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Beratung
Nebenwirkung Haarausfall
Bei vermehrtem Haarausfall können auch Arzneimittel die Ursache sein
Definiert ist die Alopecia medicamentosa als ein vermehrter Haarverlust durch Medikamente, der etwa drei bis sechs Monate nach der Einnahme auftritt und nach dem Absetzen des Arzneimittels in der Regel reversibel ist. Die Scheitelregion ist oft am meisten betroffen. Ursachen und Mechanismen sind nur teilweise bekannt. Das Ausmaß des Haarverlusts durch Medikamente kann innerhalb einer Wirkstoffgruppe sehr verschieden sein. (s. Tab.). Im Folgenden werden für einige Wirkstoffgruppen Erkenntnisse aus aktuellen Studien zusammengefasst [1, 2].
Haarverlust unter Zytostatika
Haarausfall zählt zu den bekanntesten und am meisten beeinträchtigenden Nebenwirkungen einer Chemo- oder Radiotherapie. Ursache des Haarverlusts unter Zytostatika ist die Hemmung der Teilung der Haarfollikel-Epithelzellen. Dadurch kommt es zu einem vorfristigen Ende der Wachstumsphase (Anagenphase). Viel mehr Haare als normalerweise treten dann gleichzeitig in das Katagenstadium (Übergangsphase) und schließlich in das Ruhe- bzw. Ausfallstadium (Telogenphase) über (siehe Abb. 1). Bei den zielgerichteten Antitumor-Wirkstoffen wie den Inhibitoren des vaskulären endothelialen Wachstumsfaktors (VEGFR-Inhibitoren, z. B. Sorafenib), den BRAF-Inhibitoren (z. B. Vemurafenib) oder den EGRF-Inhibitoren (z. B. Erlotinib) sind andere Wirkmechanismen für den vermehrten Haarausfall verantwortlich. Diskutiert wird beispielsweise, dass die Hemmung spezifischer Signalwege zusätzlich destruierende Entzündungen und Infektionen in den Haarfollikeln hervorrufen kann [3]. Bei Aromatase-Hemmstoffen (Anastrozol, Letrozol, Exemestan) ist die Ursache für die Alopezie in der Verringerung der Estrogen-Synthese zu suchen. Das Enzym Aromatase (CYP19A1) katalysiert die Umwandlung von Testosteron zu Estradiol und von Androstendion zu Estron. Seine Hemmung führt zu einem relativen Anstieg des Testosteron-Spiegels und zu einer gesteigerten Umwandlung von Testosteron zu 5-alpha-Dihydrotestosteron, das eine höhere Affinität zu den auch im Haarfollikel lokalisierten Androgen-Rezeptoren besitzt [4].
Gekühlter Kopf verliert weniger Haare
Ein Verfahren zur Verringerung einer Zytostatika-induzierten Alopezie ist das Scalp Cooling. Dabei wird die Kopfhaut während der Infusion sowie bis zu zwei Stunden danach auf etwa 15 °C abgekühlt. Dies führt zu einer Vasokonstriktion, wodurch weniger Zytostatika als ohne Kühlhaube die Haarfollikel erreichen. Außerdem wird die Stoffwechselaktivität der Haarfollikelzellen reduziert, die durch ihre hohe Teilungsrate besonders empfindlich auf die Chemotherapie reagieren. In zwei Studien, die 2017 mit Brustkrebspatientinnen unter Behandlung mit Taxanen, Cyclophosphamid bzw. Anthracyclinen durchgeführt worden waren, lag bei Anwendung der Scalp Coolings bei etwa jeder zweiten Frau der Haarverlust unter 50% [5].
ACE-Hemmer: Nebenwirkung infolge Zink-Mangel?
Fallberichte über einen vermehrten Haarverlust unter Propranolol tauchten bereits in den 1970er-Jahren auf. In den Fachinformationen der Propranolol-Präparate ist die Nebenwirkung als häufig klassifiziert, bei den strukturverwandten Substanzen tritt sie weniger häufig auf (s. Tab.). Ein möglicher Wirkmechanismus wurde bisher nicht publiziert. Als Ursache für den Haarverlust unter den Inhibitoren des Angiotensin-konvertierenden Enzyms (ACE-Hemmer) wird ein Eingriff in den Zink-Stoffwechsel durch Komplexbildung der Wirkstoffe mit Zink-Ionen postuliert [6]. Das wichtige Spurenelement befindet sich auch im aktiven Zentrum des Angiotensin Converting Enzymes und bindet sowohl das Substrat Angiotensin 1 als auch die Inhibitoren. In den Fachinformationen wird nur bei Captopril die Alopezie als häufige Nebenwirkung genannt.
