Feuilleton

Phyto- und Umwelthormone

Begriffe, die meistens falsch verwendet werden*

Xenobiotika, Schadstoffe, Gefahrstoffe, Gifte, Phytohormone und Umwelthormone – diese Begriffe begegnen uns heute in allen Medien, wenn es um Umweltverschmutzung und unsere Gesundheit geht. Dazu sind einige kritische Bemerkungen angebracht.

* Herrn Prof. Dr. Gerd Folkers, der als Leiter des Collegium Helveticum zwischen Natur- und Geisteswissenschaften weit über den pharmazeutischen Tellerrand hinausblickt, in freundlicher Verbundenheit zum 60. Geburtstag gewidmet.


Xenobiotika (Singular Xenobiotikum, von griech. xenos = fremd und bios = Leben) sind Stoffe, die den Lebewesen wie Menschen, Tieren und Pflanzen im wörtlich genommenen Sinne fremd sind, weshalb sie synonym auch als Fremdstoffe bezeichnet werden können. Es handelt sich sowohl um anthropogene Stoffe als auch um Stoffe aus belebter und unbelebter Natur, die nicht im Lebewesen selbst entstehen und nicht essenziell sind für dessen Gedeihen und Bestehen.

Obwohl die meisten Schadstoffe definitionsgemäß zu den Xenobiotika zu rechnen sind, wäre es falsch, beide Begriffe in die gleiche verbale Schublade zu stecken. Nicht jedes Xenobiotikum ist ein Schadstoff und nicht jeder Schadstoff ein Xenobiotikum. Das gilt gleichermaßen für anthropogene und für natürliche Stoffe. Nehmen wir als Beispiele das von Menschenhand geschaffene Celluloid oder den Kunststoff, aus dem die leichten, angenehmen und photochromen Brillengläser gefertigt sind. Beide Stoffe sind Xenobiotika, aber keine Schadstoffe.

Denken wir bei den Naturstoffen an die Fructose, den Walrat oder die Cellulose. Es sind Xenobiotika, die für den Menschen weder essenziell noch schädlich sind (von Ausnahmen abgesehen).

Zu den natürlichen Xenobiotika gehören auch die Metalle und der Asbest. Sie können, wenn sie seit der Erschaffung der Erde an ihrem Entstehungsort verbleiben, als neutrale Fremdstoffe betrachtet werden. Erst durch die anthropogene Nutzung und Verteilung werden sie zu Schadstoffen und Giften.

Das Prinzip "vom Fremdstoff durch Nutzung zum Schadstoff" gilt sogar für radioaktive Elemente.

Ein bemerkenswertes Beispiel für die Feststellung, dass nicht jeder Schadstoff ein Xenobiotikum sein muss, ist das Kohlendioxid. Es wird vom Menschen und den Wirbeltieren selbst als Stoffwechselprodukt gebildet und kann demnach kein Fremdstoff für sie sein. Wo es aber in Mofetten aus der Erde strömt und sich am Boden anreichert (z. B. Dunsthöhle in Bad Pyrmont, Hundsgrotte bei Neapel), kann es tödlich sein. Als Treibhausgas ist es auch indirekt ein lebensbedrohlicher Schadstoff ersten Ranges.

Als Schadstoffe werden in der Umgangssprache Stoffe benannt, die in der Umwelt existieren und sich schädlich auf Menschen, Tiere, Pflanzen oder ganze Ökosysteme auswirken. Schadstoffe können natürlichen Ursprungs (z. B. Methan) oder (künstlich) vom Menschen geschaffen sein (z. B. Pestizide).

Gefahrstoffe sind im Sinne der Gesetze Substanzen, die aufgrund ihrer stofflichen Eigenschaften ein chemisches Gefährdungspotenzial besitzen. Dazu gehören chemische Elemente (z. B. Chlor, Arsen, Schwermetalle), Verbindungen (z. B. Schwefelsäure, Formaldehyd, Dioxin) und deren Stoffgemische oder Zubereitungen (z. B. Schießpulver, Trockenspiritus, Amalgame).

Gifte sind Stoffe, die eine schädliche Wirkung auf Lebewesen ausüben. Jedes Gift ist auch als Schadstoff zu bezeichnen, aber nicht jeder Schadstoff ist auch ein Gift.

Doch wie schon Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, erkannt und formuliert hat, macht allein die Dosis, dass ein Ding kein Gift sei.

