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Arzneimittel und Therapie
Es ist der Zucker, nicht das Fett!
„Fett macht fett“ stimmt schon lange nicht mehr
Obwohl es bereits in den 1960er-Jahren deutliche Hinweise darauf gab, dass nicht das Fett, sondern Zucker der entscheidende Risikofaktor für das metabolische Syndrom ist, wurden in den vergangenen 50 Jahren weltweit Fettreduktionsansätze als Basis der Prävention von koronarer Herzkrankheit, Adipositas und anderen ernährungs(mit)bedingten Erkrankungen postuliert. Schon länger gab es Hinweise darauf, dass es bei dieser „Fettverteufelung“ nicht mit rechten Dingen zuging. 2016 konnte Cristin Kearns in einer viel diskutierten Analyse zeigen, wie die Zuckerindustrie in den 1960er- und 1970er-Jahren durch massive finanzielle Einflüsse dafür gesorgt hat, die Forschungen zu schädlichen Zuckereffekten zu verhindern und stattdessen die Fette als nutritive Hauptursache z. B. der koronaren Herzkrankheit darzustellen, und zwar sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in öffentlichen Kampagnen [1]. Obwohl das nach einer zweifelhaften Verschwörungstheorie klingt, ist diese Art der Einflussnahme bis heute auch in Deutschland Realität [2]: Seit 1960 ist der Zuckerkonsum um mehr als 30% angestiegen, die ernährungs(mit)bedingten Erkrankungen erreichen epidemische Ausmaße, und der politische Einfluss der Zuckerlobby beim Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft verhindert wirksame Präventionsmaßnahmen trotz eindringlicher Appelle der WHO [3] und eindeutiger wissenschaftlicher Evidenz bis heute nahezu vollständig [4, 5]. Bringen nun das Update der 10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und die Ergebnisse der PURE-Studie endlich den „Freispruch für das Fett“?
DGE-Regeln: Milch muss nicht fettarm sein
In den überarbeiteten zehn Regeln der DGE wurden die Warnungen vor Fett als Risikofaktor für Übergewicht und vor gesättigten Fettsäuren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ebenso gestrichen wie der Hinweis, die Fettzufuhr auf 60 bis 80 Gramm pro Tag zu begrenzen. Diese Überarbeitung geht im Übrigen nicht auf einen intrinsisch motivierten Erkenntnisprozess der DGE zurück, sondern wurde im Frühjahr 2016 erst durch eine Petition zweier Ernährungsfachkräfte angestoßen und durch den so erzeugten öffentlichen Druck vorangetrieben. Diese Anpassung der 10 Regeln ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung, der die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten zehn Jahre im Nachgang in die offiziellen Empfehlungen integriert.
Nicht angepasst wurde die bisherige DGE-Empfehlung einer Nährstoffrelation von 30 bis 35% Fett und > 50% Kohlenhydraten an der Gesamtenergiezufuhr. Darüber kann man streiten, denn vermutlich läge der „optimale“ Fettanteil bei mindestens 35% – wenn es so ein Optimum denn überhaupt gäbe. Insofern hat die DGE vollkommen Recht, wenn sie in diesem Kontext darauf verweist, dass der alleinige Fokus auf der Nährstoff-Relation nicht zielführend ist – wichtiger sei vielmehr der Stellenwert der Nährstoff-Qualität. Ein Fettanteil von über 35% ist sicherlich nicht vorteilhaft, wenn es sich dabei um die „falschen“ Fette handelt. Optimal wäre daher die Kombination eines erhöhten Fettanteils von 35 bis 40%, der dann auch noch aus guter Fettqualität bestehen sollte.
Neue DGE-Regeln
1. Lebensmittelvielfalt genießen
2. Gemüse und Obst – nimm „5 am Tag“
3. Vollkorn wählen
4. Mit tierischen Lebensmitteln die Auswahl ergänzen
5. Gesundheitsfördernde Fette nutzen
6. Zucker und Salz einsparen
7. Am besten Wasser trinken
8. Schonend zubereiten
9. Achtsam essen und genießen
10. Auf das Gewicht achten und in Bewegung bleiben
[Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V., Bonn, Stand: September 2017]
PURE-Studie: Fokus nur auf Quantität
Doch auch die PURE-Studie legt den Fokus nur auf die Makronährstoff-Relation, ohne deren Qualität angemessen zu berücksichtigen. So konstatieren die Studienautoren, ein höherer Fettanteil in der Nahrung könne die Mortalität senken, und zwar unabhängig von der Fett-Qualität. Diese pauschale Schlussfolgerung erlauben die Studiendaten keineswegs.
