernen, den Beckenboden bewusst wahrzunehmen und gezielt anzuspannen. Hier kann Biofeedback zur Unterstützung eingesetzt werden – ein Verfahren, bei dem die Kontraktion des Beckenbodens mithilfe spezieller Geräte visuell und akustisch angezeigt wird. Dann werden Kräftigungsübungen indi­viduell ausgewählt, die Patienten selbstständig oder unter Anleitung regelmäßig ausführen können. Auch bestimmte Yogaübungen oder Hilfsmittel wie Vaginalkugeln können zur Stärkung des Beckenbodens beitragen.

Als weitere verhaltenstherapeutische Maßnahmen kommen Gewichtsabnahme (zur Entlastung des Beckenbodens), Schulungen, Wärmetherapie und Hilfsmittel zur Stabilisierung der Blase (z. B. Pessare) in Betracht.

In der Netzwerk-Metaanalyse erwiesen sich verhaltenstherapeutische Maßnahmen – allein oder in Kombination – bei Belastungsinkontinenz im Vergleich zu keiner Intervention oder einer Behandlung mit α-agonistisch wirksamen Substanzen (Duloxetin, Midodrin) oder Hormonen (Estrogen-Präparate, Raloxifen) als effektiver. Auch Patienten mit Dranginkontinenz profitieren von einer Verhaltenstherapie: Den Ergebnissen der Metaanalyse zufolge ist eine Heilung oder eine Linderung der Symptome damit wahrscheinlicher als mit Anticholinergika oder ohne Behandlung.

Pharmakologische Therapie

Als medikamentöse Maßnahmen werden bei der Belastungsinkontinenz vor allem der Noradrenalin-Serotonin-Reuptake-Inhibitor Duloxetin (z. B. Yentreve® und Generika) und bei Frauen in der Menopause lokal applizierte Estrogene eingesetzt. Die hormonelle Therapie soll die α-Rezeptoren im Urethra-Epithel sensibilisieren und so ebenso wie die α-Agonisten den Harnröhrentonus erhöhen. Aufgrund seiner α-adrenergen Eigenschaften wurde Duloxetin in der Metaanalyse den α-Agonisten zugeordnet.

Bei der Belastungsinkontinenz war eine medikamentöse Behandlung gegen­über keiner Intervention in der Metaanalyse nicht mit signifikant höhe­ren Heilungsraten verbunden – weder bei Patienten, die nur mit Hormonen behandelt wurden, noch bei Patien­ten, die α-Agonisten erhalten hatten. Jedoch wurde fest­gestellt, dass α-Agonisten eher zu einer Linderung der Symptome bei­tragen als Hormonpräparate oder keine Behandlung.

Bei der Dranginkontinenz werden Anticholinergika (z. B. Darifenacin, Desfesoterodin, Fesoterodin, Oxybutynin, Propiverin, Solifenacin, Tolterodin, Trospiumchlorid) eingesetzt. Die neurotropen Spasmolytika sollen den Tonus der Blasenmuskulatur dämpfen und so den Harndrang reduzieren. Die Behandlung mit Anticholinergika allein war in der Analyse effektiver als Placebo bzw. keine Behandlung, aber weniger effektiv als Verhaltenstherapie. Es fanden sich Hinweise darauf, dass eine Kombination aus Anticholinergika und Verhaltenstherapie die Symptome wirksamer lindert als die Einzelmaßnahmen.

Was hilft bei Inkontinenz nach Schlaganfall?

In einem Cochrane-Review wurde kürzlich die Evidenz für verschiedene Interventionen bei Harninkontinenz nach einem Schlaganfall analysiert. Es fanden sich Hinweise darauf, dass verhaltenstherapeutische Maßnahmen die Zahl der Inkontinenz-Episoden verringern können, die Lebensqualität dadurch jedoch kaum verbessert wird. Auch von komplementären Therapien wie Akupunktur könnten Patienten profitieren. Zudem scheint eine Behandlung mit transkutaner elektrischer Nervenstimulation (TENS) die Blasenfunktion zu verbessern und die inkontinenten Episoden zu verringern. Insgesamt kamen die Autoren jedoch zu dem Ergebnis, dass sich aus den wenigen, meist kleinen Studien zu den einzelnen Maßnahmen kaum Handlungsempfehlungen ableiten lassen.

[Quelle: Thomas LH et al. Cochrane Database Syst Rev 2019;2:CD004462]

Drittlinientherapie

Neuromodulation kann bei beiden Inkon­tinenzformen eingesetzt werden. Die Autoren der Metaanalyse fassten unter diesem Punkt Elektroakupunktur, sakrale Neuromodulation („Beckenbodenschrittmacher“), magnetische Stimulation und transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) zusammen. Bei Belastungsinkontinenz und Dranginkontinenz waren diese Maßnahmen allein oder in Kombination mit Erst- oder Zweitlinientherapie effektiver als keine Behandlung.

Bei Belastungsinkontinenz wurden zudem die intravesikale Druckentlastung und die Injektion von Bulking Agents betrachtet. Bei dem erstgenannten Verfahren wird ein kleiner Ballon in die Harnblase eingebracht, der plötzliche Kontraktionen abfedern soll. Die Ergebnisse der Metaanalyse weisen darauf hin, dass dies Symptome effektiver lindern kann als eine Scheinbehandlung. Beim zweiten Verfahren wird durch submuköse Injektion von z. B. Kollagen oder Fett ein Polster gebildet, welches die Harnröhre verengt. Hierfür konnte kein signifikanter Vorteil gegenüber keiner Behandlung festgestellt werden.

Die Injektion von Botulinumtoxin in die Blasenmuskulatur war bei Patienten mit Dranginkontinenz effektiver als keine Behandlung und hatte im indirek­ten Vergleich eine bessere Heilungs­rate als Neuromodulation.

Das Meiste ist hilfreich

Bis auf den Einsatz von Hormonpräparaten und Bulking Agents waren die Ergebnisse für alle betrachteten Maßnahmen signifikant besser als ohne Behandlung. Verhaltenstherapie war alleine oder in Kombination effektiver als jede andere Einzelmaßnahme. Medi­kamentöse Therapien wurden generell gut vertragen, hatten aber teilweise unangenehme Nebenwirkungen, vor allem Mundtrockenheit. |

Quelle

Balk EM et al. Pharmacologic and Nonpharmacologic Treatments for Urinary Incontinence in Women. Ann Intern Med 2019; doi:10.7326/M18-3227

Wyndaele JJ et al. A randomized, controlled clinical trial of an intravesical pressure-attenuation balloon system for the treatment of stress urinary incontinence in females. Neurourol Urodyn 2016;35(2):252-9

Informationen zu Blasentraining und Beckenbodentraining. www.gesundinformationen.de; Abruf am 01. Mai 2019

Webseiten des Selbsthilfeverbands Inkontinenz e. V. www.selbsthilfeverband-inkontinenz.org; Abruf am 30. April 2019

Webseiten der Universitätsklinik Heidelberg, Urologie. www.klinikum.uni-heidelberg.de; Abruf am 30. April 2019

Deutsche Kontinenz Gesellschaft. Harn- und Stuhlinkontinenz, Ausgabe 06/2018

Said A. Hilfe gegen das Tröpfeln: Eine Übersicht zur Pharmakotherapie der Harn- und Stuhlinkontinenz. DAZ 2015, Nr. 7, S. 48

Harninkontinenz. Berufsverband der Frauenärzte e. V. (BVF). www.frauenaerzte-im-netz.de; Abruf am 30. April 2019

Apothekerin Sarah Katzemich

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