Tab. 1: Wirkstoffe, bei denen vermehrter Haarausfall (Alopezie) als Nebenwirkung auftreten kann (Auswahl)
Wirkstoffgruppe |
Wirkstoff |
Häufigkeit lt. Fachinformation |
---|---|---|
Analgetika/Antirheumatika |
Diclofenac |
gelegentlich |
Ibuprofen |
sehr selten |
|
Indometacin |
gelegentlich |
|
Ketoprofen |
sehr selten |
|
Naproxen |
sehr selten |
|
Piroxicam |
gelegentlich |
|
Antidepressiva |
Citalopram |
gelegentlich |
Doxepin |
sehr selten |
|
Fluoxetin |
gelegentlich |
|
Lithium |
sehr selten |
|
Sertralin |
gelegentlich |
|
Venlafaxin |
gelegentlich |
|
Antiepileptika |
Carbamazepin |
sehr selten |
Valproinsäure |
häufig |
|
Antihypertonika | ||
ACE-Hemmer |
Captopril |
häufig |
Enalapril |
gelegentlich |
|
Fosinopril |
keine Angabe |
|
Lisinopril |
selten |
|
Quinapril |
gelegentlich |
|
Ramipril |
keine Angabe |
|
Betablocker |
Atenolol |
selten |
Bisoprolol |
sehr selten |
|
Metoprolol |
selten |
|
Propranolol |
häufig |
|
Antikoagulanzien | ||
Heparine (NMH) |
Enoxaparin |
selten |
Dalteparin |
selten |
|
Cumarine |
Warfarin |
gelegentlich |
Phenprocoumon |
selten |
|
Antimykotika |
Ketoconazol |
gelegentlich |
H2-Blocker |
Cimetidin |
selten |
Famotidin |
selten |
|
Ranitidin |
sehr selten |
|
Immunsuppressiva |
Azathioprin |
selten |
Methotrexat |
sehr häufig |
|
Lipidsenker | ||
Fibrate |
Bezafibrat |
gelegentlich |
Fenofibrat |
selten |
|
Statine |
Atorvastatin |
gelegentlich |
Lovastatin |
keine Angabe |
|
Pravastatin |
gelegentlich |
|
Simvastatin |
selten |
|
Psychopharmaka |
Imipramin |
gelegentlich |
Trimipramin |
keine Angabe |
|
Retinoide |
Acitretin |
sehr häufig |
Alitretinoin |
sehr häufig |
|
Isotretinoin |
selten |
|
Zytostatika | ||
Alkylanzien |
Cyclophosphamid |
sehr häufig |
Vinca-Alkaloide |
Vinblastin |
sehr häufig |
Antimetaboliten |
5-Fluorouracil |
sehr häufig |
zielgerichtete Krebstherapeutika |
Sorafenib |
sehr häufig |
Sunitinib |
häufig |
|
Vismodegib |
sehr häufig |
|
Aromatase-Hemmer |
Anastrozol |
häufig |
Exemestan |
häufig |
|
Letrozol |
häufig |
|
Kategorien: sehr häufig (≥ 1/10); häufig (≥ 1/100 bis < 1/10); gelegentlich (≥ 1/1000 bis < 1/100); selten (≥ 1/10.000 bis < 1/1000); sehr selten (< 1/10.000). |
Antikoagulanzien: Lange Latenzzeit erschwert Zuordnung
Zum Mechanismus des Haarverlusts unter Antikoagulanzien gibt es ebenfalls noch keine gesicherten Erkenntnisse. Heparin werden antimitotische Eigenschaften zugeschrieben. In vitro zeigte sich eine Suppression der Teilung der Haarfollikel-Epithelzellen. Ein Review aus dem Jahr 2016 enthält Fallberichte über das Auftreten von Haarverlust unter Heparin, unter niedermolekularen Heparinen (Dalteparin, Tinzaparin, Enoxaparin) und unter Warfarin [7]. Dieser Review hatte sich auch mit der Frage beschäftigt, ob die direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) Dabigatran, Rivaroxaban, Apixaban oder Edoxaban ein Alternative für Patienten sein könnten, die unter Heparinen oder Cumarinen unter vermehrtem Haarverlust leiden. In den Fachinformationen der DOAK-Präparate ist Alopezie als Nebenwirkung nicht enthalten. Die Pharmakovigilanz-Datenbank VigiBaseTM der WHO enthält jedoch zahlreiche Berichte darüber [8]. Problematisch für die Zuordnung eines Haarverlusts zu den Antikoagulanzien ist die lange Zeitspanne zwischen der ersten Anwendung und dem Auftreten der Nebenwirkung.