Wie ist die Ausgangslage? Die allgemeinen Ernährungsempfehlungen (auch der DGE) raten zu einem Anteil an der Gesamtenergiezufuhr von 30 bis 35% durch Fette (davon maximal 10% gesättigte Fettsäuren), 15% Protein und 50 bis 55% Kohlenhydrate. Dazu kommt die genannte Bedeutung der Makronährstoff-Qualität, so in Form des Fettsäuremusters (bei Fetten), der Aminosäurezusammensetzung (bei Proteinen), der Art der Zucker (bei Kohlenhydraten) sowie der Mikronährstoffdichte und -mengen insgesamt. Diese Aspekte wurden in der PURE-Studie leider ebenso wenig erfasst wie die unterschiedliche Energiezufuhr der einzelnen Studiengruppen. All dies schränkt die Aussagekraft der Studienergebnisse erheblich ein.
Steckbrief: PURE-Studie
Was? Prospective Urban Rural Epidemiology (PURE)-Studie, Beobachtungsstudie
Warum? Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Aufnahme von Kohlenhydraten und Fett und dem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und Mortalität
Wann? Januar 2003 bis März 2013
Wer? 135.335 Probanden zwischen 35 und 70 Jahren aus 18 Ländern von fünf Kontinenten
Wie? Ernährungsverhalten mithilfe von Fragebögen dokumentiert, Nachbeobachtung über im Median 7,4 Jahre, primärer Endpunkt: Gesamtmortalität und größere kardiovaskuläre Ereignisse (tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen, nichttödlicher Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz), Teilnehmer abhängig von Nährstoffzufuhr (Zucker, Fett und Protein in %) in Quintile eingeteilt
Ergebnisse:
- hoher Kohlenhydrat-Anteil in der Nahrung von > 60% mit einer höheren Sterblichkeit verbunden, aber nicht mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen
- Fettanteil von 35% (egal ob gesättigt oder ungesättigt) mit einem um 23% geringeren Mortalitätsrisiko assoziiert im Vergleich zu Fettanteil von 11%
- niedrigstes Mortalitätsrisiko bei Aufnahme von drei bis vier Portionen Obst, Gemüse oder Hülsenfrüchte pro Tag (entspricht etwa 375 bis 500 g)
[Dehghan et al. Associations of fats and carbohydrate intake with cardiovascular disease and mortality in 18 countries from five continents (PURE): a prospective cohort study. Lancet 2017, published online 29. August; http://dx.doi.org/10.1016/ S0140-6736(17)32252-3]
Problem weltweiter Vergleich
Daneben gibt es weitere methodische Probleme: In der PURE-Studie wurden Daten aus 18 Ländern ausgewertet, von denen jedoch nur Kanada, Schweden und Polen eine ähnliche (ernährungs)medizinische Ausgangslage bieten wie Deutschland; bei den übrigen 15 Ländern handelte es sich um Schwellen- und Entwicklungsländer.
Die Autoren der PURE-Studie stellen fest, dass jene Menschen, die 34 bis 37% der Gesamtenergiezufuhr in Form von Fett aufnehmen (oberste Quintile), ein um 23% geringeres Mortalitätsrisiko haben als jene Menschen, bei denen Fett nur 9 bis 17% der Gesamtenergiezufuhr ausmacht (unterste Quintile). Dabei ist kritisch anzumerken, dass dieser Unterschied nur signifikant ist, wenn die Mortalität der untersten Quintile als Referenz genommen wird. Vergleicht man dagegen die Mortalität der Menschen mit mäßigem Fett-Konsum (11 bis 30%) mit jener der obersten Quintile (> 35%), so ist der Unterschied nicht mehr signifikant. Damit zeigen die Ergebnisse also nicht, dass ein besonders hoher Fettanteil mit reduzierter Mortalität assoziiert ist, sondern dass umgekehrt ein besonders niedriger Fettanteil mit erhöhter Mortalität assoziiert ist. Das ist ein entscheidender Unterschied.
Daneben darf man auch hier nicht den Fehler machen und Korrelationen mit Kausalitäten verwechseln – insofern ist es ohnehin nicht legitim, auf Grundlage dieser Ergebnisse einen gesundheitlichen Vorteil durch einen erhöhten Fettanteil in der Ernährung zu postulieren.
Wie tragen Kohlenhydrate zur Mortalitätserhöhung bei?
