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Öffnet oder schließt sich die Schere?
Einkommensungleichheit unter der Lupe
Anfang September lieferten die Medien vermeintlich positive Schlagzeilen: „Niedrige Einkommen steigen am stärksten“, titelte zum Beispiel ZEIT online. Während von 2009 bis 2013 die realen Bruttoeinkommen von Vollzeitbeschäftigen im untersten Zehntel um 6,6 Prozent gewachsen seien, seien es bei den zehn Prozent am oberen Ende der Einkommensskala „nur“ 2,8 Prozent gewesen, so die Analyse des Kölner IW. (Aber: Wer möchte nicht lieber mit 2,8 Prozent Zuwachs von einer Million Euro per annum vorliebnehmen als mit 6,6 Prozent von zum Beispiel 12.000 Euro?)
ZEIT online zitierte dazu IW-Chef Michael Hüther mit der Aussage, die stabile bis leicht sinkende Einkommensungleichheit der letzten Jahre sei ein in der Forschung weitgehend anerkannter Befund. „Die Nettoeinkommen der Gesamtbevölkerung – also die Summe aller Erwerbs- und Kapitaleinkommen nach staatlichen Abgaben und zuzüglich Renten und Sozialtransfers – sind nahezu so gleich bzw. ungleich verteilt wie 2005“, heißt es in der entsprechenden Pressemeldung des IW.
Doch nicht jeder Ökonom ist offenbar der gleichen Ansicht wie Hüther. Anfang 2016 veröffentlichte Prof. Marcel Fratzscher, immerhin Präsident eines der größten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute, ein Buch mit dem Titel „Verteilungskampf – Warum Deutschland immer ungleicher wird“. Hier ist der betrachtete Zeitraum aber auch deutlich länger: Er reicht von 1990 bis 2014. Ansonsten nutzen beide Institute laut Handelsblatt die gleiche Datenbasis für ihre fast gegenteiligen Aussagen.
Übrigens belegen auch Zahlen der Bundesbank: Das Vermögen der reichsten zehn Prozent in Deutschland ist seit 2010 noch einmal um 0,6 Prozentpunkte auf 59,8 Prozent gestiegen. Von einer Abnahme an Ungleichheit kann zumindest bei der Vermögensverteilung daher nicht die Rede sein.
Der NWI: mehr als das BIP
Noch einmal anders ist der Blickwinkel, den die Forscher des Instituts für Interdisziplinäre Forschung (FEST) in Heidelberg und des Forschungszentrums für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin bei der Erstellung des „Nationalen Wohlstandsindex 2016“ hatten. Im Auftrag des gewerkschaftsnahen IMK analysierten sie die Wohlstandsentwicklung in der Zeit von 1991 bis 2014. Dabei haben sie – anstelle des gängigen Bruttoinlandsproduktes (BIP) – für den Nationalen Wohlstandsindex (NWI) diverse andere Parameter berücksichtigt:
- auf der Habenseite u. a. den privaten Konsum, den Wert von Hausarbeit und auch von ehrenamtlicher Arbeit (!), öffentliche Ausgaben für das Gesundheits- und Bildungswesen,
- auf der Kostenseite Ausgaben für Verkehrsunfälle und Kriminalität, die Beseitigung von Umweltbelastungen sowie die Kosten von Luftverschmutzung, Lärmbelastung und Treibhausgasen u. a.
Beim privaten Konsum fließt im NWI auch der Grad der Einkommensungleichheit ein: Je niedriger dieser ist, desto positiver fällt die Gewichtung aus!
Im Beobachtungszeitraum hat das NWI-Forscherteam um Hans Diefenbacher drei Phasen unterschieden:
1991 – 1999: BIP wie auch NWI steigen jährlich um ca. 1,5 Prozent. Der private Konsum nimmt bei gleichbleibendem Niveau der Einkommensungleichheit zu. Technischer Fortschritt, aber auch der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie führen zum Sinken der Kosten durch Umweltverschmutzung.
1999 – 2005: Das BIP wächst jährlich nur noch um etwa ein Prozent, der NWI sinkt sogar um rund 1,5 Prozent pro Jahr. Stagnierende Löhne und hohe Arbeitslosigkeit machen sich in den Krisenjahren nach dem Platzen der Internet-Blase durch einen starken Anstieg der Ungleichheit und damit schwächere Werte des privaten Konsums bemerkbar.
2005 – 2014: Das BIP wächst mit durchschnittlich 1,4 Prozent wieder rascher. Der NWI befindet sich in einer Phase der Stagnation. Für das Jahr 2014 deuten sich aber Wohlstandswerte an, die über denen des BIP liegen dürften.
Warum schadet Ungleichheit der Wohlfahrt?
In ihrer Untersuchung begründen Diefenbacher und Kollegen, warum sie im NWI den privaten Konsum „gewichtet“ haben einfließen lassen: Nach dem Prinzip des abnehmenden Grenznutzens bedeute ein Einkommenszuwachs von 100 Euro für einen „armen“ Haushalt deutlich mehr Wohlfahrt als für einen „reichen“ Haushalt.
Spielt die gefühlte Ungleichheit eine Rolle?
Fakt ist jedenfalls, dass inzwischen große Teile der Gesellschaft den Eindruck einer gewaltigen Ungleichheit haben. Bei dieser nicht nur gefühlt, sondern auch messbar großen Ungleichheit ist es fast egal, ob sie leicht sinkt, stagniert oder leicht steigt.
Dazu ADEXAs Erste Vorsitzende Barbara Stücken-Neusetzer: „Erst wenn die unteren Einkommensschichten noch deutlich stärker profitieren, die mittleren Einkommen nicht mehr absinken und die Unsitte überzogener Spitzengehälter – gerade auch bei wirtschaftlichen Misserfolgen – gestoppt wird, kann sich in der deutschen Gesellschaft wieder ein Gefühl eines fairen und solidarischen Miteinanders einstellen. Dies dürfte auch ein probates Mittel gegen die augenblicklichen Erfolge der Rechtspopulisten in unserem Lande sein.“ |
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