Als eindrucksvolle Exempel belegen einige Spurenelemente dieses Axiom. Unter den giftigen Schwermetallen sind u. a. Mangan, Molybdän, Kobalt, Nickel und Chrom in Mikro- bis Milligramm-Mengen essenziell für das menschliche Leben. In diesen Mengen sind sie demnach keine Gifte!

Bevor wir den Begriff "Phytohormone" diskutieren, müssen wir den Begriff "Hormone" definieren: Hormone sind Stoffe, die in einem Organismus gebildet werden und an verschiedenen Orten, die außerhalb des Bildungsortes liegen, Signale oder Botschaften übermitteln, wodurch bestimmte physiologische Wirkungen ausgelöst werden. Diese Definition gilt für Menschen, Tiere und Pflanzen. Sind Entstehungsort und Wirkort identisch, so spricht man von Gewebshormonen.

Es ist also unsinnig, irgendwelche Xenobiotika, die nicht im gleichen lebenden Organismus entstanden sind, als Hormone zu bezeichnen. Zweckmäßig und richtig sind die alternativen Namen Hormonoide, Pseudohormone oder auch unechte Hormone, wie es in analoger Weise zur Differenzierung der Vitamine von den Vitaminoiden geschieht.

Auch für pflanzliche Sekundärstoffe, die beim Menschen hormonartige Wirkungen hervorrufen (sollen), ist die Bezeichnung Phytohormone unkorrekt und irreführend. Phytohormone werden von Pflanzen endogen erzeugt und steuern als Botenstoffe ihr Wachstum, ihre Reifung, Entwicklung und Differenzierung und auch ihre Alterung. Bekannte Phytohormone sind das Auxin bzw. die Auxine, die Gibberellinsäure, die Abscisinsäure, die Jasmonsäure, die Cytokine und das unscheinbare Ethen (Abb. 1), aber auch das aus 18 Aminosäuren bestehende Peptidhormon Systemin.


Abb. 1: Phytohormone, die das Wachstum und andere Entwicklungsprozesse der Pflanzen steuern.

In der Praxis geht es bei den sog. Phytohormonen aber hauptsächlich um die Phytoöstrogene und um strukturell Progesteron-ähnliche Verbindungen.


Abb. 2: Isoflavone mit östrogener Wirkung bei Mensch und Tier.

Als Phytoöstrogene (Phytoestrogene) werden inkorrekterweise pflanzliche Isoflavone (Abb. 2) und auch Lignane bezeichnet. Östrogene Wirkungen von Pflanzen wurden erstmals in den 1950er Jahren durch das Auftreten von Fertilitätsstörungen bei Schafen in Westaustralien beobachtet. In den 60er Jahren wurde erkannt, dass die Unfruchtbarkeit bei Schafen durch das Fressen von Rotklee (Trifolium pratense) und weiteren Schmetterlingsblütlern verursacht wird, die Genistein und Formononentin oder andere Isoflavone enthalten. Umstritten bleibt die Frage, ob die sog. Phytoöstrogene rezeptorvermittelt oder indirekt wirken. Isoflavone hemmen u. a. die Transkription des Enzyms COMT (Catechol-O-Methyltransferase), das auch für den Abbau von Estradiol, dem wirkmächtigsten Östrogen, sorgt.

Die Erkenntnisse über den therapeutischen Nutzen der sog. Phytoöstrogene stammen vorwiegend aus epidemiologischen Studien. Isoflavone sind auch in vielen Pflanzen enthalten, die uns als Nahrungsquellen dienen: in Hülsenfrüchten (Bohnen, Linsen, Kichererbsen und vor allem Soja), in Nüssen, Getreide und Hopfen. Der Isoflavongehalt des Blutes von Ostasiatinnen und von Säuglingen, die mit Sojamilch ernährt wurden, liegt extrem höher als bei Vergleichspersonen aus Nordeuropa. Japanerinnen weisen einen um Tage verlängerten Periodenzyklus und ein um 25% verringertes Brustkrebsrisiko auf.

Negative Auswirkungen durch den Sojakonsum von Säuglingen und Erwachsenen konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Fundierte Untersuchungen und deren Ergebnisse sind in einem Bericht der Gesellschaft Deutscher Chemiker "Genistein – Modellstoff zur Beschreibung endokriner Wirkungen von Phytoöstrogenen" enthalten, der im März 2000 im S. Hirzel Verlag als Monografie publiziert wurde.