Was könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Ergebnisse einen Zusammenhang von sehr hohem Kohlenhydrat-Anteil (> 70%) und erhöhter Mortalität zeigen? Dazu muss berücksichtigt werden, dass der größte Teil der Daten aus Schwellen- und Entwicklungsländern stammt, wo kohlenhydratreiche Lebensmittel wie Reis, Mais oder Cassava billig und sättigend sind, daneben aber eine geringe Mikronährstoffdichte aufweisen. Eine sehr kohlenhydratlastige Ernährung kann damit zwar den Energie-, nicht jedoch den Nährstoffbedarf decken, was sich bekanntermaßen direkt auf Morbidität und Mortalität auswirkt.
Ein weiterer Punkt, der die Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf europäische Verhältnisse nahezu unmöglich macht, ist die fehlende Berücksichtigung der Lebenserwartung in den jeweiligen Regionen, die die Daten geliefert haben: In den Entwicklungs- und Schwellenländern, wo die Kohlenhydrate einen sehr hohen Anteil an der Ernährung haben, ist die Lebenserwartung deutlich geringer als bei uns. Die Ursachen dafür sind jedoch gewiss nicht monokausal im hohen Kohlenhydrat-Anteil der Ernährung zu finden, sondern sicherlich auch in Faktoren wie Trinkwasserqualität, medizinischer Versorgung und Prävalenz von Infektionserkrankungen. Es wäre offensichtlich Unsinn zu postulieren, dass die unterschiedliche Lebenserwartung in Schweden (UN-Entwicklungsindex: Platz 14) und in Simbabwe (UN-Entwicklungsindex: Platz 155) allein auf die höhere Kohlenhydrat-Quote in Simbabwe zurückzuführen ist.
Studienergebnisse verzerrt
Dies verzerrt die Studienergebnisse erheblich. In Entwicklungs- und Schwellenländern ist eine hohe Kohlenhydrat-Zufuhr ein Indikator für Armut und Mangelernährung, da tierische Lebensmittel sowie Obst und Gemüse teurer sind [6]. In den reichen Ländern des Westens dagegen basiert ein hoher Kohlenhydratverzehr nicht überwiegend auf stärkehaltigen Grundnahrungsmitteln, sondern meist auf einem erhöhten Konsum stark verarbeiteter Lebensmittel mit einem hohen Anteil an zugesetzten Einfachzuckern – diese Ernährungsweise ist aus ganz anderen Gründen gesundheitsbedenklich.
Fazit
Der alleinige Fokus auf die Quantität von Makronährstoffen in der Ernährung ist in keiner Weise aussagekräftig, wenn nicht auch die Qualität der Lebensmittel einschließlich der Mikronährstoffdichte berücksichtigt wird. Eine fettreiche, kohlenhydratarme Ernährung kann ebenso mangelhaft und gesundheitsschädlich sein wie eine fettarme, kohlenhydratreiche Ernährung. Unstrittig ist jedoch, dass ein besonders hoher Kohlenhydrat-Anteil sowohl in Entwicklungsländern als auch bei uns gesundheitlich ungünstig ist – wenn auch aus jeweils anderen Gründen. Die sinnvolle Ernährungsempfehlung in der Primärprävention kann daher nur dahin gehen, die Makronährstoffrelationen grob einzuhalten und dabei besonders auf die Qualität der verwendeten Makronährstoffe zu achten. In der Vergangenheit ist ein erhöhter Fettanteil völlig zu Unrecht als gefährlich verteufelt worden – nun muss man aufpassen, dass sich dieses Extrem nicht auch bei den Kohlenhydraten wiederholt. |
Literatur
[1] Kearns CE, Schmidt LA, Glantz SA. Sugar Industry and Coronary Heart Disease Research: A Historical Analysis of Internal Industry Documents. JAMA Intern Med 2016; 176(11): 1680 – 1685.
[2] Nestle M. Corporate funding of food and nutrition research: science or marketing? JAMA Intern Med 2016; 176(1): 13 – 14.
[3] WHO: Fiscal Policies for Diet and Prevention of Noncommunicable Diseases. Technical Meeting Report 5-6. Mai 2015; http://www.a-turl.de/?k=dern
[4] Cobiac LJ, Tam K, Veerman L, Blakely T. Taxes and Subsidies for Improving Diet and Population Health in Australia: A Cost-Effectiveness Modelling Study. PLoS Med 2017; 14(2): e1002232
[6] Miller V et al. Availability, affordability, and consumption of fruits and vegetables in 18 countries across income levels: findings from the prospective urban rural epidemiology (PURE) study. The Lancet 2016 e695 – e703
1 Kommentar
Zuckerkonsum
von Reinhild Berger am 25.10.2017 um 15:37 Uhr
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