Valproinsäure: Dosisreduktion kann Haarausfall mildern
Haarverlust tritt unter einer Behandlung mit Valproinsäure häufig auf. Fallberichte weisen auf eine Dosisabhängigkeit der Nebenwirkung hin. Bei der Behandlung von epileptischen Anfällen werden Tagesdosen zwischen 1200 und 2100 mg pro Tag empfohlen. In Fallberichten trat Haarverlust bei Dosierungen von 1200 mg/Tag auf, bei Verringerung auf beispielsweise 600 mg/Tag nahm er schrittweise ab. Nach Absetzen der Valproinsäure wuchsen die Haare wieder nach [9]. Das Institut für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie e. V. (AMSP) mit Sitz in Hannover hatte im vergangenen Jahr einen Review über die Häufigkeit von schwerem Haarverlust unter Antipsychotika veröffentlicht. Die Daten waren zwischen 1993 und 2013 in 83 psychiatrischen Kliniken in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich gewonnen worden. Bei rund 404.000 Patienten mit Depression, Schizophrenie und weiteren psychotischen Erkrankungen war ein schwerer Haarverlust in 43 Fällen (0,01%) aufgetreten, wobei Valproinsäure das höchste Risiko aufwies. Weibliche Patienten waren signifikant häufiger von Haarausfall betroffen als männliche (p < 0,01, [10]).
Antidepressiva: Kohortenstudie findet Unterschiede
Eine amerikanische retrospektive Kohortenstudie war mit dem Ziel durchgeführt worden, Unterschiede im Risiko für vermehrten Haarverlust bei verschiedenen Antidepressiva zu identifizieren [11]. Die Patienten (n = 1.025.140) hatten im Zeitraum 2006 bis 2014 Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram, Paroxetin, Duloxetin, Venlafaxin, Desvenlafaxin oder Bupropion eingenommen. Sertralin war am häufigsten, Fluvoxamin am seltensten verordnet worden. Verglichen mit Bupropion besaßen alle Antidepressiva ein niedrigeres Risiko für Haarverlust; bei Fluoxetin und Paroxetin war es am niedrigsten (Hazard ratio, HR = 0,68, 95% KI 0,63 bis 0,74, HR = 0,68, 95% KI 0,62 bis 0,74). In den Fachinformationen der in Deutschland zugelassenen Präparate wird Haarausfall meistens als gelegentliche Nebenwirkung genannt. Bei Bupropion-Präparaten ist sie dagegen nicht aufgeführt.
Empfehlungen zur Haarpflege bei einer Chemotherapie
vor Therapiebeginn:
- Perückenstudio oder Friseur aufsuchen, damit die Haarfarbe der Perücke gut an die Originalhaarfarbe angepasst werden kann
- Kurzhaarschnitt bevorzugen
während und nach der Therapie:
- Haarverlust durch Tücher, Hüte, Kappen kaschieren
- Betonung der Augen oder des Mundes durch Kosmetika kann die Aufmerksamkeit von der Frisur weglenken
- Kopfwäsche nur mit lauwarmem Wasser und mildem Shampoo durchführen, da die Kopfhaut sehr empfindlich ist
- Schutz der Kopfhaut mit fettreichen Salben, Kopfbedeckung bzw. Sonnenschutzmittel
- zum Kämmen der verbliebenen Haare nur eine weiche Bürste benutzen
nicht empfehlenswert sind vor, während und nach der Therapie:
- kräftiges Bürsten/Kämmen
- Färbungen oder Dauerwellen
- heizbare Frisierstäbe oder Lockenwickler
- Haarspray oder -gel
Quelle: www.krebsgesellschaft.de
Statine und Retinoide: Optionen gegen den Haarverlust?
