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- DAZ 21/2016
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Arzneimittel und Therapie
Versteckte Polypharmazie
OTC-Präparate und Nahrungsergänzungsmittel hinzurechnen
Den meisten in der Arztpraxis erstellten Medikationsplänen fehlt eine bedeutende Gruppe: die Gruppe der selbst erworbenen Präparate, wie nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel (OTC-Produkte), Nahrungsergänzungsmittel und Präparate der Komplementärmedizin. Ihr Gebrauch ist in der Bevölkerung weit verbreitet, aber Patienten verschweigen die Nutzung. Dafür gibt es viele Gründe, wie eine amerikanische Studie aufdeckte. Etwa ein Drittel der befragten 34.525 Personen gab an, alternative oder komplementäre Ansätze zu nutzen. Jedoch berichteten 42,3% ihrem Arzt darüber nicht.
Weshalb wird geschwiegen?
Der häufigste Grund für das Verschweigen ist, dass Patienten von ihrem Arzt schlichtweg nicht danach gefragt werden, ob sie „sonstige Arzneimittel“ einnehmen oder alternative Heilmethoden anwenden (57,0%). Fast jeder Zweite hält es darüber hinaus für nicht erforderlich, die selbst erworbenen Präparate und Anwendungen dem Arzt gegenüber zu erwähnen (46,2%). Nur 2,0% der Patienten geben an, durch eine in der Vergangenheit erlebte ablehnende oder missbilligende Haltung des Arztes in puncto alternativer Heilmethoden und Präparate entmutigt worden zu sein, hierüber Auskunft zu geben. Es erstaunt, dass dies der am seltensten genannte Grund für das Verschweigen ist. Positiv hervorzuheben ist, dass immerhin drei Viertel der Patienten die Einnahme von pflanzlichen Präparaten oder Nahrungsergänzungsmitteln angaben, nur die Hälfte der Patienten klärte hingegen darüber auf, homöopathische Arzneimittel anzuwenden. Die Autoren der Studie raten Ärzten daher, aktiv den Gebrauch alternativer Heilmethoden und die Einnahme entsprechender Präparate zu erfragen, um ein vollständiges Bild des Medikationsregimes zu erhalten. Aber nicht nur Ärzte müssen mehr Initiative zeigen, es liegt vor allem im eigenen Interesse der Patienten, über alle eingenommenen Präparate zu informieren.
Priorisierung problematisch
Gerade ältere Patienten erweitern ihren „Medikationsschatz“ um rezeptfreie Produkte und Nahrungsergänzungsmittel, obschon sie meist bereits eine stattliche Anzahl an verschreibungspflichtigen Arzneimitteln einnehmen. Dies kann in vielen Fällen dazu führen, dass der Patient die Schwelle zur Polypharmazie überschreitet, nach der gebräuchlichsten Definition also fünf und mehr Arzneimittel einnimmt. Es wird dann zu einem Problem, wenn sich Wechselwirkungen ergeben, die zum Teil unentdeckt bleiben, da kein Heilberufler über die Einnahme informiert ist. Äußerst kritisch ist auch, wenn der Patient aufgrund der Fülle an verschriebenen und selbst gewählten Präparaten eine „Priorisierung“ seiner Medikation vornimmt, d. h. selbst entscheidet, welche Präparate für ihn am wichtigsten sind. Patienten neigen in dem Fall dazu, solche Arzneimittel wegzulassen, die z. B. zur Prophylaxe eingesetzt werden, deren unmittelbarer Nutzen dem Patienten nicht augenscheinlich ist.
