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Eine gemeinsame Vision für die Pharmazie
Was wir von anderen Ländern lernen können – ein Gastkommentar von Philipp Jüttner
Nehmen wir mal an, Sie wurden als Patient* in die Notaufnahme Ihres örtlichen Klinikums eingeliefert. Irgendwann am Morgen kommt ein Apotheker in Ihr Zimmer, stellt sich kurz vor und bespricht mit Ihnen Gesundheitszustand und Medikation. Zukunftsmusik – denken Sie? Aber warum eigentlich? Denn genau so sah meine morgendliche Routine als Stationsapotheker am Klinikum Kassel aus – und ich hatte jeden Tag alle Hände voll zu tun. In Zeiten zunehmend knapper Budgets war es meine Aufgabe, an einer rationalen und wirksamen Pharmakotherapie mitzuarbeiten. Auch das bedeutet für mich ordnungsgemäße Versorgung. Klinische Pharmazie behandeln wir jedoch in Deutschland größtenteils immer noch stiefmütterlich und betonen vor allem unseren logistischen Auftrag. Diese Einstellung macht es anderen Akteuren im Gesundheitswesen leicht, unsere Existenzberechtigung zunehmend infrage zu stellen. Symptomatisch hierfür war die Entscheidung der AOK Nordost, die Apotheker von ihrem Medikationsmanagement-Modell auszuschließen. Dass es aber auch anders gehen kann, zeigen Beispiele aus dem Ausland:
Kanada: Vieles richtig gemacht
Starten wir zunächst im Norden von Amerika. Die Pharmazeuten haben sich 2005 das sogenannte „Blueprint for Pharmacy“ Strategiepapier verordnet, um anschließend in eine intensive Diskussion mit dem Gesetzgeber zu treten. Seitdem hat sich einiges getan. Apotheker haben in vielen Provinzen Verschreibungsbefugnisse, dürfen Infusionen verabreichen und Labortests in Auftrag geben. Die 2017 erschienene „Hypertension Care Studie“ konnte einen deutlichen klinischen und finanziellen Benefit gegenüber der Standardtherapie zeigen, wenn Pharmazeuten das Blutdruckmanagement übernehmen (Senkung um durchschnittlich 18 mmHg systolisch). Aber auch andere Projekte sind beachtlich, so z. B. das sogenannte „Pharmacist opinion program“ der Provinz Ontario. Hier wird jedes arzneimittelbezogene Problem, welches vom Apotheker gelöst wird, mit 15 Dollar vergütet.
USA: Warten auf den „Provider Status“
Neben den großen Kettenkonzernen und Krankenhäusern kommen Apotheker zunehmend auch in Ambulanzen, Pflegeheimen und Arztpraxen zum Einsatz. Nach dem Studium haben Absolventen die Möglichkeit, eine 24-monatige Weiterbildung zu absolvieren. Mit den Weiterbildungsprogrammen „PGY1“ und „PGY2“ kann man sich in einem Fachgebiet spezialisieren und von erfahrenen Kollegen in Ruhe lernen. Als Apotheker ist man z. B. Teil des Notfall- oder Transplantationsteams. Eigenständige Verschreibungsrechte sind noch nicht flächendeckend implementiert. Es gibt allerdings die Möglichkeit, unter der Supervision eines Arztes bestimmte Patientengruppen weitestgehend selbstständig zu managen („Collaborative practice agreement“). All dies wird aber durch das Warten auf den „Provider Status“ überstrahlt, welcher den Apothekern die Möglichkeit geben soll, ihre klinischen Leistungen mit den Krankenkassen abzurechnen.
Großbritannien: Apotheker in Hausarztpraxen
Die Apotheker in Großbritannien haben seit 2006 die Möglichkeit, Medikamente weitestgehend selbstständig zu verordnen („Independent prescriber“). Viel bedeutsamer ist aber die aktuelle Entwicklung des zunächst testweise implementierten „Pharmacist in General practice program“. Unter diesem sollen bis 2020 ca. 2000 Klinische Pharmazeuten in Hausarztpraxen arbeiten. Das Programm wurde von der Bevölkerung bisher so gut angenommen, dass es auf ganz Großbritannien ausgeweitet und die Finanzierung verlängert werden soll. Klinisch-pharmazeutische Dienstleistungen im Krankenhaus sollen weiter ausgebaut werden und Pharmazeuten verstärkt in den Notaufnahmen zum Einsatz kommen.
Niederlande: Hochzeit zwischen Pharmazie und Klinischer Pharmakologie
Auch die Niederlande sind in Sachen Klinischer Pharmazie weit entwickelt. Das 2011 erschienene Konzeptpapier „Witboek Farmacie“ hat die Ziele des Berufsstandes für die Zukunft definiert und dabei den Patienten in den Mittelpunkt aller Aktivitäten gestellt. Hierbei sollen neben klassischen Tätigkeiten wie Medikationsmanagement neue Gebiete wie die Pharmakogenetik in den Arbeitsalltag Einzug finden. Auch ein Novum ist, dass in den Niederlanden Apotheker und Internisten gemeinsam die einjährige Weiterbildung zum Klinischen Pharmakologen machen und so von- und miteinander lernen. Der „Pharmacist Clinical Pharmacologist“ (PCP) hat keine Verschreibungsrechte, kann aber die Brücke zwischen Grundlagenforschung und Klinik bilden.