Auch der Mechanismus des Haarverlustes unter Statinen, gelegentlich bis selten auftretend, ist noch nicht genau bekannt. Interessant sind in diesem Zusammenhang Fallberichte (n ≤ 20) über eine erfolgreiche Behandlung von Patienten mit therapieresistenter Alopecia areata mit einer Kombination aus Simvastatin und Ezetimib. Die Autoren führen diese Therapieerfolge auf die immunmodulatorischen Eigenschaften der Statine zurück. So wird ihnen beispielsweise eine Hemmwirkung auf die Expression des Major Histocompatibility Complex (MHC) II zugeschrieben. Außerdem sollen Statine in der Lage sein, das Lymphozyten-funktionsassoziierte Antigen 1 (Lymphocyte Function-associated Antigen 1) zu blockieren. Dadurch heften sich weniger Lymphozyten an das Zelladhäsionsmolekül ICAM-1 (Intercellular Adhesion Molecule 1) im Haarfollikel an. Diese beiden Prozesse sollen zur Anregung des Haarwachstums bei Patienten mit Alopezie führen können [12]. Auch bei der Anwendung von Retinoiden wie Acitretin und Alitretinoin wird eine Alopezie sehr häufig beobachtet. Dies lässt sich mit einer Hemmwirkung auf die Zellteilungsrate erklären. Darüber hinaus sind Fälle beschrieben, in denen mit diesen Wirkstoffen eine Anregung des Haarwuchses möglich war (z. B. mit Alitretinoin) [13].
Alternative Wirkstoffe finden
Massiver Haarverlust kann bei Patienten zu einem hohen Leidensdruck führen. Bei der Beratung von Patienten im Rahmen der Selbstmedikation kann auf einen Wirkstoff ausgewichen werden, bei dem die Nebenwirkung schwächer ausgeprägt ist (Tab. 1). Die gute Nachricht für Patienten, die verschreibungspflichtige Substanzen über einen begrenzten Zeitraum einnehmen müssen: Nach Therapieende ist der vermehrte Haarausfall in den meisten Fällen reversibel. Bei einer Dauermedikation könnten Betroffene ihren Arzt nach der Möglichkeit eines Wechsels auf einen ähnlichen, besser verträglichen Wirkstoff fragen. |
Quelle
[1] Altmeyers Enzyklopädie Dermatologie A bis Z, www.enzyklopaedie-dermatologie.de/dermatologie/alopecia-medicamentosa-386, Abruf am 8. April 2019
[2] Trüeb RM, Lier D. Hauptsache Haar. Sachbuchverlag Rüffer & Rub, Zürich 2002
[3] Belum VR et al. Alopecia in patients treated with molecularly targeted anticancer therapies. Annals of Oncology 2015;26:2496-2502
[4] Rossi A et al. Chemotherapy-induced alopecia management: clinical experience and practical advice. Cosmet Dermatol 2017;16(4):537-541
[5] Oberhofer E. Kältekappe gegen Haarausfall durch Chemo. Ärzte Zeitung online vom 13 März 2017, www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/krebs/article/931449/chemotherapie-kaeltekappe-schuetz-haarausfall.html, Abruf am 16. April 2019
[6] Jochum F et al. Reversible Alopecia medicamentosa durch ACE-Hemmer. Therapie im Kindesalter. Monatsschr Kinderheilkd 2000;148:235-238
[7] Watras MM et al. Traditional anticoagulants and hair Loss: A role for direct oral anticoagulants? A review of the literature. Drugs - Real World Outcomes 2016;3:1–6, doi: 10.1007/s40801-015-0056-z
[8] www.vigiaccess.org, Abruf am 10. April 2019
[9] Tomita T et al. Dose-dependent valproate-induced alopecia in patients with mental disorders. Indian J Pharmacol 2015;47(6):690-692
[10] Druschky K et al. Severe hair loss associated with psychotropic drugs in psychiatric inpatients-Data from an observational pharmacovigilance program in German-speaking countries. Eur Psychiatry 2018;54:117-123, doi: 10.1016/j.eurpsy.2018.08.003
[11] Etminan M et al. Risk of hair loss with different antidepressants: a comparative retrospective cohort study. Int Clin Psychopharmacol 2018;33(1):44-48
[12] Choi JW et al. Simvastatin/ezetimibe therapy for recalcitrant alopecia areata: An open prospective study of 14 patients. Ann Dermatol 2017;29(6):755-760, doi.org/10.5021/ad.2017.29.6.755
[13] Grenier PO, Veillette H. Treatment of alopecia universalis with oral alitretinoin: A case report. JAAD Case Reports 2017;3:140-214
[14] Haarausfall durch Medikamente. www.haarerkrankungen.de/therapie/haarausfall_aeussereeinfluesse.htm, Abruf am 9. April 2019
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