Veränderungen im Medikationsgebrauch
In einer amerikanischen Studie wurde untersucht, wie sich die Einnahmemuster von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, OTC-Präparaten und Nahrungsergänzungsmitteln bei älteren Patienten in den letzten Jahren verändert haben. Wissenschaftler führten in den Jahren 2005/2006 und erneut in den Jahren 2010/2011 Interviews zum Medikationsgebrauch durch. Damit es nicht zu einer Diskrepanz von Aussage und Wirklichkeit kam, wurden die Interviews im häuslichen Umfeld der Patienten durchgeführt, die Medikationsschränke vor Ort inspiziert und die tatsächlich und regelmäßig eingenommenen Arzneimittel dokumentiert. Im ersten Untersuchungsabschnitt nahmen 2351 Personen an der Befragung teil, im zweiten Abschnitt waren es 2206 Personen (durchschnittliches Alter 70,9 Jahre bzw. 71,4 Jahre). 1555 Befragte nahmen an beiden Befragungen teil. Der gleichzeitige Gebrauch von mindestens fünf verschreibungspflichtigen Arzneimitteln stieg von 30,6% in den Jahren 2005/2006 auf 35,8% in den Jahren 2010/2011 (p = 0,02). Bezieht man in diese Untersuchung nicht nur die verschreibungspflichtigen Arzneimittel ein, sondern auch die rezeptfreien und die Nahrungsergänzungsmittel, stieg der Anteil der Polypharmazie signifikant von 53,4% auf 67,1% (p < 0,001). Dieser Anstieg ist besonders darauf zurückzuführen, dass die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln von 51,8% auf 63,7% stieg, während es bei den rezeptfreien Arzneimitteln im Untersuchungszeitraum zu einer Abnahme von 44,4% auf 37,9% kam (p < 0,001 bei beiden Untersuchungen). Eine Kernaussauge der Studie ist, dass zwei Drittel der befragten älteren Patienten von Polypharmazie betroffen sind, wenn auch OTC-Präparate und Nahrungsergänzungsmittel einbezogen werden, im Vergleich zu einem Drittel, wenn nur verschreibungspflichtige Arzneimittel gezählt werden.
Mehr Interaktionen
Zur Abschätzung des Risikos potenzieller Arzneimittelinteraktionen wurde die Software Micromedex® verwendet. Die Autoren werteten aus, welche schwerwiegenden Wechselwirkungen aus der Kombination der 20 in ihrer Studie am häufigsten eingesetzten verschreibungspflichtigen und rezeptfreien Arzneimittel und den 20 am häufigsten eingesetzten Nahrungsergänzungsmitteln resultieren könnten. Es wurden so 93 Interaktionspaare identifiziert, wovon 15 als lebensbedrohlich eingestuft wurden. Anschließend wurde untersucht, welche Patienten diese Kombinationen aufwiesen. Während in den Jahren 2005/2006 8,4% der Patienten von schwerwiegenden Arzneimittelinteraktionen betroffen waren, verdoppelte sich dieser Anteil nach fünf Jahren auf 15,1%. Zu den potenziellen Interaktionen zählen beispielsweise die Kombinationen aus Amlodipin und Simvastatin (signifikanter Anstieg von 1,0% auf 3,9%) sowie die Kombination aus Warfarin und Omega-3-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln (signifikanter Anstieg von 0,1% auf 0,8%).
Der lebendige Medikationsplan
In einem begleitenden Kommentar zu den beiden Studien beklagt der Geriater Michael A. Steinman, dass das Vorliegen von Polypharmazie stark unterschätzt wird und die vielen Quellen, die hierzu beitragen, beachtet werden müssen. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen unnötige, ineffektive oder schädliche Polypharmazie. Mit steigender Medikationszahl, z. B. aufgrund von Eigenerwerb, erhöht sich die Menge der potenziell inadäquaten und unnötigen Arzneimittel, die Nebenwirkungshäufigkeit, die Gefahr von Interaktionen sowie die selbst zu tragenden Kosten, während die Adhärenz sinkt. Er fordert daher, in einem kontinuierlichen und multidisziplinären Teamansatz (Ärzte, Apotheker, Pflegekräfte und andere Angehörige des Gesundheitswesens) die Medikation zu erfassen und auf ihren Nutzen und ihre unerwünschten Wirkungen zu prüfen. Entscheidend ist die Beteiligung und Bereitschaft des Patienten, zu einem „lebendigen“ Medikationsplan unter Einschluss all seiner Medikamente beizutragen. Dieser sollte nicht nur Angaben zum Namen und der Dosierung des Medikaments enthalten, sondern auch die Indikation, Kardinalsymptome der Erkrankung und woran die Wirkung und Nebenwirkungen bemessen werden können. Nur wenn der Medikationsplan aktuell und vollständig ist, kann er zur Orientierung für den Patienten und die Angehörigen des Gesundheitswesens dienen. |
Literatur
Jou J, et al. Nondisclosure of Complementary and Alternative Medicine Use to Primary Care Physicians: Findings From the 2012 National Health Interview Survey. JAMA Intern Med 2016;176(4):545-546
Quato D.M. et al. Changes in Prescription and Over-the-Counter Medication and Dietary Supplement Use Among Older Adults in the United States, 2005 vs 2011. JAMA Intern Med 2016;176(4):473-82
Steinman MA. LESS IS MORE. Polypharmacy—Time to Get Beyond Numbers. JAMA Intern Med 2016;176(4):482-483
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