Australien und Neuseeland:Vieles in Bewegung
Während spezialisierte Pharmazeuten in Neuseeland Medikamente verschreiben dürfen und bereits in Hausarztpraxen arbeiten, dauert die Diskussion in Australien über die zukünftige Ausrichtung an: Die Pharmazeutische Gesellschaft sowie der Dachverband der öffentlichen Apotheken favorisieren unterschiedliche Kompetenz- und Entlohnungsmodelle. Die Ärzteschaft wiederum will Pharmazeuten in ihren Praxen direkt beschäftigen und fordert dies aktiv gegenüber der Politik ein.
China und Saudi Arabien – staatlich verordnete Klinische Pharmazie
Während es in den bisher genannten Ländern die Pharmazeuten selbst sind, welche die Modernisierung ihres Berufsstandes vorantreiben, wird in China und Saudi Arabien die Einführung der Klinischen Pharmazie staatlich über Bedarfsplanung und Gesetzgebung gesteuert. In China soll jedes Krankenhaus bis 2020 mindestens drei Klinische Pharmazeuten beschäftigen. Eine ähnliche Entwicklung kann mit dem „Saudi Arabia Vision 2030“-Plan beobachtet werden. Die Klinische Pharmazie und die Rolle von Apothekern für das Gesundheitssystem wird hier als zunehmend essenziell angesehen, auch wenn beide Länder aus Mangel an Fachkräften ihren Bedarf aktuell noch nicht decken können.
Malaysia: Pharmazeutische Expertise in schwierigem Umfeld
Obwohl man bei diesem Land nicht zuerst an Klinische Pharmazie denken würde, können wir einiges von unseren asiatischen Kollegen lernen. Am interessantesten sind die 2004 staatlich eingeführten und von Pharmazeuten geleiteten Ambulanzen („MTAC“) zur Förderung der Adhärenz einer verschriebenen Pharmakotherapie. Diese gibt es z. B. für Diabetes- und Psoriasis-Patienten. 2013 gab es 660 solcher Einrichtungen in Malaysia, Tendenz steigend (zum Vergleich: in Deutschland gibt es nichtmal so viele Krankenhausapotheken). Dabei hat es der Berufsstand hier alles andere als einfach, denn auch Ärzte dürfen dispensieren und Apotheken entsprechen nicht dem europäischen Standard.
Die Lehren aus dem AOK-Nordost-Modell
Diese Beispiele zeigen: Unsere Berufspraxis ist im Wandel. Es ist wenig erfolgsvorsprechend, die Augen hiervor zu verschließen. Veränderungen waren in den oben genannten Ländern meist ein gemeinsamer Kraftakt des gesamten Berufsstandes, aber unser eigenes Zukunftspapier klammert Apotheker aus Industrie und Krankenhaus weitestgehend aus. Es braucht aber Selbstbewusstsein und eine kohärente gemeinsame Strategie. Wir sind in Deutschland in der komfortablen Situation, von anderen Ländern lernen zu können und unser eigenes Modell zu entwickeln. Dieses sollte Apotheker aus Industrie, Krankenhaus und den Öffentlichen Apotheken einschließen. Ein Verhalten wie jenes der AOK Nordost gegenüber den Kollegen in diesen Bundesländern entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Evidenz und gefährdet das Recht unserer Patienten auf klinisch-pharmazeutische Dienstleistungen.
Der ausbleibende Protest der Apothekerschaft gegen diese gefährliche Praxis hat mich verwundert. Bei jeder Gelegenheit wird sonst der Versorgungsauftrag betont. Logistische und klinisch-pharmazeutische Leistungen gehören meiner Meinung nach aber untrennbar zusammen. Der Apotheker hat daran mitzuwirken, die gesamte Medikation eines Patienten in ein stimmiges Gesamtkonzept zu bringen. Dafür ist er ausgebildet und dafür hat er angemessen vergütet zu werden. Alles andere unterminiert unseren gesetzlich festgelegten Versorgungsauftrag. Schweigen und Nichtstun darf hier zukünftig keine Option mehr sein. |
Literatur
[2] Marra C et al. Canadian Pharmacists Journal / Revue Des Pharmaciens Du Canada 2017;150(3):184–197
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[5] https://www.aphafoundation.org/collaborative-practice-agreements
[6] http://www.pharmacistsprovidecare.com
[7] https://www.pharmacyregulation.org/education/pharmacist-independent-prescriber
[8] https://www.england.nhs.uk/2019/01/clinical-pharmacists-vital-to-patient-care-in-five-year-gp-deal/
[9] https://www.england.nhs.uk/gp/gpfv/workforce/building-the-general-practice-workforce/cp-gp
[10] Clinical Pharmacists in General Practice: Pilot scheme Independent Evaluation Report: Full Report June 2018
[11] Review of Operational Productivity in NHS providers; Interim Report June 2015
[12] https://kdb.axonconnect.nl/uploaded/knmp_witboek_farmacie_januari_2011.pdf
[13] Schellens JHM et al. Br. J. Clin. Pharmacol. 2008; 66(1):146-147
[15] https://www.guild.org.au/news-events/news/forefront/v08n06/moving-pharmacy-forward
[16] https://ajp.com.au/news/non-dispensing-pharmacists-to-be-key-part-of-gp-team-ama/
[17] Alrasheedy AA, Hassali MA. Res. Social Adm. Pharm. 2017;13(4):885-886
[18] Penm J, Moles R. Factors Affecting the Implementation of Clinical Pharmacy Services in China, Qualitative Health Research, 2014
[19] Yao D et al. PLoS ONE 2017;12(11):e0188354
[20] Ruthia Al et al. Human Resources 2018;16:28
*Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden lediglich die männliche Form verwendet. Selbstverständlich sind jedoch alle Geschlechter angesprochen.
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