Wer im Internet unter dem Schlagwort "Phytohormone" recherchiert, wird unvermeidlich auf "progesteronhaltige Pflanzen" und "progesteronhaltige Nahrungsmittel" stoßen. Beide Angaben sind irreführend. Als progesteronartige Wirkstoffe werden Saponine genannt, die meistens Diosgenin als Sapogenin enthalten. Bei "östrogenhaltigen Pflanzen" tauchen als "östrogenähnliche" Verbindungen neben den Isoflavonen immer wieder Phytosterole, besonders β-Sitosterol, auf. Gemeinsames Merkmal ihrer Strukturformeln ist lediglich die steroidale Grundstruktur (Abb. 3). Der Vergleich zeigt, wie wenig Diosgenin mit Progesteron und β-Sitosterol mit Estradiol zu tun haben. Dennoch ist Diosgenin ein Edukt zur halbsynthetischen industriellen Herstellung von Progesteron.


Abb. 3: Je zwei Steroide in Mensch und Tier (links) und in Pflanzen (rechts).

Auch der folgende Zusammenhang ist zu erwägen: β-Sitosterol ist besonders im Abwasser von Papier-herstellenden und ‑verarbeitenden Betrieben anzutreffen. Es ist nicht auszuschließen, dass es durch Mikroorganismen zu steroidalen Androgenen biotransformiert wird.

Der Begriff Umwelthormone ist ebenso unangemessen wie Phytohormone, wenn damit nicht Stoffe mit Wirkung auf die sie produzierenden Pflanzen gemeint sind. Geeignet und durchdacht erscheinen dagegen Formulierungen wie "hormonell wirksame Verbindungen" oder "endokrin störende Verbindungen" (endocrine disrupting compounds, EDC).

Seit Langem finden die akut toxischen Eigenschaften neuer chemischer Verbindungen Beachtung. Spätestens seit der Contergan-Tragödie vor über 50 Jahren werden Wirk- und Werkstoffe vor ihrer Zulassung auf ihre potenzielle Kanzerogenität, Mutagenität und Teratogenität getestet.

Die potenzielle Beeinträchtigung des Hormonstoffwechsels und enzymatischer Prozesse durch Industriechemikalien im menschlichen Körper war bis vor wenigen Jahren noch kein Thema. Erst ab 1992 erkannte man die hormonartige Wirkung einiger industriell in großen Mengen synthetisierter Verbindungen, die mittlerweile wegen ihrer extremen Persistenz ubiquitär verteilt und präsent sind. Dazu zählen u. a. DDT, die Bisphenole, die polychlorierten Biphenyle (PBC), das Nonylphenol und Derivate, das Herbizid Atrazin, das Antiseptikum Triclosan, Triphenylmethane und Phthalsäureester, die als Weichmacher für Kunststoffe verwendet werden. Derzeit sind weltweit über 200 EDC bekannt. Eine brauchbare Definition, die weitergehend ist als die der WHO, stammt von der US-Umweltbehörde EPA und lautet in deutscher Übersetzung:

"Unter einem in der Umwelt relevanten endokrinen Disruptor versteht man eine körperfremde Substanz, die mit der Synthese, der Ausscheidung, dem Transport, der Bindung, der Wirkung oder dem Abbau der natürlichen Hormone im Körper konkurriert, welche für die Aufrechterhaltung der physiologischen Körperfunktionen, die Fortpflanzung, die Entwicklung und/oder das Verhalten verantwortlich sind."

Nach dieser Definition gehören auch die sog. Phytohormone zu den EDC, also nicht nur die industriellen Chemikalien. Zu denken ist ferner an die synthetischen Arzneistoffe, ihre Metaboliten und an Lebensmittelzusatzstoffe wie etwa das Saccharin oder Aspartam.

Bei den Phytoöstrogenen sind Überlegungen zu Struktur-Wirkungs-Beziehungen und der Vergleich mit den natürlichen Hormonen angebracht. Eine Korrelation von Struktur und Wirkweise der synthetischen EDC ist bislang kaum zu erkennen und wird auch in Zukunft nicht generell, sondern nur in bestimmten Einzelfällen möglich sein.

Die Gefährlichkeit der EDC für Mensch und Tier wird durch zwei stoffliche Eigenschaften gesteigert, nämlich die enorme Persistenz und die signifikante Fettlöslichkeit. Über die Nahrungskette reichern sie sich deshalb im Fettgewebe an und erreichen dort mehrfach höhere Konzentrationen als in der kontaminierten Umwelt.



Autor


Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth
Friedrich-Naumann-Str. 33
76187 Karlsruhe

www.h-roth-kunst.com

info@h-roth-kunst.com



DAZ 2013, Nr. 12, S. 103

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